Zum Mitmachen
Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Sabine Rittner
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
In dieser Ausgabe möchte ich Sie im Sinne des Schwerpunktthemas zu einer Erfahrungssequenz einladen, in der Altes, Überholtes gereinigt und Neues, Ersehntes hörbar und spürbar visioniert wird. Es handelt sich um eine Übungsfolge, bei der Atem, Stimme, Körper, Bewegung, Emotionen und innere Bilder involviert sind. Damit bei einem Übergang Raum für Neuanfang oder Weiterentwicklung entstehen kann, ist es sinnvoll, zuvor die längst überfälligen Altlasten zu „entrümpeln“, sich von ihnen zu lösen und sie ziehen zu lassen.
Was Sie benötigen:
–– etwa 45 Minuten störungsfreie Zeit
–– einen Raum mit viel Platz am Boden
–– zwei Seile, etwa 2 m lang
–– ein großes Blatt Malpapier (A2)
–– Wachsmalstifte
–– eine Matte und eine Decke
Diese Übungssequenz kann sowohl alleine als auch unter Anleitung in der Gruppe durchgeführt werden.
1. Einstimmung (2 Min.)
–– Legen Sie zwei Seile im Abstand von etwa 1 m als parallele Linien in die Mitte des Raumes, so dass rechts und links davon noch viel Platz für Bewegung ist. Legen Sie auch das Papier und die Malstifte bereit.
–– Stellen Sie sich in die Mitte zwischen die beiden Seile. Entscheiden Sie, auf welcher Seite neben diesem JETZT-Raum, in dem Sie stehen, der Raum für das Vergangene sein soll und auf welcher Seite derjenige für das Zukünftige.
2. Jetzt (5 Min.)
–– Sammeln Sie sich mit drei tiefen Atemzügen und kommen Sie an. Registrieren Sie neugierig, ohne zu
bewerten: „Was ist jetzt? Was spüre ich, was höre ich, was fühle ich, was denke ich in diesem Moment?“
Das, was sich jetzt zeigt, drücken Sie mit einer Geste, einer Bewegung und Lauten/Geräuschen hörbar aus.
–– Lassen Sie nun aus Ihrem Herzraum ein Anliegen aufsteigen, einen Klärungswunsch, eine Frage. Formulieren Sie dies in einem klaren, einfachen, offenen Fragesatz ohne Verneinungen. Wählen Sie eine
passende Farbe und schreiben Sie dieses Anliegen oben auf das Blatt Papier. Nun drehen Sie das Papier
um und legen es zusammen mit den Farben in den Raum des Zukünftigen hinein ab. Lassen Sie dabei das
Anliegen wieder los, indem Sie es mit einem kräftigen Ausatem frei geben.
3. Vergangenes (10 Min.)
–– Treten Sie nun mit einem bewussten Schritt über die Schwelle des Seiles in den Raum des Vergangenen hinein.
–– Nehmen Sie Ihren Atem wahr. Mit dem nächsten Ausatem verlagern Sie ihr Gewicht auf einen Fuß. Dabei stellen Sie sich vor, dass dieser Ausatem durch Ihre Fußsohle in den Boden hinein abfließt so, als
hätten sie einen Mund unter ihren Fußsohlen. Beim nächsten Ausatem verlagern Sie das Gewicht auf den
anderen Fuß. Lassen Sie dabei den Atem mit einem hörbaren, weichen „fff“ ausströmen.
–– Mit jedem neuen Ausatem, der tief in die Erde hinein sickert, setzen Sie den Fuß etwas weiter weg, so dass sehr langsame, kleine Schritte im langsamen Rhythmus Ihres Ausatems entstehen. Stellen Sie sich
bildlich vor, was alles außen an Ihnen abgleitend vom Ausatem hinab gewaschen wird in einen weichen
Erdboden hinein. Imaginieren Sie die Fußstapfen, die Ihr Ausatem auf der weichen, warmen Erde hinterlässt: ist es Lehmboden, weicher Sand, Waldboden oder eine Wiese?
–– Lassen Sie dazu Armbewegungen von oben nach unten entstehen, die dieses Hinabgleiten, diese „rituelle Waschung“ unterstützen. Diese Bewegungen werden unterstützt von Geräuschen/Lauten des Loslassens. Seien Sie großzügig mit dem, was Sie hinabsickern lassen in die Erde. Es wird von ihr wohlwollend aufgenommen und zu nahrhaftem Kompost gewandelt.
