Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

„Musik und Sprache“, unser aktuelles Schwerpunktthema, ist eines der „klassischen“ und doch immer wieder aktuellen Themen der Musiktherapie. „Musik und Sprache sind Schwestern“, so postuliert z.B. Rosemarie Tüpker, die Verfasserin eines unserer zu diesem Thema gehörigen Schwerpunktbeiträge. Das kann man so sehen. Laut Kleinem Brockhaus bedeutet Sprache zunächst „die dem Menschen eigene Fähigkeit, äußere und innere Erfahrungen in besonderen Symbolen zu bezeichnen und auszudrücken. Damit wird es möglich, sich eindeutig zu verständigen, die Erfahrung anderer zu nutzen, Gedankliches in einer vom Träger ablösbaren Form weiterzugeben… und das Verhalten anderer… zu beeinflussen.“
In der Musiktherapie gibt es eine lange – und immer wieder gern aufgegriffene – Diskussionstradition, ob z.B. – bezogen auf eine prinzipiell gut reflexions- und verbalisierungsfähige Klientel – musikalisches Erleben stets auch versprachlicht werden sollte oder ob dieses Erleben für sich stehe. Tendenziell tendieren die dazugehörigen Aussagen aus Perspektive der Nachbarfächer wie Psychologie oder Medizin eher dazu, dass prinzipiell zusätzlich versprachlicht werden sollte. Die Aussagen, die der Musiktherapie-„Szene“ entstammen, sind deutlich uneinheitlicher.
Vieles spricht sicherlich für Versprachlichung, sei es zur Aufarbeitung oder Verfestigung des oft gemeinsam mit/in der Musik Erlebten, sei es zum Schutz vor zu regressivem Erleben, das Musik auch auslösen kann. Andererseits kann es – gerade bei z.B. rational-intellektualisierenden Abwehrstrukturen – hilfreich und sinnvoll sein, das Erleben eben gerade nicht sprachlich zu bearbeiten, sondern für sich „sprechen“ zu lassen. Nicht zuletzt bestehen auch bei Musiktherapeuten manchmal Tendenzen, im Zuge der psychotherapeutischen Beziehung dem Verbalen mehr, der Musik weniger Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Weiterlesen: Editorial

Heft 27 (2015) ist erschienen!

Musiktherapie und Sprachförderung


Durch die Prosodie, die Musik in der Stimme, lernen wir alle in den ersten zwei Lebensjahren die Musik und ihre Elemente als Hinführung zum Sprechen und zur Sprache zu nutzen. Die Konzepte, die Musik und Sprache therapeutisch verbinden, führen in unterschiedlichen Praxisfeldern zu Sprachförderung und Sprachentwicklung. Einblicke in Praxis und Forschung beinhaltet diese Ausgabe der MuG.

Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans Ulrich Schmidt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Klinikum Bremen-Nord
Das Psychiatrische Behandlungszentrum in Bremen Vegesack
Catarina Mahnke

Praxisvorstellung
Musiktherapeutische Praxis in Muttenz/Schweiz
Hans Peter Weber

Patienteninterview Neurologische Musiktherapie: Wenn Patienten aus dem Wachkoma erwachen
Alexandra Takats

Schwerpunktthema
Rosemarie Tüpker

Schwerpunktthema II: Spielen und Sprechen in der Musiktherapie
Eckhard Weymann

Ausbildung
Britta Sperling

Tagungsberichte Forschung Wissen: Praxisbericht über den neugegründeten Verein
Musiktherapie-Initiative e.V.
Tina Posselt

Fachtag Musiktherapie – voller Erfolg für BIM
Sita Pollmeier

Geisteskrankheit und Musik
Ana-Marija Markovina/Helmut Reuter

Forschung und Wissen Capriccio celebrale: Singangebote in Gruppen aus Sicht von Singleitern in klinischen Facheinrichtungen
Teil II: Risiken und Folgerungen
Gunter Kreutz/Katja Böhm/Wolfgang Bossinger/Stephen Clift

Hmmmmm – was war zuerst da? Dadada oder lalala?
Zum Verhältnis zwischen Musik und Sprache
Thomas Stegemann

Menschen und Orte: News und Hochschulnachrichten

Mit Musik durchs Leben oder Die Musen und das Nilpferd –
zum 70. Geburtstag von Hans-Helmut Decker-Voigt
Thomas Stegemann

Nachruf auf Franz Mecklenbeck
Hans Ulrich Schmidt

Buch und Medien

Zum Mitmachen
Musikfocusing
Selma Suzan Emiroglu

Kolumne AufgeMuGt
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Klinikum Bremen-Nord

Das Psychiatrische Behandlungzentrum in Bremen Vegesack

Von Catarina Mahnke

 

