Vorschau Heft 43 (2022)

Musiktherapie und Familie

Das in allem wirkende „Kontinuum der Veränderung“ (G. W. Leibniz) wirkt auch auf und in Familie(n) – in Zeiten, in denen Krisen sich häufen und galoppieren, mehr denn je.

Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Musiktherapie im Haus Niedersachsen.
Therapeutisches Neuland in altbewährter Suchtrehabilitation
Daniel Franz

Praxisvorstellung
Praxis für Musiktherapie Brit Gardemeier
Brit Gardemeier

Patienteninterview
Musiktherapie und Familie
Alexandra Takats

Schwerpunktthema I
Beziehungsweise – Musiktherapie mit Familien
Eva Phan Quoc, Agnes Burghardt-Distl, Thomas Stegemann

Schwerpunktthema II
Musiktherapie mit Familien:
Kultur, Identitäten, Diversität und Gender
Mark Ettenberger, Eva Phan Quoc

Musiktherapie im Ausland
Musiktherapie in der Ukraine
Oleksandr Lvov, Natalia Zhabko

Natalia weint nicht mehr
Persönliche Eindrücke und Hinweise aus der Arbeit mit Menschen in der Ukraine und aus der Ukraine
Udo Baer

Capriccio cerebrale
Alle Jahre wieder… Von Spekulatiustrauma,Tannenbaumtherapie, Hausmusik und Verbitterungsstörung
Thomas Stegemann

Menschen und Orte
News und Hochschulnachrichten

Musiktherapie und Musikmedizin in Kooperation zwischen dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und der Hochschule für Musik und Theater Hamburg
Eike Sebastian Debus, Karin Holzwarth, Dorothee von Moreau, Hans Ulrich Schmidt

Art Therapy for Life – Arteterapie dla Zycia
Ilse Wolfram

Singende Krankenhäuser e. V.
Karin Juchem, Vera Kimmig

Buch und Medien
Rezension
Magdalena Reichenbach: Macht Wahn Sinn?
Ludger Kowal-Summek

Zum Mitmachen
Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Eine stimm-klangbegleitete Visualisierung zur Regeneration und Ressourcen-Stärkung
Sabine Rittner

Praxismodelle
Vom Zaubern
Constanze Rüdenauer-Speck

Impressum
Vorschau. Impressum

Editorial

„Sage mir, aus welcher Familie du kommst – und ich sage dir, wer du wirst.“
Solch Formel, wie sie sich im Lübeck Thomas Manns und anderswo auswirken sollte, nur dass sie nicht immer von so prominenten Chronisten aufgeschrieben wurde, führte in lehrreiche Katastrophen der Familien, in schauerliche Verstrickungen und spezifische Psychopathologien.
Ende des 19. Jahrhunderts taten sich erste Psychotherapien und die Sozialarbeit zusammen und führten in den 50ern des 20. Jahrhunderts zur Familientherapie.
Die „unsichtbaren Fäden“ (Virginia Satir) wurden Kernthema der systemischen Therapie und in diesem Netzwerk wirkt und wächst seit langem Musiktherapie.
Das „der“ in der Überschrift der Einleitung in diese MuG-Ausgabe war immer schon irreführend. „Familie“ gab und gibt es nur im Plural. „Familien“. Sie zeigten und zeigen sich in unterschiedlichen, „diversen“ Strukturen und Identitäten und „Diversität und Identität“ waren auch zwei Kernbegriffe des Wiener Symposions 2022, aus denen sich unser Schwerpunkthema speist.

Weiterlesen: Editorial

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Musiktherapie im Haus Niedersachen
Therapeutisches Neuland in altbewährter Suchtrehabilitation
Von Daniel Franz

„Sorry, aber ich bin überhaupt nicht musikalisch!“ – so oder so ähnlich lautet oft der erste Satz in der ersten Musiktherapiesitzung. Für viele unserer Rehabilitand:innen ist Musiktherapie Neuland und weckt zunächst bei dem einen alte Erinnerungen mit Unbehagen und bei dem anderen die kindliche Neugier – und noch vieles mehr. Neuland ist die Musiktherapie auch für das Haus Niedersachsen – ein Fachzentrum für Suchtrehabilitation. Auch wir befinden uns noch in der Phase des bedachten Herantastens und des neugierigen Kennenlernens.

Die Fachklinik Oerrel
Die Haus Niedersachsen gGmbH bietet mit ihren mittlerweile drei Einrichtungen seit fast 50 Jahren Hilfe beim Umgang mit Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit. Dazu zählen die Adaption Hambühren als Erweiterung einer Entwöhnungstherapie, das Wohnheim Emmen, wo eine Heimat auf Zeit zur Stärkung der Gesundheit und Unterstützung zur Teilnahme am gesellschaftlichen und beruflichen Leben gegeben wird, und die Fachklinik Oerrel mit der Möglichkeit einer stationären Rehabilitation.
Südlich der Lüneburger Heide liegt im Landkreis Gifhorn der kleine fast abgelegene Ort Oerrel. Dort befindet sich, umgeben von Feldern und kleinen Waldstücken, umhüllt von Landluft und Funkloch, die Fachklinik. Mit ihren 66 Behandlungsplätzen mag sie vielleicht zu den kleineren Suchtrehabilitationseinrichtungen gehören. Und darin liegt auch eine ihrer Stärken. Die persönliche Begegnung ist fast unumgänglich und das Gemeinschaftserleben ansatzweise familiär. Um das Therapiegeschehen herum können Freizeitangebote wie Minigolf, Kicker, Darts, Billard, Volleyball, Badminton, die Sporthalle, der Fitnessraum oder die Sauna genutzt werden. Zudem stehen neben einer Bibliothek mit Büchern und Spielen und der kleinen Cafeteria ebenso Kreativ- und Bastelräume zur Nutzung und Begegnung zur Verfügung. Die weitläufige Parkanlage der Klinik bietet viele Rückzugsmöglichkeiten, wo es sich die Rehabilitand:innen mit einem Buch oder Musik bequem machen können, im Garten helfen oder mit der Gruppe grillen.
Die stationäre Entwöhnungstherapie dauert in der Regel 13 Wochen und kann bei Bedarf verlängert werden. Die Bewilligungsdauer ist abhängig von der Prüfung durch die Kosten- und Leistungsträger, die Deutsche Rentenversicherung und die gesetzlichen Krankenversicherungen. Als Hauptdiagnose zur Behandlung gelten Alkohol- und Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit. Zahlreiche Nebendiagnosen werden mitbehandelt, soweit es das Konzept und die Kapazität zulassen. Die Fachklinik arbeitet interdisziplinär in einem multiprofessionellen Team aus verschiedenen Bereichen der Medizin sowie Neurologie, Psychiatrie, Psychologie/-therapie (TP, VT), Seelsorge, zusammen mit Krankenpfleger:innen, Ernährungsberater:innen, Sozialarbeiter:innen, Sozial- und Suchttherapeut:innen und den Bereichen Physiotherapie, Ergo-/Arbeitstherapie und Musiktherapie.

