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Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Sabine Rittner

Eine stimm-klangbegleitete Visualisierung zur Regeneration und Ressourcen-Stärkung
Während ich dies schreibe, befindet sich die Natur noch im Ruhemodus, und doch bereiten sich im Innern der Pflanzen und unter der Erde Frühlingskräfte unaufhaltsam darauf vor,
wieder ans Licht zu sprießen. Heute lade ich Sie ein, mich auf eine von Stimme und Klang begleitete Visualisierung mitten hinein in die Natur zu begleiten – in die Natur in unserem
Innern. Natur ist nicht etwas, das nur dort draußen im Garten oder Park oder Wald stattfindet, wenn wir unsere Wohnung zu einem Spaziergang verlassen. Wir sind Natur, in jedem Atemzug verwoben mit dem komplexen „Netz alles Lebendigen“. Mit jeder unserer etwa 100 Billionen Körperzellen sind wir untrennbarer Teil der Natur. Mit unserer Phylogenese und Ontogenese als Säugetiere sind wir durch und durch Natur. Ebenso mit den Lebewesen in unserem Inneren, die mit uns in Symbiose leben, sind wir Natur. Auch mit den Elementen, aus denen unser Körper besteht und die uns am Leben erhalten, sind wir Natur. Interessanterweise gab es im Altchinesischen ein Schriftzeichen für das Wort „Natur“, das gleichbedeutend war mit „selbst so“.
Bei dieser Visualisierungserfahrung, durch die ich Sie heute führen möchte, begeben Sie sich in eine trophotrope Trance hinein. Dies ist ein fast paradoxer Zustand Ihres Nervensystems,
bei dem Ihr Körper tief entspannt sein kann und Ihr Geist gleichzeitig hellwach bleibt, so dass auch Ihre Stimme sich sanft tönend auszudrücken vermag.
Wenn Sie diese Visualisierung alleine durchführen möchten, so empfehle ich Ihnen, die nachfolgende Anleitung (1.–3.) für sich selbst zuvor mit dem Handy aufzunehmen, langsam, ruhig
und mit Pausen sprechend. Dabei ist jedoch wichtig, dass Sie das förmliche „Sie“ durch ein „Du“ ersetzen, mit dem Sie sich selbst ansprechen und mit dem sich Ihr Unterbewusstsein eher angesprochen fühlt. Die Aufnahme können Sie sich dann entspannt mit Kopfhörern anhören.
Falls Sie mögen und sich etwas mehr Zeit nehmen können, legen Sie sich Malfarben und großes Malpapier bereit. Der Zeitbedarf ist etwa 15–20 Minuten (ohne das Malen). Wählen Sie einen geeigneten, geschützten Raum, in dem Sie warm und ungestört sind. Ich empfehle Ihnen, diese Visualisierung in einer bequemen, entspannt aufrechten Sitzposition durchzuführen. Diese eignet sich besser für die innere Bilderwelt dieser Trancereise und auch für das Tönen. Falls Sie nicht umgehend einschlafen, können Sie aber durchaus auch eine Liegeposition einnehmen.

1. Entspannungsinduktion
Setzen Sie sich bequem, aufrecht und doch entspannt hin. Seufzen Sie genüsslich, stöhnen Sie ein paarmal, lassen Sie dabei Laute entweichen… Lockern Sie die Schultern, lassen Sie den Bauch los, ziehen Sie sich am Hinterkopf ein wenig nach oben, so dass sich der Nacken öffnet… Lösen Sie den Unterkiefer, erlauben Sie dabei der Zunge, sich unten auf dem Mundboden abzulegen… Lauschen Sie auf die Geräusche, die von außerhalb hereindringen… Spüren Sie den Boden unter Ihren Füßen, das Gewicht des Beckens im Kontakt mit der Sitzfläche... Nehmen Sie Ihren Atem wahr: die Atembewegung…, das Atemgeräusch…, das Entlangstreichen der Luft im Innern Ihrer Nasenflügel…