Bremen-Vegesack, ein Stadtteil innerhalb des Bremer Stadtbezirks Nord, liegt an der Mündung der Lesum in die Weser. Im 17. Jahrhundert wurde hier der erste künstliche Flusshafen Deutschlands angelegt und die Walfänger stachen von hier aus in Richtung Arktis in See. Im Laufe seiner fast 400jährigen Geschichte wurde Vegesack von der Schifffahrt, vom Schiffbau, vom Fischfang und der Fischverarbeitung geprägt. All das bescherte der Region einen gewissen Wohlstand, von dem die alten Kapitäns- und Kaufmannshäuser an der Weser und der Museumshafen noch heute zeugen. Bis weit in die neunziger Jahre war die hier ansässige Großwerft Bremer Vulkan AG der Hauptarbeitgeber in der Region. Der Konkurs der Bremer Vulkan Werft und damit einhergehend der Niedergang des verarbeitenden Gewerbes hatten zur Folge, dass es zu Abwanderung und Einwohnerverlusten kam. Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die tragenden wirtschaftlichen Strukturen und bedeutete einen extremen Einschnitt für das Selbstverständnis der Menschen im Bremer Norden. Bis heute hat der Bremer Norden mit einer hohen Arbeitslosenquote zu kämpfen. Alte, zum Teil restaurierte und moderne Bauten prägen heute das Stadtbild von Vegesack.
Das Klinikum Bremen-Nord, eine der insgesamt vier kommunalen Kliniken der Hansestadt Bremen, gehört zum Klinikverbund Gesundheit Nord. Sie verfügt über 559 Betten und beschäftigt rund 900 Menschen. Versorgt werden hier Patienten aus dem Stadtbezirk Nord und dem angrenzenden niedersächsischen Umland. Neben den regulären medizinischen Fachbereichen wie der Inneren Medizin, Chirurgie etc. verfügt das Klinikum über ein eigenes Psychiatrisches Behandlungszentrum.
Der Bremer Stadtbezirk Nord war in (gemeinde-)psychiatrischer Hinsicht lange unterversorgt. Bis zur Jahrtausendwende mussten psychiatrisch erkrankte Menschen aus dem Bremer Norden weite Anfahrtswege in Kauf nehmen, um im Klinikum Bremen-Ost (als Standort einer großen Psychia­trie) behandelt zu werden. 2001 wurde am Klinikum Bremen-Nord der Grundstein für das Psychiatrische Behandlungszentrum gelegt. 2002 startete das Behandlungszentrum mit einer psy­chiatrischen Station zunächst am Standort des Klinikums. Zeitgleich wurde mitten im Zentrum von Vegesack ein zweiter Standort auserkoren. Am Sitz eines ehemaligen Gesundheitsamtes wurde ein modernes zweistöckiges Klinikgebäude angebaut. Bereits 2003 konnte das Psychiatrische Behandlungszentrum mit einer zweiten stationären Einheit, einer Tagesklinik und einer Psychiatrischen Instituts­ambulanz seinen Betrieb aufnehmen, um seiner gemeindenahen psychiatrischen Pflichtversorgung noch besser gerecht zu werden. Im November 2014 wurde ein Erweiterungsanbau fertig gestellt und seitdem sind beide stationären Einheiten unter einem Dach vereint. Im Erdgeschoss befinden sich die Therapieräume für die Ergo- und Bewegungstherapie, Gesprächsgruppen, Visiten, Heilsames Singen etc. sowie ein Aufenthaltsbereich für tagesklinische Patienten. Zwei unterschiedlich große Innenhöfe, einer mit Bepflanzungen, laden bei gutem Wetter zum Verweilen ein. Die stationären Patienten sind auf der ersten und zweiten Ebene untergebracht. Auf jeder Ebene gibt es einen großzügigen Milieubereich, der sowohl Aufenthalts- als auch Speiseraum ist und Rückzugsmöglichkeiten bietet. Auf jeder Ebene gibt es ein Milieuteam aus pflegerischen Mitarbeitern. Diese arbeiten in der Bezugspflege (nach Peplau). Sie betreuen und unterstützen jeden einzelnen Patienten und sind jederzeit ansprechbar.
Es werden erwachsene Menschen aller Alterstufen mit (akut)psychiatrischen Erkrankungen (z.B. Psychosen, Suizidalität, Depressionen) aus dem Gesamtspektrum der Psychiatrie sowie Suchterkrankungen (Ausnahme Drogenabhängigkeit) behandelt. Das Behandlungszentrum bietet Platz für 87 Patienten. Diese teilen sich in 44 stationäre und 43 tagesklinische Plätze auf. Die Behandlung erfolgt in einem multiprofessionellen Team aus Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern, Pflegekräften und Spezialtherapeuten (Musik-, Kunst-, Ergo-, und Bewegungstherapeuten). Das allgemeine Setting des Behandlungszentrums gestaltet sich milieutherapeutisch und orientiert sich am Soteria-Konzept.
Die Wirkfaktoren von Soteria bilden den Kern der Behandlungsausrichtung und wurden in das ambulant-tagesklinisch-stationäre System übertragen. Hierbei wird der Blick auf die Gestaltung der therapeutischen Beziehung und die Aufrechterhaltung der Beziehungskontinuität gerichtet, d.h. jedem Patienten wird von der Aufnahme bis zur Entlassung ein Persönlicher Therapeutischer Begleiter (PTB) zugeordnet, der ihn während der gesamten Behandlung begleitet. Dadurch gestalten sich die Übergänge zwischen einer stationären, tagesklinischen oder ambulanten Behandlung fließend. Sämtliche Mitarbeiter aus dem Behandlungszentrum können die Rolle eines PTB übernehmen. Die Behandlungen werden individuell für jeden Patienten geplant und auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt. Das Therapieprogramm besteht aus einem Wochenplan mit unterschiedlichen Gruppenangeboten wie z.B. Psychoedukative Gesprächsgruppen, Training emotionaler Kompetenzen, Frauen- und Männergruppen, Progressive Muskelentspannung, verschiedene Suchtgruppenangebote, Ergotherapie, Bewegungstherapie, Yoga, Kunsttherapie und Musiktherapie.