Der therapeutische Alltag
Die Rehabilitand:innen sind in der Therapie in die Tagesstruktur der Einrichtung eingebunden. Die Essenszeiten bilden den Rahmen und in der Therapiezeit wechseln Einzel- und Gruppenaktivitäten im klassischen Gespräch vor Ort mit aktiven Sportphasen und kreativen Angeboten. Nach einer zweiwöchigen Aufnahmephase zum thematischen, therapeutischen und strukturellen Einstieg wird die Therapie in festen Bezugsgruppen mit ca. 12 Teilnehmer:innen fortgeführt. Diese Gruppe ist die Basis der gesamten Reha, denn in und mit ihr finden die verschiedenen Therapieangebote statt, die ärztlichen Visiten, das Sport- und Bewegungsprogramm, die gemeinsamen Mahlzeiten und Küchendienste. Der Bezugstherapeut wird diese während des gesamten Aufenthaltes begleiten und der Hauptansprechpartner sein. Im geschützten Rahmen der Bezugsgruppentherapie können eigene Themen vertrauensvoll aufgefangen und bearbeitet werden. Durch die Gemeinschaft der Gruppe ist die gegenseitige Teilnahme an der persönlichen Entwicklung optimal möglich, sodass der Erfahrungsaustausch und das Feedback jeden profitieren lassen kann.
Unterstützend dienen dabei regelmäßige Einzelgespräche mit den Suchttherapeut:innen sowie bei Bedarf Einzelsitzungen der Psycho-/Traumatherapie und der Seelsorge. Auch werden gegebenenfalls physio- und ergotherapeutische Einzelbehandlungen angesetzt. Zur weiteren Individualisierung und Vertiefung der Therapie werden die Rehabilitand:innen in kleinere, sich wöchentlich treffenden Gruppen zu spezifischen Themen eingeteilt. Diese indikativen Gruppenangebote behandeln Themen wie Depression, Trauma, Umgang mit Gefühlen, Trauerbewältigung, Kommunikation, Rückfall, Entspannung, Mentaltraining, Umgang mit Stress, Sinnfragen oder Achtsamkeit. In dieser Form findet auch ein Teil des Bewegungsprogramms, wie z. B. Wirbelsäulengymnastik oder Nordic Walking, statt. Als besonders wertvoll und stabilisierend gilt vor allem die Angehörigenarbeit. Durch Paar- oder Familiengespräche und regelmäßige Angehörigenseminare sollen Verständnis und Stabilität gefördert werden.

Ein paar Besonderheiten
Die Gestaltung von Beziehungen ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie – die Beziehung zu mir selbst und zu meinem Umfeld. Bei vielen ist die Beziehung zu einem Haustier Dreh- und Angelpunkt des Alltags. Um diesen wichtigen und stabilisierenden Faktor auch in der Therapie wirken zu lassen, bietet die Fachklinik Oerrel die Mitnahme von Begleittieren an.
Dieses Konzept hat sich in den letzten Jahren besonders bewährt. Auch wenn die Versorgung eines Tieres und dessen Integration in den Therapiealltag natürlich auch eine zusätzliche Herausforderung bedeuten kann, überwiegen die Vorzüge deutlich. Den Ansatz der tiergestützten Therapie verfolgen wir ebenso durch die Zusammenarbeit mit einem Reiterhof.
Das Haus Niedersachsen wurde durch eine christliche Freikirche initiiert und versteht sich bis heute als christlich motiviert. Diese Motivation ist sicherlich an einigen Stellen wahrnehmbar, auch wenn sie sich strukturell nicht aufdrängt. Der Besuch von verschiedenen, teilweise geistlichen Veranstaltungen, wie eine wöchentliche Andacht oder der monatlich stattfindende ‚Abend der Begegnung‘, ist demnach freiwillig. Für die Klinik gehören ebenso das Fragen nach Sinn und Werten im Leben mit zur Therapie. Dabei werden oft unausweichlich persönliche und allgemeine religiöse Weltanschauungen berührt. Religiosität und/oder Spiritualität wird als weitere Ressource verstanden, die auf individuellen Wunsch hin ihre Aufmerksamkeit in der Therapie erfahren soll. Das Angebot der Seelsorge soll zum einen diesem nachkommen und zum anderen jeglichen anderen Themen und Anliegen offen begegnen.
Als eine der jüngsten therapeutischen Disziplinen in Oerrel gilt die Musiktherapie. Seit 2019 hat sie ihren festen Platz im wöchentlichen Therapieplan bekommen, sodass jede Bezugsgruppe eine musiktherapeutische Einheit pro Woche hat. Aktuell wurden musiktherapeutische Einzelsitzungen noch nicht etabliert, jedoch sind sie für die nahe Zukunft angedacht.
Dass ich an dieser Stelle die Seelsorge und die Musiktherapie als „Besonderheit“ kategorisiere, geschieht vorrangig aufgrund meiner persönlichen Perspektive und meines beruflichen Werdegangs. Als ausgebildeter Theologe und ehemaliger Pastor bekam ich die Möglichkeit als Seelsorger in der Klinik angestellt zu werden. Die Musiktherapie war dabei fast ein „versehentlicher“ Selbstläufer. Ohne dass es mir zunächst bewusst war, arbeitete ich bereits in Gruppensitzungen ansatzweise musiktherapeutisch. Kurz gesagt: Es war für mich irgendwie stimmig. Und so studierte ich Musiktherapie, um diese neue Leidenschaft zu professionalisieren.
Ich befinde mich auf einer Entdeckungsreise, die mein Selbstverständnis von Seelsorger und Musiktherapeut entfalten und ergründen lässt. Welche Grenzen und Chancen habe ich als Seelsorger und inwieweit bietet diese Arbeit einen Mehrwehrt in der Suchttherapie? Bin ich als Therapeut vermeintlich zu geistlich und als Seelsorger zu humanistisch? Ich erlebe hin und wieder anfänglichen Widerstand und provokantes Hinterfragt werden. Beides ist ehrlich gesagt bei mir sehr willkommen, da ich es gerne mal genieße, etwas irritierend zu sein. So löst sich der eine von der Annahme, ich sei ein musikalischer Lehrbeauftragter, und der andere von der Angst, er könnte zum Objekt eines Missionars werden. Schnell habe ich bemerkt, dass meine Hybrid-Rolle wunderbar funktioniert und beide Teile sich sehr gut ergänzen. Meine seelsorgerlichen Einzelgespräche dienen oft als Vertiefung musiktherapeutischer Prozesse und Themen. Besonders häufig werde ich als Seelsorger angefragt, wenn es um Trauerarbeit geht. Dabei wird immer wieder deutlich, dass das Vertrauensverhältnis und die menschliche Begegnung die größte Bedeutung haben und diese von Glaubensausrichtung und Weltanschauung unabhängig sein können. Ich hoffe, dass die Entdeckungsreise nicht aufhört und ich Entdeckender bleiben kann.

Die Musiktherapie
In einem unserer Gruppenräume befindet sich ein Klavier und ein Schrank mit einer Vielfalt an Instrumenten. Die Rehabilitand:innen betreten den Raum und es erwartet sie meist ein weiträumig aufgestellter Stuhlkreis, in dessen Zentrum die Instrumente bereits bereitstehen oder gerade noch von mir aufgestellt werden. Neben verschiedenen Formen der Djembé, einer Darbuka und einer Handtrommel besteht das Repertoire aus mehreren Klang- und Rhythmusinstrumenten wie Rasseln, Regenmacher, Oceandrum, Woodblock, Schellenkranz und Donnertrommel. Für einen melodischen Beitrag stehen unter anderem Kalimba, Xylophon, Klavier und Gitarre zur Verfügung.
Fast ausnahmslos beginnt die Musiktherapie mit der Phase des Smalltalks und Ankommens. Bereits während des Aufstellens der Instrumente komme ich gerne mit den Rehabilitand:innen ins Gespräch. Oft wird recht früh deutlich, welche Themen aktuell sind und für die Therapie relevant sein können. Im fortlaufenden Gespräch bestätigt sich das Thema oder kristallisiert sich weiter heraus. Wir kommen in den Austausch und reflektieren gemeinsam jenes aufgetauchte Phänomen, was es innerlich mit uns macht und wie es sich äußerlich zeigt.
Meist gehen wir dann über in eine Phase des Vertiefens, Wahrnehmens und Verstehens, indem wir beispielsweise die Instrumente zu Hilfe holen. So bekommen wir die Möglichkeit, uns anderweitig auszudrücken und andersartig zu erleben. Wir bleiben im Reflektieren und geben uns gegenseitig Feedback mit unseren Wahrnehmungen. Nicht selten bildet sich ein Fokus, der sich auf einer Person niederlegt. Jedoch wird beabsichtigt, stets die Gruppe in Interaktion zu halten und die einzelnen Teilnehmer:innen in Partizipation und Identifikationsprozessen zu unterstützen.
Abschließend rekapitulieren wir die Sitzung und versuchen nachzuvollziehen und nachklingen zu lassen. Gelegentlich bedarf es stabilisierender oder sortierender Interventionen und meist versuchen wir viel mehr zu halten, was da ist.
Die Musiktherapie gestaltet sich neben dem dynamischen Gespräch überwiegend in improvisierender und instrumenteller Form. Aber auch rezeptives Musikerleben bekommt seinen Platz im Malen zur Musik, im Wahrnehmungstraining oder im Austausch von persönlichen Lebensliedern. Musikmalen und Wahrnehmungstraining heben besonders die inneren Prozesse und Impulse hervor. Das Teilen der Lebenslieder berührt ebenso inneres Geschehen – vor allem Erinnerungen und gegenwärtige Gedanken und Gefühle dazu. Das gemeinsame Musizieren und Singen bleibt natürlich auch nicht aus und lässt so manchen sich selbst verblüffen. Bei allem ist die therapeutische Wirkung natürlich stark abhängig von der inneren Haltung der Teilnehmer:innen und von der Qualität der interagierenden Gemeinschaft.