–– Beim Gehen stellen Sie nun fest, dass der Boden unter Ihren Füßen zunehmend an Festigkeit gewinnt. Erkunden Sie mit ihren Schritten auf felsigen Untergrund dessen Festigkeit, lassen Sie mit kraftvollerem Stampfen im Ausatem Geräusche und Laute hörbar werden. Die Erde unter Ihnen hat zusätzlich auch eine aufsteigende Kraft, mit der sie Ihnen etwas entgegensetzt. Testen Sie stampfend, ob sie Sie aushält, muten Sie sich ihr zu.
–– Mit kraftvoll schleudernden Armbewegungen und lauten Geräuschen/Tönen begleiten Sie dieses
Stampfen. Was möchte aus Ihrem Inneren entlastet werden, was ist reif, dass es kompostiert werden
kann? Wenn irgendwo im Körper ein Druck, eine Spannung, eine Enge sitzt, schleudern Sie, was immer
es auch sein mag, lauthals stampfend und begleitet von Armbewegungen hinaus und hinab in die Erde. Es ist dabei nicht wichtig, ob Ihnen bewusst ist, was und warum Sie herausschleudern. Lassen Sie es zu und vertrauen Sie darauf, dass mit Hilfe Ihrer Imaginationskraft und Ihres Körpererlebens konkrete Entlastung geschieht.
4. Jetzt (3 Min.)
–– Erst wenn wirklich alles, was dazu breit ist, sich entlastet hat, treten Sie mit einem bewussten Schritt
wieder hinein in den Raum der Gegenwart zwischen den beiden Seilen. Spüren Sie einen Moment lang
nach: „Was ist jetzt anders? Wie ist jetzt mein Körperempfinden? Bin ich jetzt wacher oder müder? Wie
ist meine Gestimmtheit? Hat sich emotional irgend etwas verändert?“
5. Zukünftiges (10 Min.)
– Nun treten Sie mit einem bewussten Schritt hinein in den Raum des Zukünftigen. Hier befinden Sie sich
in einem „Möglichkeitsraum“, in dem Sie atmend, tönend, mit Bewegungen und mit der Stimme das
Kommende „aufträumen“, visionieren; ein Raum, in dem Sie das, was auf Sie wartet, erlauschen, erspüren, erschauen können. Lassen Sie sich, getragen von Ihrem Atem, zu einem freien Summen, Tönen, Singen verlocken, das von intuitiven Bewegungen begleitet wird. Die Bewegungen locken wiederum neue Klänge, Töne Geräusche, vielleicht eine Melodie hervor. Lauschen Sie staunend auf das, was hörbar werden möchte.
Die folgenden Fragen mögen Ihnen dabei als Anregung dienen:
„Was ruft mich? Was lockt mich? Was sehnt sich danach, sich ent-falten zu dürfen? Was wartet schon längst darauf, endlich von mir gelebt zu werden?“
Lassen Sie Bilder aufsteigen und erlauben Sie dem, was Sie ruft, sich in Ihren Bewegungen und Ihrer Stimme auszudrücken. Lasse Sie zu, dass es sich jetzt schon verkörpert. Auf diese Weise erzeugen Sie neuronale Neubahnung in Ihrem Nervensystem, erschaffen Sie Wirklichkeit, bahnen Sie das in Ihnen längst vorhandene Veränderungspotenzial für Ihren Neubeginn.
– Während dieses tönend bewegten Visionierens greifen Sie mit jeder Hand zu einer Farbe und lassen
beide Hände gleichzeitig mit den Farben in den leeren Raum auf dem am Boden (oder auf einem Tisch)
liegenden Papier hinein gleiten. Wichtig ist: Tönen Sie dabei fortlaufend weiter und schauen Sie Ihren
Händen neugierig, staunend zu, was diese tönend bewegt farbig sichtbar machen.
6. Ausklang (ca. 15 Min.)
– Wenn das tönende Malen und malende Tönen verklungen ist, legen Sie das Gemälde an einen für Sie
jetzt stimmigen Platz am Boden ab, an dem Sie neben dem Bild im Stehen zur Ruhe kommen. Schauen
Sie es sich aus diesem Abstand heraus noch einmal interessiert und neugierig an.
– Nehmen Sie wertungsfrei wahr, spüren Sie nach: „Was ist jetzt? Was ist bei mir anders als am Beginn:
lauschend, spürend, schauend, emotional…?“
– Finden Sie eine Geste, eine Selbstberührung und einen Satz der Selbstbekräftigung, mit der Sie das Erlebte verdichten und ankern.
– Nickerchen (ca. 5–10 Min.)
Wenn Sie mögen und die Gelegenheit dazu besteht, ruhen Sie sich im Liegen auf einer Matte, eingekuschelt in eine Decke, aus. Machen Sie ein kurzes Nickerchen, in dem sich das Durchlebte heilsam tief ins Körpergedächtnis abspeichern kann.