Die Musiktherapie im Behandlungszentrum
Seit Bestehen des Behandlungszentrums ist Musiktherapie fester Bestandteil des Therapieangebots. Ich bin seit 2012 mit einer vollen Stelle im Behandlungszentrum als Musiktherapeutin tätig. Der Musiktherapieraum befindet sich im Altbau direkt über der Institutsambulanz und außerhalb des statio­nären/tagesklinischen Bereichs. Der Raum verfügt über eine Fläche von ca. 36 m2. Acht Personen finden hier genügend Platz, um sich an den Instrumenten auszuprobieren. Wer durch die Tür in den Raum kommt, sieht gleich zur rechten Seite ein großes weißes Regal, in dem unterschiedliche Arten von Instrumenten gelagert werden. Bekannte wie unbekannte und leicht handhabbare Instrumente aus verschiedenen Kulturkreisen sind hier zu finden. Weitere Instrumente verteilen sich im Raum, z.B. Xylophon, akustische Bassgitarre, Klangröhrenspiele, Congas, Cajon, Klavier und Teile eines Schlagzeugs. Durch die großen Fenster an den beiden Außenwänden wirkt der Raum hell und freundlich. Die Musiktherapie findet vorwiegend in Gruppen bis maximal acht Personen und immer vormittags statt. Vereinzelt arbeite ich im Einzelsetting, wenn ein Patient von dem Gruppengeschehen (noch) überfordert ist, aber dennoch von einer Musiktherapie profitieren könnte. In den täglich stattfindenden Team-Besprechungen wird vorher überlegt, ob und in welchem Setting Musiktherapie für einen Patient geeignet ist.
„Ich bin unmusikalisch!“, ist ein Satz, den ich sehr oft zu hören bekomme, wenn Patienten das erste Mal in die Musiktherapie kommen. Für die Teilnahme an der Musiktherapie sind keine musikalischen Vorkenntnisse erforderlich. Ängstlich unsicheren Patienten versichere ich, dass „nichts passiert, was sie nicht wollen“. Um ihnen die Scheu zu nehmen, tasten wir uns im wörtlichen Sinne zu Beginn an die Instrumente heran und sinnieren z.B. über die Herkunft, Materialbeschaffenheit und Klang. Patienten staunen immer wieder darüber, dass sie z.B. der Sansula einzelne Töne oder Melodien entlocken können. Oder sie lassen sich von dem zarten, weichen und glockenähnlichen Klang der Sansula berühren und möchten sie nicht wieder aus der Hand geben.
Dann lade ich die Gruppe zu einer gemeinsamen Improvisation ein. Es hat sich bei Patienten mit psychiatrischen Krankheitsbildern aus meiner Sicht gut bewährt, zu Beginn sehr strukturiert vorzugehen, indem ich z.B. einen rhythmischen oder harmonischen und Halt gebenden Rahmen spiele, in dem frei improvisiert werden kann, sowie der Hinweis, dass jede Improvisation „gefühlte sieben Minuten“ dauert, damit jeder auch die Gewissheit hat, dass die Improvisation ein Ende hat. Eine weitere Vorgabe (in Anlehnung an Lilli Friedemann, einer Pionierin der Gruppenimprovisation) ist, während des Spielens möglichst nicht zu sprechen oder nur so laut zu spielen, dass jeder hörbar ist. Während des gemeinsamen Improvisierens können Harmonie und Getragensein erfahrbar gemacht werden. Depressive Patienten können wieder Zugang zu ihrer Lebendigkeit erlangen und Patienten, die in ihrem bisherigen Leben wenig Halt und viele Unsicherheiten erfahren haben, können in der Musiktherapie einen „sicheren Ort“ finden. Neben der Gruppen- und Einzelmusiktherapie gibt es weitere (offene) musiktherapeutische Angebote wie z.B. die Jamsession, zwei Trommelgruppen und das Heilsame Singen.


Jamsession
Die Jamsession ist ein offenes musiktherapeutisches Angebot für Patienten, die selbst ein Instrument (z.B. Gitarre) spielen oder früher mal gespielt haben und hier die Möglichkeit erhalten, sich mit ihrem Instrument einzubringen. Die Jamsession wird auch von Patienten besucht, die über wenig bis keine instrumentellen Kenntnisse verfügen. Während in der Gruppenmusiktherapie sämtliche Instrumente zur Verfügung stehen, treffe ich hier eine kleine Vorauswahl aus dem mir zur Verfügung stehenden Instrumentarium, die sich aus meiner Sicht für eine Jamsession gut eignen. „Gejammt“ wird im Dur-Moll-System und immer am Freitagvormittag.
Durchschnittlich nehmen sechs bis acht Patienten an der Jamsession teil. Die Gruppe setzt sich zusammen aus ambulanten Patienten, die schon über längere Zeit dabei sind, sowie Patienten aus dem stationären und tagesklinischen Setting. Die Jamsession läuft folgendermaßen ab: Vorab sucht sich jeder ein Instrument aus. Jemand greift sich das Cajon, ein anderer nimmt sich eine Conga. Das Cajon sieht aus wie eine Holzkiste und klingt, wenn man mit den Händen rhythmisch auf die Schlagfläche schlägt, wie ein Schlagzeug. Die Conga ist eine schmalbauchige Fasstrommel. Beide Instrumente stammen aus der Karibik. Ein dritter probiert das pentatonisch klingende Xylophon. Ich selbst spiele Gitarre und beginne mit einer harmonischen Akkordfolge, die sich in diesem Fall an der vorgegebenen Tonart des Xylophons orientiert. Manchmal begleiten mich Patienten auf ihren Gitarren. Vorher zähle ich die Gruppe ein: „one, two, one, two, three, four…“
„Gejammt“ wird über verschiedene Akkordfolgen und altbekannten Popsongs wie z.B. „Let it be“ von den Beatles oder das ein oder andere Lied aus dem Repertoire der Heilsamen Lieder. Ängstliche und depressive Patienten, die sich (noch) nicht trauen, können dabei sein und zuhören. Nicht selten verfliegt die Scheu, wenn sie erleben, wie sich in der Gruppe Lust am Spielen entwickelt und der berühmte „kleine Funke überspringt“ und sie sich vorsichtig und zaghaft mit einer kleinen Rassel trauen, leise im Takt mitzugehen. In der Jamsession hat schon so mancher Patient die Freude am gemeinsamen zwanglosen Musizieren als wichtige Ressource für sich (wieder)entdecken und nutzen können. Für andere ist die Jamsession ein Versuch, sich an das aktive Musizieren heranzuwagen.