„Noch lauter!“ – ein Fallbeispiel
Bereits in den vergangenen drei Sitzungen fiel Frau M. durch ihre Zurückhaltung und ihre zusammengekauerte Körperhaltung auf. Ihre Mimik ließ einige Gruppenteilnehmer:innen ihre Niedergeschlagenheit spüren. Sie äußerte stets in knappen Worten ihr Bedrücktsein, lehnte jedoch weiteres Vertiefen desselben ab. In der heutigen Musiktherapieeinheit gelingt es ihr, ihr Befinden etwas konkreter zu beschreiben. Sie spricht von einem Druck, den sie seelisch empfindet. Auf mein Nachfragen, inwieweit dieser sich auch körperlich zeige, berichtet sie von einem Druck in ihrer Brust. Und dieser Druck werde stärker, sobald sie ihre Angst wahrnehme und das Gefühl der Ohnmacht in ihr anstiege.
Ich bitte Frau M. diesen Druck in ihrer Brust für die Gruppe mithilfe eines Instruments hörbar zu machen. Dieser Bitte könne und wolle sie nicht nachkommen. In diesem vermeintlichen Unvermögen werden ihre Ohnmacht und ihre Angst für die Gruppe wahrnehmbar. Ihr Abgrenzen lässt aber ebenso Stärke vermuten. Ich frage sie, welches Instrument ‚theoretisch‘ den Druck wiedergeben könnte. Sie zeigt, ohne zu zögern, auf die große Djembé. Auf die Frage, welche/r Gruppenteilnehmer/in ihrer Meinung nach stellvertretend für sie spielen könnte, bietet sich ein Mitrehabilitand an.
Frau M. willigt ein und er beginnt zu spielen: schwere, starke Schläge im mittleren Tempo. Die Gruppenmitglieder wirken angespannt und sitzen fast starr auf ihren Stühlen. Frau M. verzerrt ihr Gesicht. Nach einer Weile fordert sie den Spieler auf, er solle lauter spielen. Kurz darauf: „Noch lauter!“ Einige Gruppenteilnehmer halten ihre Ohren zu oder nehmen andere schützende Haltungen ein. Nun sind ihre Gesichter verzerrt, nur das Gesicht von Frau M. wirkt klarer und entspannter. Mein Impuls, die Gruppe schützen zu wollen, nimmt schnell zu. Da beendet Frau M. mit einem Signal bestimmend und zufrieden wirkend selbst das Spielen.
In der Distanz wurde Frau M. wieder handlungsfähig und gab Anweisungen. Sie brachte ihren inneren Druck nach außen und teilte diesen spürbar mit ihrer Gruppe. Dank des Stellvertreters löste sich ihre Ohnmacht ein Stück weit, was ihr auch im Nachhinein noch anzusehen ist. Sie beschreibt es als etwas gelöster, leichter und klarer. Und zugleich ist sie erschrocken über die Lautstärke und das Erleben.
Nun bitte ich die Gruppe mitzuteilen, was und wie sie es erlebt hat. Manche Mitglieder berichten von Unerträglichkeit und Fluchtimpulsen. Einigen wird klar, dass sie ebenfalls totale Ohnmacht verspürt und sich wie gefangen gefühlt haben. Ich versuche der Gruppe zu vermitteln, dass ihr Erleben und Empfinden dessen von Frau M. recht nahe sein könnte. Einzelne Gruppenmitglieder wenden sich ihr zu und sprechen ihr Mitgefühl aus. Sie richten Fragen an sie und widmen sich Frau M. sehr verständnis- und liebevoll.
Eigentlich versuchte Frau M. ihren Druck für sich zu behalten, da sie niemanden belasten wolle, so teilt sie es mir mit. Sie konnte nun die Erfahrung machen, vielschichtig und vielseitig wahrgenommen zu werden, ohne in der Gefahr zu stehen, jemanden oder etwas zu zerstören. Ebenso erfuhr sie Verständnis und Mitgefühl. Ihre Gruppe wurde zwar stark gefordert, jedoch nicht überfordert. Sich der Gruppe mitzuteilen und dabei sogar noch unterstützt zu werden, erwies sich als eine gute Möglichkeit, mit ihrer Ohnmacht umzugehen.

Einen Platz gefunden
Suchttherapie besteht stark aus strukturgebenden Maßnahmen. In der Musiktherapie versuche ich weniger die Rehabilitand:innen durch Vorgabe oder Aufzwängen zu aktivieren, sondern lasse ihnen möglichst viel Spielraum, eigene Entscheidungen zu treffen, inwieweit sie sich auf die musiktherapeutischen Interventionen einlassen möchten. Die Musiktherapie unserer Suchtklinik soll weniger von außen strukturieren, sondern vorrangig die Fähigkeit stärken, selbst strukturieren zu können. Dabei spielen Verständnis und Mitgefühl gegenüber sich selbst eine wesentliche Rolle.
Wenn Musiktherapie vielleicht kein Musikunterricht sein mag, was ist es dann? Die Instrumente stehen mitten im Raum, und doch sind sie nicht der Mittelpunkt. Im Zentrum steht der Mensch – viel mehr die Begegnung mit dem anderen und mit mir selbst.

Daniel Franz
Musiktherapeut M.A., Seelsorger /Theologe M.A. Als Musikliebender und spiritueller Mensch habe ich wesentliche Bereiche meines Lebens zum Beruf gemacht. Die Begegnung mit Menschen, sowohl in der Tiefe als auch im albernen Lachflash, erlebe ich als sehr erfüllend. Besonders liebe ich es, ein Familienvater zu sein und mit meiner Frau unsere beiden Kinder zu genießen.

Praxisvorstellung

Praxis für Musiktherapie Brit Gardemeier

1. Stellen Sie sich bitte kurz vor.
Mein Name ist Brit Gardemeier, ich lebe mit meinem Mann und meinem Sohn in Hamburg, der schönsten Stadt der Welt (gleich nach meiner Heimatstadt) und leite dort meine eigene „Praxis für Musiktherapie Brit Gardemeier“ mit dem Dreiklang ‚Musik – Trauerbegleitung – Psychotherapie‘.

2. Welche Situation Ihres musiktherapeutischen Berufslebens lag vor der Eröffnung Ihrer ambulanten Praxis?
Wenige Wochen, also unmittelbar davor, habe ich meine Zusatzqualifikation „Musik als Therapie in der Neonatologie“ am Institut für Musiktherapie am Freien Musikzentrum e. V. begonnen und mittlerweile mit Erfolg abgeschlossen.