2. Visualisierungs-Anleitung

– Stellen Sie sich nun eine Landschaft vor, eine schöne Landschaft, in der Sie sich wohl fühlen…
– In dieser Landschaft sehen Sie in einiger Entfernung einen Baum…, den Sie genau betrachten, während Sie langsam auf ihn zugehen…
– Nehmen Sie seine Silhouette wahr, den Stamm…, das, was Sie von den Wurzeln erkennen können, die in den Boden gehen…, die Äste, die Zweige, die Blätter…, während Sie dem Baum immer näher kommen…
– Nähern Sie sich ihm nun ganz an…, berühren Sie seine Rinde…, nehmen Sie seinen Geruch wahr…, das Licht, die Helligkeit oder Dunkelheit unter dem Baum…, die Atmosphäre…
– Umfassen Sie den Baum schließlich…, spüren Sie bei dieser Umarmung die Kraft, die er ihnen gibt, ohne etwas von Ihnen zu nehmen…
– Lösen Sie jetzt die Umarmung und drehen Sie sich mit ihrem Rücken zu Ihrem Baum, lehnen Sie sich an Ihren Baum an…
– Identifizieren Sie sich jetzt mit Ihrem Baum und werden Sie eins mit ihm. Sie und Ihr Baum sind jetzt eins… Sie verschmelzen mit Ihrem Baum…
– Spüren Sie nun Ihre Wurzeln und wie Sie mit Ihren Wurzeln Nahrung aus der Erde aufnehmen…
– Machen Sie sich klar, welche Art von Nahrung Sie jetzt in diesem Augenblick am meisten brauchen…
– Wir bekommen Nahrung auf allen Ebenen unseres menschlichen Daseins, auf der körperlichen Ebene, auf der emotionalen, auf der geistigen und auf der spirituellen Ebene.
– Werden Sie sich klar darüber, welche Art von Nahrung Sie jetzt in diesem Moment benötigen und benennen Sie diese Nahrung für sich so genau wie möglich…
– Lassen Sie es jetzt auch zu, dass Sie genau mit dieser Nahrung, die Sie brauchen, genährt werden… Machen Sie sich ein Bild von der Nahrungsaufnahme und spüren Sie, wie gut es Ihnen tut, genau damit jetzt genährt zu werden…
– Nun erlauben Sie Ihrer Stimme, das Gefühl, das mit dieser wohltuenden Nahrungsaufnahme über Ihre Wurzeln verbunden ist, auszudrücken… vielleicht mag ein Brummen, ein Summen aus der Tiefe hörbar werden… Mit Unterstützung des sanft getönten Vokals „U“ können Sie die Wirkung noch intensivieren…
– Nehmen Sie jetzt Ihre Baumkrone wahr und spüren Sie, dass Sie mit Ihren Blättern Licht und Wärme der Sonne in sich aufnehmen…
– Machen Sie sich wiederum bewusst, welche Art von Nahrung Sie von der Sonne brauchen und formulieren Sie innerlich auch diesen Wunsch so präzise wie möglich…
– Lassen Sie es jetzt zu, dass Sie jetzt genau diese Nahrung bekommen, die Sie so sehr brauchen…
– Nun erlauben Sie Ihrer Stimme, das Gefühl, das mit dieser wohltuenden Nahrungsaufnahme über Ihre Baumkrone verbunden ist, auszudrücken… vielleicht mag ein sanftes, helles Tönen hörbar werden… Dabei empfiehlt es sich, die Lippen leicht zu öffnen… Mit Unterstützung des getönten Vokals „I“ können Sie die Wirkung noch intensivieren…
– Stellen Sie sich nun vor und spüren Sie, wie die Nahrung der Sonne und die Nahrung der Erde sich in Ihnen verbinden, so dass Sie langsam wachsen…
– Erlauben Sie Ihrer Stimme, das Gefühl, das mit dieser wohltuenden Verbundenheit zwischen Himmel und Erde einhergeht, auszudrücken… vielleicht mögen mühelos tönende, gleitende Klänge hörbar werden…, die sich zu einer kleinen Melodie entfalten…, allmählich kraftvoller hörbar werden... Es empfiehlt sich, die Lippen dabei leicht zu öffnen…
Für Musiktherapeuten: An dieser Stelle eignet es sich, einige Minuten lang zusätzlich eine sanfte Monochord-Begleitung erklingen zu lassen…
– Erst wenn es an der Zeit ist, lösen Sie sich allmählich von Ihrem Baum, so dass Sie nun wieder getrennt sind und zwei…
– Entfernen Sie sich etwas von Ihrem Baum…, gehen vielleicht um ihn herum…, berühren ihn nochmals und bedanken sich bei ihm für seine Unterstützung…
– Vielleicht mögen Sie sich mit Ihrem „inneren Baumheiligtum“ verabreden, bald schon wieder zu kommen.