Trommelgruppe
Trommelgruppen als eine Form aktiver Musiktherapie finden sich in vielen musiktherapeutischen Angeboten psychiatrischer Kliniken. Trommeln ist (neben dem stimmlichen Ausdruck) eines der ältesten und ursprünglichsten Ausdrucksmittel. Mit Trommeln sind jene Trommeln gemeint, die „Fell und Fläche“ besitzen und mit den Händen bespielt werden. Hierbei fallen die Hände quasi in mehr oder weniger regelmäßigen alternierenden Abständen auf das Trommelfell. Rhythmen können so sinnlich erfahrbar gemacht werden und Halt und Struktur vermitteln. Dies geschieht z.B. durch gemeinsames Trommeln einfacher afrikanischer Rhythmen, sowohl ein- als auch zweistimmig. Freies Improvisieren innerhalb einer vorgegebenen rhythmischen Struktur ist ebenso möglich. Eine weitere Kombination zum Trommeln ist das Singen von Indianerliedern, afrikanischen Liedern und/oder das gleichzeitige Einbeziehen von Klanggesten. Klanggesten (auch „Bodypercussion“ genannt) sind Klänge/Geräusche, die mit dem eigenen Körper mittels der Hände, Füße und Finger erzeugt werden.
Es gibt zwei Trommelgruppen im Behandlungszentrum: eine offene und eine geschlossene Trommelgruppe. Hierfür stehen neun Congas und ein Cajon zur Verfügung. Beide Trommelgruppen finden einmal wöchentlich im Bewegungsraum statt. An der offenen Gruppe kann jeder Patient aus dem stationären, tagesklinischen und ambulanten Kontext teilnehmen. Es gibt Patienten, die nur einmal kurz „reinschnuppern“ und welche, die regelmäßig über einen längeren Zeitraum kommen. Die Gruppengröße variiert zwischen vier bis acht Teilnehmern.
Die geschlossene Trommelgruppe besteht aus insgesamt zehn Teilnehmern. Diese setzen sich zusammen aus vier Mitarbeitern (Musik-, Bewegungstherapeuten und zwei Pflegekräften) und drei ambulanten Patienten sowie drei Teilnehmern, die das Behandlungszentrum nur noch zum Trommeln aufsuchen. Diese Trommelgruppe hatte sich vor einigen Jahren formiert, um gemeinsam anspruchsvolle und mehrstimmige Trommelrhythmen einzustudieren und gelegentlich öffentlich aufzutreten.


Fallvignette
Frau Q. (Name geändert), Ende vierzig, wurde in der Kindheit von ihren Eltern stark vernachlässigt. Sie hat Geowissenschaften studiert, war mit einem Inder verheiratet und lebte einige Jahre in Indien. Die Ehe scheiterte, die Kinder leben beim Vater. In einem psychotischen Schub war sie vor einigen Jahren in suizidaler Absicht aus großer Höhe gesprungen. Sie überlebte schwerverletzt, ist seitdem körperlich sehr eingeschränkt und bewegt sich mit einem Rollator fort. Frau Q. wirkt verhärmt und verbittert, und sie ist schon einige Male im Behandlungszentrum stationär behandelt worden.
Frau Q. kommt das erste Mal in die offene Trommelgruppe. Sie möchte mittrommeln, lässt sich aber nur schwer auf den von mir vorgegebenen Rhythmus ein. Sie wirkt angespannt. Ich nehme innerlich Ärger wahr, blicke in die Runde und habe das Gefühl, dass sie absichtlich „daneben haut“. „Frau Q. möchte mich und die Anwesenden testen, ob wir sie aushalten“, denke ich. Frau Q. äußert, dass sie sich nicht anpassen möchte und es ihr auch schwerfalle, sich anzupassen. Ich melde ihr zurück, dass ich die Art ihres Trommelns wahrnehme, dass es für die restliche Gruppe schwierig sei, den Rhythmus zu halten und dass sie mit entsprechenden Rückmeldungen rechnen muss.
Ich schlage der Gruppe nun vor, gemeinsam ein afrikanisches Lied zu trommeln und zu singen. Frau Q. äußert sogleich, dass sie nicht mitsingen könne, da sie nicht singen kann, was für mich sehr nachvollziehbar ist, da ihre Stimme durch einen Luftröhrenschnitt in Mitleidenschaft gezogen ist. Ich spiele der Gruppe einen leichten Rhythmus vor und stimme dazu das westafrikanische Lied „Yemaja Assessu“ an. Alle Teilnehmer trommeln mit und einige stimmen in das Lied mit ein. Ich vernehme, wie Frau Q. sich traut leise mitzusingen und sich auf den Rhythmus einlässt. Sie wirkt gelöster und ihr Gesicht wirkt weicher. Um sie nicht zu beschämen, spreche ich sie vor der Gruppe nicht auf ihr Mitsingen an. Dann stimme ich das Indianerlied „Heya Nana“ an. Lauter und schneller werdend, langsam und leise wechseln sich ab. Das Lied endet mit einem kraftvollen und lauten Trommelwirbel und mit einem grandiosen „Indianerschrei“. Frau Q. strahlt mit leuchtenden Augen. Sie äußert, das habe ihr unglaublich großen Spaß gemacht. Sie habe endlich mal ihre Aggres­sionen lauslassen können. Es sei so befreiend gewesen.