3. Wie sind Sie zu dem Beruf der Musiktherapeutin gekommen?
Über die „Initiative gegen schnurgerade Lebensläufe“. – Kurzum: zusätzlich dazu, dass ich schon als kleines Kind Zahnärztin werden wollte, wollte ich Musik studieren, da ich von klein auf
nicht nur wahnsinnig gerne zu meiner Zahnärztin gegangen bin, sondern gefühlt immer Musik gemacht habe, zu Hause, in der Kirche, in der Schule, in der Musikschule et cetera und diese mich in jeglichen Lebenssituationen, auch am Sterbebett meiner Oma zum Beispiel, stets begleitet hat. Aus diversen Gründen habe ich dann jedoch nach dem Abitur zunächst Zahnmedizin studiert und nur nebenbei immer weiter Musik gemacht. Doch irgendwie hat mich die Musik nie losgelassen, bis ich irgendwann erfüllenderund dankbarerweise die Musiktherapie „entdeckt“ habe – für mich eine wunderbare Mischung aus Musik, Psychologie und Medizin.

4. Erzählen Sie bitte von den Rahmenbedingungen und der Konzeption Ihrer Praxis.
Ich führe meine Angebote als freie Privatpraxis mit der Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie. Für meine Leistungen ist also ein Honorar zu zahlen, welches gegebenenfalls die private Krankenversicherung, die Heilpraktikerzusatzversicherung oder die private Krankenkasse übernimmt. Aufgrund meiner Unabhängigkeit von gesetzlichen Krankenkassen kann ich meinen Patienten und Klienten eine passende Unterstützung fernab von Gutachten und festgelegter
Behandlungsdauer bieten. Bei mir gibt es in der Regel einen Termin innerhalb von zwei bis vier Wochen, zwei Plätze habe ich für Geringverdienende vorgesehen. Zu den für mich wichtigen Rahmenbedingungen zählen Achtsamkeit, erforderliche klare Absprachen und Grenzen. Dazu gehören für mich auch die Regelungen zur Dauer der einzelnen sowie der gesamten Sitzungen sowie der Kontakt zwischen den einzelnen Sitzungen. Als Mutter, Diplom-Musiktherapeutin, Musikpädagogin, Trauerbegleiterin steht in meiner Praxis in Hamburg die Arbeit mit Schwangeren, Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Familien im Mittelpunkt meiner Tätigkeit. Einer meiner therapeutischen Schwerpunkte bildet die Arbeit mit Frühchen und Sternchen sowie deren Familien wie verwaiste Eltern und trauernde Geschwister. Daneben umfasst meine musikpädagogische Tätigkeit zum Beispiel die Leitung diverser Musikkurse für Schwangere sowie für Kinder von null Monaten bis zu sechs Jahren.

5. Wie sind Ihre Praxisräume eingerichtet? Nach welchen Kriterien haben Sie sie gestaltet?
Meine Praxis ist in einem ehemaligen und mittlerweile auch denkmalgeschütztem Werkstattgebäude von 1908 untergebracht. In zweiter Reihe gelegen habe ich so trotz der sehr zentralen Lage in unmittelbarer Nähe zur Außenalster Ruhe vor äußeren Umwelteinflüssen und dennoch das Grün der Bäume direkt vor meinen Fenstern. Eines meiner persönlichen Highlights meiner Praxis sind meine „Himmelsfenster“. Diese verschaffen mir nicht nur eine lichtdurchflutete Praxis, sondern werden auch immer wieder in diversen Settings aufgegriffen und finden positiven Anklang. Die Praxiseinrichtung selbst ist schlicht gehalten. Vormals hatte hier eine Klaviergalerie ihren Standort. Aus dieser Zeit sind mehrere Klaviere noch als Dauerleihgabe vorhanden, sodass sich die Musik durch alle Räume zieht. Der Eingangs- und Wartebereich greift den historischen Hintergrund des Gebäudes und seine Funktionalität auf.
Mit einem modernen Industriecharme empfängt dieser Bereich meine Besucher, die Holzbalken an der Decke werden durch einen schlichten Metallboden kontrastiert. Im Behandlungsraum selbst habe ich viel freien Platz. Dieser bietet mir zum einen die Möglichkeit, meine Gruppen- und Kursangebote anzubieten und zum anderen mich auch im Einzelsetting bei Bedarf mit den Klienten und Patienten genügend auszubreiten. Neben einer kleinen Sitzecke mit Tisch direkt vor einem großen Fenster laden viele Instrumente ein, diese auszuprobieren. Dabei freue ich mich über viele für meine Besuchenden „neue“ Instrumente. Auch für meine ganz kleinen Besucher bin ich ausgerüstet. Unter anderem klassische Schwungtücher, viele Rhythmusinstrumente oder auch meine XXL-Klangschale zum Hineinstellen können für Begeisterung sorgen. Ich habe zudem viele Möglichkeiten, Instrumente zu verstauen, sodass zum Beispiel Babys und Kleinkinder auch nur an die Instrumente gelangen, welche für das aktuelle Setting im Vordergrund stehen sollen und nicht mit Reizen überflutet werden. Insgesamt ist mein Ansatz bei der Gestaltung meiner Praxis anpassungsfähig, wobei ich die spezifischen Bedürfnisse und Ziele der Klienten und Patienten sowie den Kontext, in dem das jeweilige Setting stattfindet, berücksichtige.

6. Mit welchen Anliegen, Leiden oder Krankheiten können sich Menschen an Sie wenden?
Die Arbeit in meiner Praxis fasse ich unter meinem Dreiklang ‚Musik – Trauerbegleitung – Psychotherapie‘ zusammen.
Der Aspekt „Musik“ beinhaltet mit einer musiktherapeutischen Grundhaltung auch den musikpädagogischen Aspekt, nämlich Kurse, Musikunterricht, Entspannung.
Zu den Kursen zählen meine eigens konzipierten „Musik für Schwangere“ und „Musik für Babys von 0 bis zu 18 Monaten“ sowie „Musik für Kinder von 1,5 bis zu 6 Jahren“.
Zum Musikunterricht zählen zum Beispiel Klavierunterricht und Musiksafaris für Kinder.
Zur Entspannung zählen Klangentspannung für Schwangere und die Klangmassage. Zur Klangmassage bin ich vor einigen Jahren gekommen durch das von meinem Berufsverband, der DMtG, beworbene Fortbildungsseminar „Klangmassage in der Musiktherapie“. Diese für mich wunderbare Methode der Entspannung hat mich so begeistert, dass ich mich in dem Bereich
immer weiter fortgebildet habe und mittlerweile das erweiterte Zertifikat mit der Berufsbezeichnung „Peter Hess®-Klangmassagepraktikerin“ innehabe und in diesem Jahr zusätzlich die Zertifizierung als Klangmassage-Praxis erhalten werde.
Der Aspekt „Trauerbegleitung“ meines Dreiklangs beinhaltet, dass ich ausgebildete und vom Bundesverband Trauerbegleitung e. V. zertifizierte Trauerbegleiterin bin und mich auch als solche vor allem um Familien kümmere mit einem Schwerpunkt auf verwaisten Eltern und trauernden Geschwistern. In dieser Tätigkeit habe ich zum bereits zweiten Mal am vergangenen zweiten Dezembersonntag eine Erinnerungsveranstaltung zum Weltgedenktag für verstorbene Kinder initiiert und geleitet, dieses Mal zudem zugunsten der „Verwaisten Eltern und Geschwister Hamburg e. V.“.
Der Aspekt „Psychotherapie“ meines Dreiklangs beinhaltet Psychologische Beratung sowie die Schwerpunkte Psychotherapie rund um Schwangerschaft und Geburt, Musiktherapie in
der Neonatologie beziehungsweise in der ambulanten Nachsorge sowie Musiktherapie mit Babys, Kleinkindern, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
So sehe ich mich rundum als Familienpraxis mit einer besonderen Verbindung zu Frühgeborenen und verstorbenen Kindern, zum Leben, zum Tod und all dem Wunderbaren dazwischen.