3. Reorientierung
– Nun spüren Sie wieder den Kontakt zum Boden, auf dem Sie liegen, nehmen Ihren Atem wahr und den Raum, der Sie umgibt.
– Mit dem nächsten Einatem, der von alleine einströmt, räkeln Sie sich, strecken Sie sich durch den gesamten Körper, von den Fingern bis in Ihre Füße hinab, gähnen Sie genüsslich und kehren Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zurück in den Raum.
– Eventuell können Sie sich etwas Zeit gönnen…, solange das Tor zwischen den verschiedenen Welten und Bewusstseinszuständen noch geöffnet ist…, um Ihrem besonderen Baum malend auf dem bereitgelegten Papier zu begegnen… Lassen Sie dies mit der neugierigen Haltung geschehen, dass Sie Ihren Händen staunend zuschauen, was diese nach der Tranceerfahrung jetzt sichtbar machen möchten… Vielleicht entdecken Sie während des Malens, dass innen und außen, außen und innen gar nicht so getrennt sind, wie wir es sonst oft erleben.

Transfer nach draußen
Vielleicht kann Sie dieser Kontakt mit Ihrem Baum im Innern dazu verlocken, sich auch im Außen, ganz konkret dort, wo Sie leben, in Ihrer Nähe und gut erreichbar, einen Baum als
mächtigen, stillen, ohne Worte beredten Vertrauten zu suchen. Besser noch: lassen Sie sich von Ihrem „Baumverbündeten“ finden. Etablieren Sie mit ihm eine Beziehung, eine mit jeder neuen Begegnung wachsende Freundschaft.
Weißt du, dass die Bäume reden?
Ja, sie reden.
Sie sprechen miteinander,
und sie sprechen zu dir,
wenn du zuhörst.

Ich selbst habe viel von den Bäumen
erfahren:
manchmal etwas über das Wetter,
manchmal über Tiere,
manchmal über den Großen Geist.
Tatanga Mani, Native American

Methodische Hinweise für Musiktherapeut:innen
Diese Visualisierung hat ihren Ursprung im schamanischen Weltbild, sie wird hier allerdings abgewandelt wiedergegeben nach L. Reddemann/L. Besser/S. Rittner. Sie dient der Selbstfürsorge, Regeneration, Ressourcen-Stärkung, Stressreduktion und Entspannung. Ich habe sie als Methode rezeptiver Musiktherapie in sehr vielen psychotherapeutischen Einzelbehandlungen und Gruppensitzungen angewendet und bin immer wieder erstaunt und berührt davon, welche tiefen, unverletzten Quellen der Selbstliebe und auch der spirituellen Wiederverbindung mit dieser Übung aktiviert werden können.
Wenn Sie den Text für jemand anderen sprechen, ist es wichtig, dass Sie für den gesamten zweiten Teil der Visualisierungs-Anleitung vom förmlichen „Sie“ zu einem „Du“ übergehen,
womit sich das Unterbewusstsein eher angesprochen fühlt. In der Reorientierungsphase (3.) kehren Sie zum „Sie“ zurück. Ggf. können Sie diesen Wechsel der Ansprache dem/der Patient:in auch zuvor ankündigen.
Ab der Stelle, in der sich die Nahrung aus den Wurzeln mit der Nahrung aus der Baumkrone verbindet, hat sich eine leise musikalische Begleitung mit einem Monochord sehr bewährt.
Gute Erfahrungen habe ich damit gemacht, einen Live-Mitschnitt der Sitzung anzufertigen und ihn der/dem Patient:in nach Hause mitzugeben/zu schicken. Diese Aufnahme, gesprochen von der aus der Behandlung vertrauten Therapeut:innen-Stimme, daheim anzuhören, kann den Transfer in den Alltag und die Selbstwirksamkeit erheblich unterstützen.

Literaturtipps und Infos
Reddemann, L. (2001). Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart: Klett-Cotta.
Hüther, G. (2009). Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Grudzielski, E. (2013). Die heilende Kraft der Bäume. Anwendung, Wirkung und Mythos. Ribnitz-Dammgarten: Demmler Verlag.
Wohlleben, P. (2015). Das geheime Leben der Bäume. München: Ludwig.
Recheis, K., Bydlinski, G. (1996). Weißt du, dass die Bäume reden? Weisheit der Indianer. Freiburg: Herder.
Rittner, S. (2021). Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme. Eine klangvolle Imagination am inneren Wohlfühlort. Musik und Gesundsein 39, 41–43.
Unter www.sabinerittner.de finden Sie mehrere Videos mit einer von Sabine Rittner angeleiteten, tönenden Stimm-Meditation und einer Klangtrance-Reise kostenlos zum Mitmachen.

Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin mit
Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und körperorientierter Therapie. Sie ist tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Musiktherapieforschung), sowie in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching). Seit mehr als 40 Jahren leitet sie Seminare, bildet aus und hält Vorträge weltweit.
Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie. Weitere Informationen: www.SabineRittner.de