Heilsames Singen
Singen hat hier eine lange Tradition. Seit Bestehen des Behandlungszen­trums findet einmal wöchentlich das „Singen für alle“ statt. „Singen für alle“ bedeutet, dass sowohl Patienten als auch Mitarbeitende mitsingen können. Geleitet wird dieses Angebot von einer pflegerischen Mitarbeiterin. Gesungen wird immer im Aufenthaltsraum der Tagesklinik. Das Repertoire beinhaltet Popsongs, Schlager und Volkslieder. Das Singen wird von einem der Oberärzte auf dem Klavier begleitet. Bis zu 20 Teilnehmer kommen regelmäßig zum Singen.
Ein weiteres wöchentlich stattfindendes Singangebot ist das „Heilsame Singen“.
Es handelt sich hierbei um ein leistungsfreies („Es gibt keine falschen Töne, nur Variationen“ – Wolfgang Bossinger) und gesundheitsförderndes Singen. Gesund ist dieses Singen deswegen, weil Forschungen auf diesem Gebiet gezeigt haben, dass das Immunsystem durch die vermehrte Bildung von Immunglobulin A gestärkt wird, Herz und Kreislauf auf gesunde Weise stimuliert werden, und das Gehirn und die Organe durch das vertiefte Atmen beim Singen besser mit Sauerstoff versorgt werden. Das Heilsame Singen habe ich in einer Weiterbildung bei dem Dipl.-Musiktherapeuten Wolfgang Bossinger kennengelernt. Das Besondere daran ist das Singen von „Chants“. Der Begriff „Chant“ kann mit „Gesang“ oder „Spirituelles Lied“ übersetzt werden und hat seinen Ursprung in spirituellen und religiösen Traditionen. Hierbei steht die Hingabe an das Singen im Vordergrund. Chants sind in der Regel Lieder aus allen Kulturen. Meistens bestehen sie aus kurzen Texten und eingängigen Melodien, die leicht erlernbar sind und sich gut singen lassen. Das gemeinsame Singen von Chants bewirkt, dass Geist und Seele zu innerer Harmonie und Ruhe finden. Es werden sogenannte Glückshormone wie Serotonin, Noradrenalin und Beta-Endorphine ausgeschüttet. Die Stresshormone Cortisol und Adrenalin werden abgebaut und das Bindungshormon Oxytocin wird vermehrt produziert. Diese Hormonausschüttungen haben außerdem noch eine antidepressive Wirkung.
Das Heilsame Singen stößt bei vielen Patienten auf große Resonanz. Rund 20 Teilnehmer nehmen am wöchentlich stattfindenden Heilsamen Singen teil und sitzen in einem Stuhlkreis im großen Therapieraum. Obwohl ich den Ablauf vorher grob gewas die Gruppe jetzt gerade braucht bzw. was ein Einzelner vielleicht gerade braucht. Passt dieses oder jenes Lied zur augenblicklichen Atmosphäre oder Gruppenkonstellation? In der Regel beginne ich mit erdenden afrikanischen oder indianischen Kraftliedern, spanne einen Bogen zu deutsch- und englischsprachigen Chants mit Texten, die nach innen führen und ende mit dem Chant „Namaste“ von Katrin Grassmann. Die meisten Teilnehmer sind ehemalige Patienten, die schon über einen längeren Zeitraum ambulant zum Heilsamen Singen kommen, weil sie sich von dieser Art des gemeinsamen Singens angesprochen fühlen, weil sie sich von den Liedtexten berühren lassen, weil sie sich erlauben „wieder weich, zart und lebendig werden (zu) dürfen“, um es mit den Worten des Sängers und Pianisten Joachim Goerke aus Lüneburg auszudrücken, und weil sie im Umgang mit sich und den anderen Achtsamkeit und Mitgefühl erfahren. Ich bin immer wieder aufs Neue tief beeindruckt, wenn die Patientengruppe ohne mein Zutun von sich aus aufsteht, sich die Hände reicht und gemeinsam „Namaste“ singt. „Namaste“, eine indische Grußformel, bedeutet sinngemäß übersetzt: „Ich verneige mich vor dem Göttlichen in Dir“. Zum Schluss führen alle die Handinnenflächen zusammen, legen diese an ihr Herz und verbeugen sich. Eine Geste, mit der man seinem Gegenüber seine allergrößte Wertschätzung übermittelt.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von dem Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther: „Singen ist ein wirksames Mittel, um Ohnmacht, Angst und Stress zu überwinden und Selbstwirksamkeit und Selbstheilungskräfte zu stärken.“

Die Autorin:

Catarina Mahnke
Dipl.-Musiktherapeutin (DMtG)
Consultant of Palliative Care (Universität Bremen)
Singleiterin für Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen
Kontakt: catarina.mahnke(at)klinikum-bremen-nord.de

Quellen:

Angaben zur Klinik:

Klinikum Bremen-Nord
Psychiatrisches Behandlungszentrum
Aumunder Heerweg 83/85
28757 Bremen
Tel: (0421)6606-1220
www.gesundheitnord.de

Praxisvorstellung

Musiktherapeutische Praxis in Muttenz/Schweiz

Von Hans Peter Weber

 