7. Was hilft in Ihrer Therapie? Nach welchem Konzept arbeiten Sie?
Meine therapeutische und menschliche Grundhaltung ist achtsamkeitsbasiert (Stichworte: Nicht-Urteilen, Geduld, Anfängergeist, Vertrauen, Nicht-Erzwingen, Akzeptanz, Loslassen, Dankbarkeit, Großzügigkeit) sowie systemisch und somit auch konstruktivistisch, lösungsorientiert, ressourcenorientiert.

8. Wie klingt die Musik, die Sie mit Patient:innen machen oder die Sie ihnen vorspielen?
Vielleicht so: neu – anders – im Hier und Jetzt.

9. Schildern Sie bitte eine typische Situation aus Ihrem Berufsalltag.
Eine hierauf vielleicht typische Antwort meinerseits könnte sein: „Was ist schon typisch!?“ Denn ich mag zum Beispiel Fragen und Konjunktive. Typisch für mich könnte zudem sein,
dass ich im Sinne einer achtsamkeitsbasierten Haltung immer wieder neu gespannt bin auf den jeweiligen Menschen und dessen Geschichten und wertschätzend daran interessiert – jeden Tag aufs Neue. So kann ich sagen, dass ich dankbar bin für meinen Beruf und es in diesem Sinne diesen „Alltag“ für mich nicht gibt, denn jeder Tag ist anders und ich lerne, wohl als lebenslangen Lernprozess, jeden Tag dazu und das empfinde ich als sehr bereichernd – und wenn das als „typisch“ zählt, wäre das eine typische Situation aus meinem Berufsalltag.

10. An welche besonders schwierige, lustige oder glückliche Situation können Sie sich erinnern?
Jeden Tag gibt es für mich schwierige, lustige und glückliche Situationen, in jedem Feld meiner Tätigkeit (Musik – Trauerbegleitung – Psychotherapie) und das Besondere daran ist für mich, dass ich auch daraus lernen kann.

11. Welche Idee im Bereich der Musiktherapie würden Sie gerne verwirklichen, wenn Sie ausreichend Zeit und Mittel hätten?
Ich würde dafür sorgen, dass Musiktherapie ab sofort als weiteres Richtlinienverfahren gelten und als Leistungsangebot von den Krankenkassen übernommen werden würde, sowie dass auf noch viel mehr Neonatologiestationen die Musiktherapie implementiert sein würde. Ich würde meine Praxis zu einem größeren Unternehmen erweitern mit unter anderem viel mehr räumlichen Möglichkeiten und mich intensiver um Musiktherapie für Gehörlose kümmern. Ursprünglich wollte ich mich nämlich darauf spezialisieren und habe unter anderem deshalb die Deutsche Gebärdensprache (DGS) gelernt. Außerdem nehme ich mir die Zeit, mich auch weiterhin dafür einzusetzen, dass Tabuthemen/ Randthemen wie Psychotherapie rund um Schwangerschaft und Geburt sowie Abschied, Tod und Trauer und Tod von Kindern im Besonderen als Lebensthemen, die uns immer wieder begegnen, mehr zu kultivieren und in die Öffentlichkeit als zum Leben dazugehörig zu rücken und die Betroffenen zu unterstützen und vielleicht auch für die Hoffnung und Gewissheit einzustehen, dass nichts verloren geht.
Und ich wünsche mir, dass ich mir stets genügend Zeit nehme, um mich zu bilden und zu lernen, achtsamer zu werden, zu lieben und dankbar zu sein für einen wundervollen Beruf an den Grenzen und Verbindungen zwischen Leben und Tod und für mein Leben.

Brit Gardemeier
Praxis für Musiktherapie Brit Gardemeier
Musik I Trauerbegleitung I Psychotherapie
Dorotheenstraße 17
22301 Hamburg-Winterhude
040 75689951
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
britgardemeier.de
https://www.instagram.com/brit.gardemeier/

Schwerpunktthema I

Beziehungsweise – Musiktherapie mit Familien
Von Eva Phan Quoc, Agnes Burghardt-Distl & Thomas Stegemann

Milo ist fünf Jahre alt und kommt seit einem Monat zur Musiktherapie. Im Kindergarten beteiligt er sich kaum an gemeinsamen Aktivitäten und spricht mit niemandem, was den Eltern Sorgen bereitet. Da Milos Mutter heute arbeiten muss, wird er erstmals von seinem Vater zur Therapie gebracht. Milo ist während der Fahrt zum Ambulatorium eingeschlafen und soeben erst wach geworden. Verschlafen und ängstlich will er sich heute nicht von seinem Vater trennen, daher lade ich schließlich einfach alle beide in meinen Therapieraum ein. Etwas verlegen willigt Milos Vater ein und setzt sich auf einen Sessel an die Wand. Er möchte sichtlich nicht stören. Während ich mein Begrüßungslied für die beiden singe, rutscht Milo vom Schoß seines Vaters, läuft zur großen Trommel und versucht, sie Richtung Vater zu ziehen. Dieser hilft schließlich und vorsichtig streichen ihre Finger über das Trommelfell. Ich beginne eine neue Strophe in meinem Lied und lade sie darin ein, ihre Hände über die Trommel wandern zu lassen – mal leise, mal laut leite ich sie mit meinem Singen an, unterschiedliche Spielweisen auszuprobieren. Nach wenigen Minuten scheinen sie mich beinahe nicht mehr wahrzunehmen. Sie sind im Spiel.
Im Gespräch erzählen mir die Eltern Wochen später, dass Milos Vater inzwischen zuhause eine Trommel gekauft hat und immer wieder lustvoll und lautstark „das Trommelspiel“ mit seinem Sohn spielt.

Potenziale entfalten und Grenzen ausloten
Musiktherapie mit Familien ist eine Form des musiktherapeutischen Arbeitens, die sich vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt und immer mehr ausdifferenziert hat. So
wie auch viele andere Therapierichtungen im psychosozialen Feld, wurde auch die Musiktherapie auf die Chancen und Möglichkeiten aufmerksam, die eine Arbeitsweise bietet, die Familienmitglieder in verschiedener Weise in das musiktherapeutische Setting miteinbezieht. Neue Ansätze, mit Bezugspersonen, Angehörigen und Familien in verschiedensten Arbeitsfeldern und Altersbereichen musiktherapeutisch zu arbeiten, sind entstanden.
Im internationalen „Network Music Therapy with Families“ haben sich Praktiker:innen und Forschende zusammengeschlossen, um sich mit Besonderheiten, Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen dieser Arbeitsweise auseinanderzusetzen. Um diesem Austausch einen passenden Rahmen zu geben, wurde in Zusammenarbeit mit dem Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung (WZMF) an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien von 23.–25. September 2022 das erste internationale Symposium „Music Therapy with Families“ veranstaltet (www.mdw.ac.at/mt-family) (Abb. 1).