– Erinnern Sie sich noch an Ihr Anliegen am Beginn dieser Erfahrungssequenz? Schreiben Sie nun auf der Rückseite Ihres Gemäldes unter ihrem Satz des ursprünglichen Anliegens Ihre neuen Erfahrungen nieder.
Sofern diese Übungssequenz in therapeutischer Begleitung durchgeführt wird, ist hier nun der geeignete Moment für die wertungsfreie verbale Verarbeitung und den Alltagstransfer mittels des therapeutischen Gesprächs.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.“
Ausschnitt aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse
Methodische Hinweise für Musiktherapeut:innen
– Während der gesamten Sequenz – von Teil 2 bis zum Ende von Teil 6 – wird nichts verbalisiert oder
miteinander besprochen. Sollte ein/e Klient:in dazu neigen, das Erleben erklären zu wollen, so leitet
der/die Therapeut:in immer wieder zum handlungsorientierten Erfahren zurück.
– In Teil 3, in dem Altes sowohl auf sanfte als auch auf kraftvolle Weise an die Erde abgegeben wird, ist es unterstützend, als Therapeut:in animierend, spielerisch mitzumachen, vorzuleben und dabei immer wieder Bilder und vielfältige Anregungen zur imaginativen Ausgestaltung des Körpererlebens zu geben. In dieser Phase sind keine biografischen Details erforderlich zu dem, was denn nun genau losgelassen wird. Hier wird nichts analysiert oder besprochen, sondern das Geschehen wird mit metaphorischen Anregungen unterstützt, ohne verbalen Austausch mit den Klienten.
– Dieser Teil 3 eignet sich mit seinem ersten, sanften Abschnitt ggf. auch
gut für das Herauslösen aus dem gesamten Ablauf, z.B. als Entlastung VOR einem Coaching- oder
Beratungsgespräch. Dabei können Stresssymptome gemildert, Rumination reduziert, beginnendes
Kopfweh gelindert, Verspannungen gelöst werden. Es geschieht grounding, Beruhigung, eine trophotrope Umschaltung des vegetativen Nervensysthems (Vagusstimulation).
– Sollte die Möglichkeit bestehen, ist es empfehlenswert, diesen Teil barfuß in der Natur anzuleiten. Auch
als Hausaufgabe im Sinne einer Anregung zur Selbstfürsorge wird dieser Teil des sanften Ausatmens und Loslassens in die Erde hinab von meinen Klient:innen sehr gut angenommen und gerne genutzt.
– In Teil 5, dem Raum für Zukünftiges, besteht die Rolle des/der Therapeut:in darin, ausschließlich sehr behutsam zu folgen, es wird viel Raum gegeben für Exploration und Suchprozesse. Die stimmliche Begleitung des/der Therapeut:in fi ndet hier nur im Sinne eines „Shadowing“ statt. Und im Erspüren, wann der stimmige Moment zum Bereitstellen des geöffneten Farbkastens und des Malpapiers ist. Im Übergang zum Malen ist unbedingt darauf zu achten, dass das bewegte Tönen weiterfließt, damit der intuitive Bewusstseinszustand und die Körperweisheit beteiligt bleiben und nicht das Denken und die kritischen Augen beim Malprozess die Oberhand gewinnen.
– In Teil 6, dem Ausklang, empfehle ich sehr, dem/der Klient:in ein kleines Nickerchen zu gönnen. Was
von Julie Henderson (Zapchen Somatics) bereits vor vielen Jahrzehnten in ihrer Körperarbeit kultiviert
wurde, deckt sich mit neuesten Erkenntnissen: Speicherung und Neubahnung im Körpergedächtnis finden in der Tiefenentspannung oder im Schlaf statt. Die Stille danach ist der kostbarste Moment!
– Kognitive Verarbeitung und Alltagstransfer sollten, falls erforderlich, erst im sich hieran anschließenden
therapeutischen Gespräch erfolgen.
Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, Atemund Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, IFS- und Traumatherapeutin
mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und körperorientierter Therapie.
Sie war 30 Jahre lang tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Bewusstseinsund Musiktherapieforschung). Sie arbeitet weiterhin in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching, Lehrtherapien), leitet Seminare, bildet aus, hält Vorträge und tritt international in Kunst-Performances auf. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie – Depression.
Weitere Informationen: www.Sabine-Rittner.de
Literaturtipp
Maja Storch; Benita Cantieni; Gerald Hüther; Wolfgang Tschacher (2015). Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Bern: Hans Huber.