Liebe Leserin, lieber Leser,
gerne möchte ich Sie zu einer kleinen Reise einladen, zu einem Ausflug in die Welt der Musiktherapie, konkret: zu einer Phantasie-Reise in meine Praxis und zu meiner Arbeit als Musiktherapeut.
Doch bevor ich Sie dahin begleite, möchte ich mich Ihnen vorstellen: ich bin in Bern aufgewachsen, habe an der Musikakademie Basel Alte Musik und Cembalo studiert und unterrichte daselbst seit fast vierzig Jahren angehende MusikerInnen. Vor sechs Jahren habe ich mein Musiktherapiestu­dium abgeschlossen und arbeite seither in freier Praxis in der Nähe von Basel. Ich bin verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder und mit meinen 61 Jahren glücklicher Großvater zweier Enkelkinder.
Menschen auf ihren ‚Entdeckungsreisen‘ am Instrument begleiten zu dürfen, war schon früh mein inniger Wunsch – und wo die Reise nicht einfach von hier nach dort, nicht nur über sonniges Weideland, sondern auch durch unwegsames Gelände führte: gerade da regte sich in mir jeweils besonderes Interesse, spürte ich viel Geduld und Leidenschaft. Was Wunder also, dass ich schließlich auch noch Musiktherapeut geworden bin!
Treten Sie ein!
Beim Eingangstor unseres Gartens begrüße ich Sie und bitte Sie einzutreten: in meinen hellen, schlicht eingerichteten Arbeitsraum mit seiner Fülle unterschiedlichster Instrumente: Röhrenglocken, Gongs, Trommeln, zwei Monochorden, allerlei kleineren In­strumenten… Ob Ihnen der Anblick eines Musiktherapie-Raumes vertraut oder ob er für Sie neu ist? Wie dem auch sei: nehmen Sie Platz, nehmen Sie sich Zeit anzukommen, auszuatmen, sich umzuschauen.
Allmählich kommen wir ins Gespräch. Ich höre Sie fragen: nach der Gestaltung meines Arbeitsraumes – nach den Instrumenten: wie sie verwendet werden, wozu sie dienen – wie die Musik ist, die hier erklingt – was es denn eigentlich ist, was in der Musiktherapie wirkt – an wen sich mein Angebot richtet, mit welchen Anliegen, Leiden und Krankheiten sich Menschen an mich wenden können.


Arbeitsraum und Instrumente
Bei der Einrichtung meines Arbeitsraumes – der ‚äußeren Hülle‘ für therapeutisches Arbeiten – habe ich da­rauf geachtet, dass er Wärme ausstrahlt, zum Ankommen einlädt, zugleich jedoch weiträumig, offen und freilassend wirkt.
Über die Instrumente könnte ich viel erzählen – doch: haben Sie Lust, einige selber auszuprobieren? Welche locken Sie denn: große, kleine, Schlag-, Zupf-, Melodieinstrumente, das Klavier? Ach so, ja, Sie haben sie nicht spielen gelernt. Nun, das ist hier auch nicht Voraussetzung: Klänge erzeugen können wir auch ohne Spieltechnik im klassischen Sinne. „Aber was bringt das?“, fragen Sie, „bloß Instrumente zu bespielen, heilt doch nicht!“ Stimmt – und Ihre Frage ist wirklich berechtigt (wie oft bin ich das von Patienten gefragt worden). Instrumente sind ‚Werkzeuge‘: Sie ermöglichen Erfahren, musikalisches Tun. Im Tun erweist sich, was hier und jetzt wirkend, was Wirklichkeit ist. Und darin liegt, meiner Erfahrung nach, so viel heilendes Potential: im Wahr-nehmen und bewusstwerdenden Erfahren dessen, was geschieht, im Ge-wahr-werden seiner selbst, des Momentes, der Begegnung!
Doch genug der Worte. Sind Sie bereit, sich auf ein Experiment einzulassen?


Freies Spiel
Sie bejahen – und wählen eine Trommel, ich das Klavier. Wir beginnen zu spielen, tasten uns vor. Vielleicht lassen sie auf der Trommel Ihre Hände tanzen, absichtslos, wie es gerade kommt. Vielleicht kommen Sie in ein pulsierendes Metrum, oder in ein sich wiederholendes rhythmisches Muster. Ihre Rhythmen nehme ich auf, gehe mit – entwickle eigene Rhythmen, mal ähnliche, mal kontrastierende. Melodien und Akkorde spiele ich, mal wohlklingend-harmonische, mal schräge und irritierende…
Wir spüren, dass Momente, da wir aufeinander hören und reagieren, besondere Momente sind. Spiellust beginnt sich einzustellen: wir spielen wirklich, werfen einander ‚musikalische Bälle‘ zu, freuen uns, unsere Lebendigkeit so spontan zum Ausdruck bringen zu können. Beide wissen wir nicht, wo das Experiment hinführt – danach aber fragen wir jetzt nicht: es gibt kein Ziel, nichts zu erreichen. Sich im Spiel, sich im Geben und Nehmen zu erleben, ist Sinn in sich, ist Sinn genug. Geht es doch um das, was vielen Patienten so sehr fehlt: spielend zu achtsam-spontanen Begegnungen zu finden!
Die Musik wird ruhiger – leiser – und klingt schließlich aus.
In der nun eintretenden Stille horchen wir eine Weile nach…
Im Gespräch werden wir uns noch austauschen darüber, was wir erlebt haben, wie wir uns fühlten, wie wir uns jetzt fühlen, wohin das Experiment uns geführt hat.