„Familie“ – wer ist gemeint?
Die Frage, wann wir als Musiktherapeut:innen eigentlich „mit Familien arbeiten“, beantwortet die dänische Musiktherapeutin Stine Lindahl Jacobsen mit der Gegenfrage: „Wann arbeiten wir eigentlich NICHT mit Familien?“ (Abb. 2).
Menschen, die musiktherapeutische Angebote in Anspruch nehmen, leben in Interaktion mit ihrem Umfeld, müssen also auch im Kontext ihrer Umgebung betrachtet werden. Dieses Umfeld ist in der einen oder anderen Form immer auch im Therapiegeschehen präsent – aus Erzählungen, als Personen, die im Alltag versorgen oder zur Therapie begleiten, als Bezugspersonen oder Angehörige – und manchmal stellt uns dieses Umfeld vor größere Herausforderungen als die Symptomträger:innen selbst.
Manfred Cierpka (2008, S. 20) schlägt als Definition für eine „(Ein- oder Zweieltern-)Familie“ das Zusammenleben von mehreren, „meistens zwei Generationen der (leiblichen,
Adoptiv-, Pflege-, Stief-)Eltern und der (leiblichen, Adoptiv-, Pflege-, Stief-)Kinder“ vor. Dieses ist „charakterisiert durch gemeinsame Aufgabenstellungen, durch die Suche nach Intimität und Privatheit und durch die Utopie der Familie. (...) Dadurch wird ein Rahmen für das geschaffen, was die Familie oder eine andere Lebensform an Lebens- und Entwicklungsaufgaben
erfüllt.“
Noch weiter fasst die deutsche Autorin Teresa Bücker (2022, S. 141) diesen Begriff, wenn sie schreibt: „Familie ist nicht definiert durch eine bestimmte Personenkonstellation, durch eine Hochzeit oder ein Eigenheim. Familien sind Gemeinschaften und Orte, an denen wir uns und anderen emotionale Sicherheit geben können und einander dabei gleichberechtigt unterstützen, frei zu leben.
Mit dem Begriff „Familie“ ist hier also weit mehr als die gängige heteronormative Definition von Kleinfamilie im Sinne von „Mutter, Vater, Kind“ gemeint. Familie kann auch eine „Wahlfamilie“ sein – Personen, mit denen sich jemand umgibt, wo eine Form von Zugehörigkeit spürbar wird. Eine (nicht verwandte) Bezugsperson kann zum Beispiel auch ein:e Sozialpädagog:in der Wohngemeinschaft sein, eine Bezugspflegeperson oder eine Person aus der direkten Nachbarschaft. Angehörige können Elternteile, Großelternteile, Kinder oder auch Enkelkinder sein. Geschwister, Onkel, Tanten – die Liste ließe sich noch lange fortführen. Ein Verständnis von Familie als eine Gemeinschaft von Sorgenden (caring community) erweitert gleichzeitig auch den Begriff des Settings „Musiktherapie mit Familien“. Diese meint in diesem Sinn folglich das Miteinbeziehen des erweiterten Umfeldes einer Person oder die von vornherein geplante Arbeit mit mehreren Mitgliedern eines Familiensystems. Mit dieser Verortung des Begriffes als „Musiktherapie unter Miteinbezug von Bezugspersonen, Angehörigen oder Familien“ bewegen wir uns auch gedanklich aus dem Altersbereich der Kindheit hinaus und beziehen uns auf die gesamte Lebensspanne.

Formen musiktherapeutischen Arbeitens mit Familien
Einen guten Überblick im Sinne einer umfangreichen Sammlung verschiedener Arbeitsansätze vermittelt das 2017 von Stine Lindahl Jacobsen (DNK) und Grace Thompson (AUS) herausgegebene Fachbuch „Music Therapy with Families“. Je nach Arbeitsfeld und Zielsetzung ist es bei der Arbeit mit Familien möglich, das Setting sehr individuell zu gestalten: beginnend bei Musiktherapie zu dritt mit Patient:in, Bezugsperson und Therapeut:in, über die Arbeit mit dem gesamten Familiensystem, bis hin zu etwa mehreren Eltern-Kind-Einheiten oder auch mehreren Familien gemeinsam in einer Gruppe kann in unterschiedlichen Konstellationen gearbeitet werden. Die Arbeitsfelder reichen von der Neonatologie (vgl. Beitrag von Ettenberger & Phan Quoc in diesem Heft) über stationäre Angebote in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bis hin zur Arbeit mit Personen, die von Demenz betroffen sind, und ihren Angehörigen (Stegemann, 2021).
In Österreich findet Musiktherapie zumeist im Einzel- oder Gruppensetting statt. Bei einer 2018 durchgeführten Berufsgruppenumfrage zeigte sich aber auch, dass ca. 15% der befragten Musiktherapeut:innen angaben, in zumindest einem kleinen Ausmaß in einer (nicht näher definierten Form) des Familiensettings zu arbeiten (Phan Quoc, Riedl, Smetana & Stegemann, 2019). Wie diese Arbeitsansätze konkret aussehen und in welchen Bereichen im gesamten deutschen Sprachraum mit Bezugspersonen, Angehörigen oder Familien musiktherapeutisch gearbeitet wird, wäre interessant herauszufinden. Erste Impulse, sich diesbezüglich zu vernetzen und in einen Austausch zu gehen, werden aktuell vom Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung (WZMF) gesetzt: Unter der Koordination von Eva Phan Quoc und Agnes Burghardt-Distl sind regelmäßige Angebote (wie Vernetzungstreffen oder Impulsvorträge) geplant. Nähere Informationen finden sich unter (www.mdw.ac.at/mt-family).

MusikSpielTherapie
Ein musiktherapeutischer Ansatz aus dem deutschen Sprachraum, der sich in der praktischen Arbeit mit Säuglingen, Kleinkindern und ihren Bezugspersonen sehr bewährt hat, ist die Musik-SpielTherapie. Sie wurde in Berlin von Katrin Stumptner und Cornelia Thomsen entwickelt und wird aktuell gerade in enger Zusammenarbeit mit den Begründerinnen aus bindungstheoretischer Perspektive von Eva Phan Quoc am WZMF beforscht und weiterentwickelt. MusikSpielTherapie (MST) richtet sich an Familien mit Kindern bis zu einem Alter von vier Jahren und eignet sich besonders für länger andauernde Interaktionsstörungen zwischen Bezugspersonen und Kindern.
In der MST finden musiktherapeutische Spieleinheiten mit Kind, Bezugsperson und Therapeut:in zu dritt abwechselnd mit Reflexionsgesprächen nur mit den Bezugspersonen alleine statt. Dies bedeutet, dass das Kind in der Musiktherapieeinheit immer zusammen mit einer Bezugsperson, meist einem Elternteil, anwesend ist. Ein musikalischer Spielraum wird eröffnet
und die Bezugsperson wird dabei begleitet, mit ihrem Kind in Kontakt und ins Spiel zu gehen (Abb. 3).
Die musiktherapeutische Spieleinheit zu dritt wird auf Video aufgezeichnet. In begleitenden therapeutischen Gesprächseinheiten wird mit der Bezugsperson das Geschehen aus der Spieleinheit besprochen, reflektiert und gemeinsam aufgearbeitet. Gelungene Interaktionen können gemeinsam nochmals angesehen werden, um so neue Erfahrungsmuster auch in den Alltag mit dem Kind zu integrieren. Eine solche videobasierte Arbeitsweise und der regelmäßige Wechsel zwischen Erleben und Reflexion unterstützen die Familienmitglieder dabei, neue oder korrigierende Erfahrungen miteinander zu machen, um so schlussendlich besser aufeinander abgestimmt reagieren zu können.
Die feinfühlige Abstimmung auf die Bedürfnisse eines Babys oder Kleinkindes ist von großer Bedeutung für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer sicheren Bindungsbeziehung. Hier noch mehr Wissen zu speziell bindungsfördernden Aspekten der MusikSpielTherapie zu generieren, ist daher ein wichtiges Forschungsanliegen (Phan Quoc, 2021).

Musiktherapie mit Familien – Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen
Ein weiteres wichtiges Themenfeld im Zusammenhang mit Familiensystemen ist das interdisziplinäre Arbeiten. Ein gut vernetztes und abgestimmtes Zusammenarbeiten von Musiktherapeut:innen mit anderen Berufsgruppen wie beispielsweise Psycholog:innen, Ärzt:innen oder Sozialpädagog:innen stellt besonders dort eine Notwendigkeit dar, wo Familien durch verschiedene, miteinander verwobene Problemstellungen belastet sind.
Ein besonders geeignetes Setting für die interdisziplinäre Arbeit findet man in ambulanten Therapiezentren, die viele Berufsgruppen unter einem Dach vereinen. In Wien bieten beispielsweise die Zentren für Entwicklungsförderung ärztliche, sozialarbeiterische und therapeutische Begleitung für Kinder und deren Familien an. Ihre Klient:innen stehen oft vor einem schier unüberwindbaren Berg von Schwierigkeiten, wie etwa Behördengängen in Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, Asylstatus oder der Suche nach einem geeigneten Kindergartenplatz für ein Kind mit Entwicklungsbeeinträchtigungen. Zusätzlich wirken sich die vielen psychosozialen Belastungsfaktoren auf die Psyche der Eltern und der Kinder aus, sodass ein breit aufgestelltes Angebot aus medizinischer Versorgung, Therapie und Sozialarbeit zur Verfügung gestellt werden muss.
Dieses vernetzte Arbeiten bringt immense Vorteile mit sich. Eltern schildern, dass sie diese Art der Zusammenarbeit als besonders qualitätsvoll, zielgerichtet und „passgenau“ empfinden und sie sich in diesem „Netz von Hilfsangeboten“ besonders gut aufgefangen und in ihrer Gesamtheit gesehen fühlen. Für uns Therapeut:innen stellt die interdisziplinäre Arbeit ebenso eine Entlastung dar: Man hat nicht das Gefühl, alles alleine „lösen“ zu müssen und fühlt sich als helfende Person ebenso in ein Team eingebettet. Auch hier kann ein Gefühl von Zusammenhalt und Unterstützung wie in einer Familie entstehen (siehe weiter oben die Definition von Teresa Bücker). Eine solche Atmosphäre innerhalb einer Institution wirkt sich wiederum haltgebend auf die betreuten Patient:innen aus, die sich in weiterer Folge ebenfalls als Teil dieser „Familie“ erleben.
Eine Herausforderung in der interdisziplinären
Zusammenarbeit stellen vor allem die zeitlichen Ressourcen dar, die für gemeinsame Absprachen, Helferkonferenzen und Ähnliches notwendig werden. Diskussionen, das Finden einer „gemeinsamen professionellen Sprache“, Telefonate mit externen Institutionen wie Kindergärten etc. brauchen Zeit, sind aber oft zwingend nötig, um kein „Nebeneinander“, sondern eben ein „Miteinander“ im Helfer:innensystem herzustellen.
Die Profession Musiktherapie hat nicht nur die Verantwortung, ihre Potenziale zu kennen und zu entfalten, sondern auch sich ihrer Grenzen bewusst zu sein. Expert:in zu sein heißt vor allem auch, zu wissen, wann man Supervision braucht oder eben auch andere Berufsgruppen zu Rate ziehen sollte (oder wann Musiktherapie gar nicht indiziert ist).
So kann etwa bei Familien mit autistischen Kindern Musik eine erste „Brücke“ zur innerfamiliären Kommunikation und Interaktion herstellen. Im musikalisch-spielerischen Tun zwischen
Bezugsperson und Kind können Ressourcen entdeckt und Freude erlebt werden. Dennoch gibt es auch Themenbereiche, bei denen die Musiktherapie an ihre Grenzen stößt und
andere Berufsgruppen wichtige Beiträge zur Entwicklungsförderung leisten. So können etwa sensorische Überempfindlichkeiten oft bestmöglich in der Ergotherapie behandelt werden,
vorschulische Fertigkeiten wie konzentriertes Arbeiten unter elterlicher Hilfestellung oder eine Erweiterung des Spielverhaltens in der Sonder- und Heilpädagogik. Nichtsdestotrotz kommt es beim sogenannten transdisziplinären Arbeiten auch zu Überschneidungen: In einem gut vernetzten Team können Elemente aus der einen Therapie auch für die andere Therapie übernommen werden. Allerdings bleibt das Hauptaugenmerk in jeder Therapierichtung spezifisch.

Aus der Perspektive der Betroffenen
Ein gutes Beispiel für gelungenes Zusammenarbeiten verschiedener Berufsgruppen mit einer Familie ist die Geschichte von Lilly Haller, die als Vortragende am Symposium „Music Therapy
with Families 2022“ zusammen mit ihrer Mutter, ihrer Musiktherapeutin Brigitte Meier-Sprinz und ihrem Neuropädiater Andreas Sprinz ihre Erfahrungen vorstellte (Abb. 4).
Lilly Haller, 2007 geboren, hatte bis vor wenigen Jahren kaum Möglichkeiten, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Bedingt durch schwere Komplikationen während der Geburt und eine dadurch verursachte Hirnschädigung sitzt Lilly im Rollstuhl, hat kaum Kontrolle über ihre Bewegungen und verfügt über keine lautsprachliche Ausdrucksmöglichkeit.
Lilly wurde zu Hause, zusammen mit ihrer Mutter Heike Haller, im Rahmen eines Forschungsprojekts von Brigitte Meier-Sprinz musiktherapeutisch betreut. Dabei stellte sich durch die Wiederholung bestimmter rhythmischer Muster heraus, dass sie in der Lage ist, einen Muskel im Oberarm so zu bewegen, dass trotz Spastik ein gezieltes Anspannen des Muskels möglich
wird. In der Ergotherapie wurde diese Bewegungsansteuerung zusätzlich geübt, sodass Lilly mit der Zeit und viel Unterstützung ihrer Mutter ein eigenes Kommunikationssystem
entwickelte. Mittlerweile kann sich Lilly – digital unterstützt – differenziert schriftsprachlich ausdrücken. Zusätzlich hat die Familie Musik als Ressource entdeckt und Lilly das Schreiben
und Musizieren als kreativen Ausdruck im Alltag integriert. Über ihre Anfänge in der Musiktherapie schreibt sie:
Ich hab noch nie so viele Instrumente auf einmal in einem Zimmer gesehen. Ich durfte alles anfassen und hören, wie es klingt. Es war so, dass wir uns erst kennenlernen mussten. Sehr vorsichtig, aber gründlich. Zu der Zeit war ich noch […] oft krank und echt frustriert, weil ich so falsch eingeschätzt wurde. Ich hatte Angst, dass es in der Musik auch so wird.“ (Lilly Haller, 2022)
Schlussendlich ist es die Musik und die feinfühlige Wahrnehmung ihrer Mutter und der Therapeutin bzw. die Unterstützung der Ergotherapeutin und des Neuropädiaters, die es möglich
machten, dass Lilly endlich an der Welt teilhaben und solch wichtige Botschaften wie diese äußern kann:
„Es ist so wichtig, dass wir aufeinander achtgeben, jede:r ist so einzigartig. Dass Kinder in Schubladen gesteckt werden, das ist nicht sehr schlau, denn es nimmt denen, die darin stecken, die Freude am Leben.“ (Lilly Haller, 2022)
Für genauere Einblick in Lilly Hallers Vortrag, siehe auch https://www.mdw.ac.at/magazin/index.php/2022/11/29/musiktherapie-oeffnet-tueren/
Auch Maxim Thompson, der mittlerweile erwachsen ist und sich beruflich unter anderem als Künstler betätigt, gibt beim Symposium „Music Therapy with Families 2022“ zusammen
mit seinem Vater Bill und seiner früheren Musiktherapeutin Amelia Oldfield Einblick in seine schon lange zurückliegende Musiktherapie. Maxim, genannt Max, der als Kind die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung erhielt, nahm ein Jahr lang mit seinem Vater an der Musiktherapie teil. Ziel war es, seine Kommunikations- und Interaktionsfähigkeiten zu unterstützen. Obgleich Max wegen seines damals jungen (Kindergarten-)Alters wenig Erinnerung an die Therapie hat, so blieb doch ein starkes Interesse für Musik sowie die Begeisterung für eigenes
Musizieren und kreatives Schaffen aus dieser Zeit bestehen.
Über die Idee eines dokumentarischen Musiktherapie-Filmprojektes nahmen Max und seine damalige Therapeutin schließlich vor fünf Jahren wieder Kontakt zueinander auf und eine neue Zusammenarbeit begann: Unter der Regie von Max Thompson und mit seinem Vater als Produzent entstand der faszinierende Dokumentarfilm „Operation Syncopation“ (zu
finden auf youtube.com). Dieser zeigt Ausschnitte aus Musiktherapieprozessen von zehn autistischen Kindern und ihren Familien, die bei Amelia Oldfield vor 17 Jahren Musiktherapie erhalten hatten. Verknüpft werden diese Filmausschnitte mit aktuellen Interviews, in denen alle Beteiligten (Kinder und Elternteile) ihre Erinnerungen dazu teilen und reflektieren.
Gemeinsam mit seinem Vater zieht auch Max bei seinem Vortrag in Wien die Bilanz, dass die Musiktherapie vor allem ein „Ressourcenort“ war, an dem gesehen wurde, was er kann und nicht nur Defizite im Fokus standen. Ähnlich wie bei Lilly ebneten positive Interaktionen mit der Musiktherapeutin und dem Elternteil den Weg für die Teilhabe an der Außenwelt. Auch hier gab es ein eng vernetztes Zusammenarbeiten mit anderen Berufsgruppen. Noch heute stellen die Musik und sein kreatives Schaffen eine wichtige Ausdrucksform für Max dar, die es ihm ermöglicht, Botschaften zu vermitteln, die ihm wichtig sind (Abb. 5).
Die Perspektiven von Personen wie Lilly Haller oder Max Thompson, die Musiktherapie selbst in Anspruch genommen haben, in fachliche Diskussionen integrieren zu können, stellte beim Symposium „Music Therapy with Families 2022“ eine sehr große Bereicherung dar. Gleichzeitig verdeutlichte dies auch nochmals die Chance, die diese Form musiktherapeutischen
Arbeitens bieten kann, wenn alle Beteiligten sich als „Expert:innen für ihr eigenes Erleben und Verhalten“ auf Augenhöhe begegnen (auch in der Wissenschaft – Stichwort: partizipative Forschung).
In beiden geschilderten Fallbeispielen war die Beteiligung eines Elternteils jedenfalls ein wesentlicher Faktor für den Therapieerfolg bzw. den Transfer der Erfahrungen in den Alltag.
Idealerweise entfaltet Musiktherapie ihre Wirkung über den Behandlungsraum hinaus und fördert – das Umfeld mit einbeziehend – die Teilhabe und positive Entwicklung des gesamten (Familien-)Systems.