Meine Arbeitsweisen
‚Freie Improvisation‘ nennen wir Musiktherapeuten das, was wir eben getan haben: Unsere Musik ist aus dem Moment entstanden, hat geklungen, wie sie sich hier und jetzt, in der Begegnung von Ihnen und mir ergeben hat. In anderen Momenten, in anderen Begegnungen kann sie ähnlich oder ganz anders klingen: laut, leise, keck, frech, mutig, vorsichtig, draufgängerisch, ängstlich, scheu, dissonant, harmonisch, streng, geordnet, diffus, verwirrend…
Freie Improvisation ist jedoch nur eine von vielen Methoden, die ich einsetze.
Oft arbeite ich mit sogenannten ‚klingenden Systemen‘: Sie (ich erlaube mir, Sie für einen Moment in die Rolle eines Klienten zu versetzen) beschreiben ein bestimmtes Ereignis, ein inneres Bild, eine Lebenssituation. Stellvertretend für Personen, Gefühle, Situationen wählen Sie Instrumente und platzieren sie, Ihren Vorstellungen und Impulsen folgend, im Raum. Nun gehen Sie (oder gehe ich) von Instrument zu Instrument und bespielen es (oder lassen es schweigen): Sie kommen in Kontakt mit Kräften, welche ‚da‘ im Spiel sind, mit der Dynamik, die Ihr Inneres beherrscht. Eindrücklich, wie wir dadurch anders, oft in ganz neuer Weise mit Wirkendem in Berührung kommen.
Weitere methodische Möglichkeiten ergeben sich dadurch, dass ich für den Klienten spiele. Oder wenn ich ihn bespiele: am großen Monochord, auf das er sich hinlegen, Resonanz spüren, in seine Innenwelt eintauchen kann – in eine Klangwelt allerdings, welche sehr unterschiedlich erlebt und wahrgenommen wird. Wie immer in Musiktherapie ist auch hier entscheidend, dass die Erfahrungen im nachfolgenden Gespräch sorgfältig aufgearbeitet und verantwortungsbewusst in den therapeutischen Prozess integriert werden!


Musik und Imagination
Zunehmend arbeite ich mit einer speziellen Methode von Musik und Imagination (siehe Kasten S. 12). Tief in unser inneres Erleben, unser Wahrnehmen, ins Fühlen und Empfinden, in Tagträume und Phantasien, in offene und verborgene Geheimnisse unserer Seele kann uns fachkundig begleitetes Musikhören führen – in nachhaltiger Weise vermögen uns Imaginations-­Erfahrungen mit uns selber in Kontakt zu bringen.
Ein Beispiel: Vor einiger Zeit hat ein Patient davon berichtet, wie er einen nahen Freund im Sterben begleitet hatte – und wie er sich seither erlebt: sich selbst entfremdet, gefühllos, ohne Trauer, ohne Freude. Von seinem Berichten berührt, fragte ich, ob es eine Musik gebe, die er damals gehört, die ihm Kraft gegeben, ihn vielleicht mit dem verstorbenen Freund verbunden hatte. „Ja“, antwortete er spontan, „diese eine Arie aus Bachs Johannespassion! Wie hieß sie nur schon wieder?“ Zusammen suchten wir nach der Musik – und hörten sie schließlich gemeinsam an. Die Musik berührte ihn sehr. Etwas öffnete, veränderte sich. Ganz anfänglich kam er wieder in Kontakt mit seinen Gefühlen. In einer späteren Stunde hörten wir die Arie wieder: nun aber – und das ist entscheidend – mit gleichzeitigem, begleitendem Gespräch. Nochmals anders, differenzierter und tiefer kam er in Berührung mit seinem Erleben, konnte sich, von der Musik gehalten und gefordert, auf seine schwierigen Gefühle einlassen, wieder fühlen, Erkenntnisse gewinnen.


Mein Angebot
Mein musiktherapeutisches Angebot richtet sich an erwachsene Menschen jeden Alters, die in ihrem Erleben und Erleiden, in ihrer Lebensführung, in der Begegnung mit sich und mit Anderen sowie mit ihren existentiellen Fragen Begleitung suchen. Wie oft ringen wir Menschen mit leidvollen Erfahrungen von Verletztsein, von Nichtverstandenfühlen. Wer an Selbstentfremdung, am Verlust von Sinnhaftigkeit und Lebensfreude leidet, braucht einen geschützten Raum: einen Raum des Vertrauens, des Seindürfens, der Resonanz, einen Raum, wo leidvollen Erfahrungen begegnet, seelische Berührung zugelassen werden kann. Wo stummes Leiden und Sprachlosigkeit, wo Un-Erhörtes unsere Lebendigkeit hindert, kann Musik berühren, bewegen, öffnen, Potentiale aufdecken, Leiden bewältigen helfen. Im Grunde geht es darum, hören und horchen zu lernen: auf uns selber, aufeinander, auf die Musik. Menschen darin zu begleiten, ihnen zuzuhören, ihnen im Rahmen meiner Möglichkeiten zu antworten, sehe ich als meine Hauptaufgabe. Für mich als Therapeuten setzt sie fortwährendes eigenes Üben voraus.
Mein Angebot ist psychotherapeutisch orientiert (wobei ich mich der Jung’schen und der Initiatischen Therapie nach Dürckheim besonders verbunden fühle). In Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten begleite ich insbesondere auch KlientInnen in der Zeit nach ihrem Aufenthalt in einer psychiatrischen oder psychosomatischen Klinik (in der Schweiz mit Kassen-Anerkennung im Rahmen der Zusatzversicherung). Zurzeit arbeite ich ausschließlich im Einzelsetting – Gruppen-Angebote werden später dazukommen.