…alle Stimmen werden gehört
Wie nun bereits deutlich wurde, umfasst der Begriff „Musiktherapie mit Familien“ ein breites Spektrum musiktherapeutischer Arbeit. Was all diese Ansätze aber gemeinsam haben, beschreiben Jacobsen & Thompson (2017) als eine äußerst respektvolle Haltung den Familien bzw. Systemen gegenüber, mit denen sie arbeiten. Das Erfahrungswissen, die Wünsche und die Ressourcen aller Beteiligten nehmen einen hohen Stellenwert ein und stellen eine wichtige Grundlage der gemeinsamen Arbeit dar.
Im Fokus steht sehr oft die Qualität des Beziehungsgeschehens. Hier öffnet Musiktherapie Spielräume, um sich auf nichtsprachlicher Ebene musikalisch zu begegnen und dadurch neue
Erfahrungen miteinander zu machen. Gehalten und begleitet werden diese Begegnungen durch die therapeutische Beziehung, die einen sicheren Rahmen dafür bietet, dass wirklich alle Stimmen gehört werden können.
Sowohl Erfahrungsberichte von betroffenen Familien, praktische Erfahrungen von Musiktherapeut:innen (vgl. Burghardt-Distl & Kofler, 2022) als auch Forschungsprojekte zeigen auf, dass der Miteinbezug des gesamten Systems von enormer Wichtigkeit für den Transfer von Therapieinhalten in den Alltag ist. Daher sollte die dahingehende Weiterentwicklung der Profession zunehmend in den Fokus rücken.

Austausch und Vernetzung als wichtige Ressourcen
Das „Music Therapy with Families Network“ (Abb. 6) besteht aus einem Zusammenschluss engagierter Musiktherapeut:innen und hat zum Ziel, die Vernetzung auf internationaler
Ebene auszubauen, um bestmöglich voneinander lernen zu können. Nähere Informationen sind auf der Website www.mdw.ac.at/mt-family zu finden, die derzeit aufgebaut wird.
Geplant ist, dadurch eine Plattform zur Verfügung zu stellen, auf der sich Informationen zu aktuellen Veranstaltungen, Weiterbildungen ebenso wie Literaturhinweise, Anwendungsfelder und Impulse zur Weiterentwicklung und gemeinsamen Forschungsinitiativen finden. Interessierte Kolleg:innen sind herzlich eingeladen, unter der Mailadresse Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! Kontakt aufzunehmen und sich per Newsletter über aktuelle Entwicklungen informieren zu lassen!

Referenzen
Bücker T. (2022). Unlearn familie. In L. Jaspers, N. Ryland & S. Horch (Hrsg.), unlearn patriarchy (S. 123–142). Berlin: Ullstein.
Burghardt-Distl, A. & Kofler, K. (2022). Kluge Synergien. Systemische Psychotherapie und Musiktherapie in der Gruppentherapie mit sozial-ängstlichen Kindern und deren Familien. In C. Unterholzer & H. Gröger (Hrsg.), Handbuch der systemischen Gruppentherapie.
Ansätze, Methoden, Zielgruppen, Störungsbilder (S. 280–295). Heidelberg: Carl-Auer.
Cierpka, M. (2008). Handbuch der Familiendiagnostik (3. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Phan Quoc, E., Riedl, H., Smetana, M. & Stegemann, T. (2019). Zur beruflichen Situation von Musiktherapeut.innen in Österreich: Ergebnisse einer Online-Umfrage. Musiktherapeutische Umschau, 40, 236–248. doi:10.13109/muum.2019.40.3.236
Phan Quoc, E. (2021). Die Bedeutung der Bindungstheorie für die Musiktherapie. In T. Stegemann & E. Fitzthum (Hrsg.), Kurzlehrbuch Musiktherapie. Teil II. Wiener Ringvorlesung Musiktherapie – Grundlagen und Anwendungsfelder. Wiener Beiträge zur Musiktherapie Band 13 (S. 171–192). Wien: Praesens.
Stegemann, T. (2021). Musiktherapie mit Familien. In H.-H. Decker-Voigt & E. Weymann (Hrsg.), Lexikon Musiktherapie (3. Aufl., S. 411–417). Göttingen: Hogrefe.

Agnes Burghardt-Distl, MMag.a
Musiktherapeutin und Psychologin. Seit 2007 im Kinder- und Jugendbereich therapeutisch tätig. Internationale Forschungsmitarbeit und Vorträge, v.a. in den Themenbereichen Autismus-Spektrum-Störungen und interdisziplinäres Arbeiten mit Familien.
Kontakt: www.praxisburghardt.distl.net

Thomas Stegemann, Univ.-Prof. Dr.
med. Dr. sc mus
Professor für Musiktherapie und Leiter des Instituts für Musiktherapie an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien; Musiktherapeut, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Paar- und Familientherapeut. Internationale Lehr- und Vortragstätigkeit. Forschungsschwerpunkte: Musiktherapie und Neurobiologie; Familien-Musiktherapie; Ethik in der Musiktherapie.
Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Eva Phan Quoc, Mag.a art.
Senior Scientist am Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung (WZMF), Lehrtätigkeit am Institut für Musiktherapie, mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Musiktherapeutin in freier Praxis mit Kleinkindern und Familien. Forschungsschwerpunkte: Bindungsbasierte Musiktherapie, Eltern-Kind-Interaktion, Musiktherapie mit Familien, Musiktherapeutische Forschungsmethodik und Assessments.
Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Heft 43 (2023) ist erschienen!

Musiktherapie und Familie

Das in allem wirkende „Kontinuum der Veränderung“ (G. W. Leibniz) wirkt auch auf und in Familie(n) – in Zeiten, in denen Krisen sich häufen und galoppieren, mehr denn je.

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