Abschied
Ihr Besuch geht dem Ende entgegen. Gerne möchte ich Ihnen etwas mitgeben, ein Zitat von Gertrud Katja Loos, einer Pionierin der Musiktherapie:
„Musiktherapie weckt nicht nur düstere Anklänge und leidvolle Klagen; sie bringt auch alte Kraft, verschüttete Lust, Lachen, Mut zur Sehnsucht und Wagnis zur Zärtlichkeit hervor.“
Wie wunderbar, wenn in tiefer Not, in schwierigen Situationen, im Beschäftigen mit unlösbar scheinenden Konflikten auf einmal ‚Neues‘ aufbricht, innere Berührung geschieht! Sehr kostbar sind solche Momente: sie ermutigen uns, weiter zu gehen, weiter zu wagen, innerstem Spüren und ‚Wissen‘ zu vertrauen.
Nun verabschiede ich mich in der Hoffnung, dass Ihnen der Besuch in meinem äußeren Raum auch ein wenig Einblick geben konnte in innere Räume, welche Musik und Musiktherapie in uns Menschen immer wieder zu öffnen vermögen.

 

Der Autor:

Prof. Hans Peter Weber
Musiker – Musikpädagoge – Musiktherapeut
Dozent für Gehörbildung, Generalbass und Cembalo an der Fachhochschule Nordwestschweiz
Musiktherapeut in freier Praxis
www.emindex.ch/hans.peter.weber
Weiterbildung in ‚Guided Imagery and Music‘
Praxis-Adresse: Andlauerstrasse 2, CH-4132 Muttenz
hanspeweber(at)gmail.com

 

Schwerpunktthema

Musik und Sprache sind Schwestern

Von Rosemarie Tüpker

 

„Ich singe, was ich nicht sagen kann.“ Diesen Satz hörte ich einmal einen meiner Klienten außerhalb der Therapiesitzung vor sich hin singen. Das ist lange her und spielte sich an meiner ersten musiktherapeutischen Arbeitsstelle in einem Jugendheim in Wuppertal ab. Nicht, dass der damals 20-Jährige im engeren Sinne mutistisch gewesen wäre. Er konnte „ganz normal“ sprechen. Aber wenn er sprach, so drehte er sich zwischen Selbstansprüchen und einem negativen Bild von sich selbst im Kreis, bis nichts mehr ging. Sein Reden wirkte dadurch trotz seines jugendlichen Alters alt und unlebendig. Und deshalb hörte ihm auch kaum jemand in seiner Umgebung zu. Umso lebendiger war seine Musik – und das von Anfang an. In dem Protokoll der ersten Stunde mit ihm notierte ich mir: „Er redet wie ein Buchhalter und spielt wie ein junger Gott.“ Von sich konnte er in einem erschreckenden Ausmaß nicht sprechen. Später in der zweijährigen Therapie fing er dann tatsächlich an von sich zu singen und später auch zu sprechen: von seinen Gefühlen, seinen Ängsten und seiner Not, von seiner Kindheit im Heim und der fehlenden Mutter. In einer teilweise poetisch anmutenden Sprache sang er spontan, von mir am Klavier begleitet, von dem, was bisher gänzlich ohne Sprache geblieben war: „Ich war so still, dass ich mich selbst nicht mehr anschauen konnte“, war einer der ‚merk-würdigen‘ Sätze in seinem ersten langen Gesang in der 36. Stunde der Musiktherapie (vgl. Fallbericht in Tüpker 1988/2013, S. 110–209).
Musik und Sprache
in den Märchen
Seit dieser Zeit begleitet mich der vielschichtige Zusammenhang zwischen Musik und Sprache in immer neuen Variationen. Sie erscheinen mir dabei immer mehr wie Schwestern: Manchmal rivalisierend, z.B. darum, wer in der Musiktherapie die wichtigere sei, meist aber doch in einem vertrauten und förderlichen Zusammenwirken. In den europäischen Volksmärchen erscheinen sie manchmal fast wie Zwillinge: Ein Instrument wird gebaut, erklingt, und es erzählt zugleich etwas in Worten:
„Eines Tages schnitt sich ein Hirte ein Schilfrohr ab, um eine Flöte daraus zu machen; und als er sie fertig hatte und darauf blies, vernahm er zu seiner großen Verwunderung, dass sie sprach:
»Hirte, kleiner Hirte, du spielst auf mir,
sie haben mich getötet am Fluß Arenes hier,
wegen der Distelblüte für Vaters Bein,
das ihm Schmerzen macht und viel Pein.«“
(Aus dem Märchen „Die Distelblüte“, zit. nach Tüpker 2011, 255.)
Musik kommt in den Märchen in verschiedenen typisierbaren Bedeutungszusammenhängen vor. Einer davon ist der, dass Musik etwas in der Erinnerung bewahren kann und es dann – meist Jahre später – mithilfe eines Musikers zur Sprache bringt. In dem tschechischen Märchen „Die singende Geige“ zum Beispiel stürzen zwei eifersüchtige Schwestern die jüngste Schwester in mörderischer Absicht eine Klippe hinunter. Die Suche nach der Verschwundenen bleibt vergeblich, die Tat unerkannt und ungesühnt. Im tödlichen Sturz aber riss das Mädchen einen Wacholderzweig mit sich, der Wurzeln schlug und zu einem stattlichen Baum heranwuchs, „und wenn der Wind durch die Zweige wehte, ertönten seltsame, klagende Laute, der Klage einer Geige ähnlich …“ Ein junger Roma hört nun diese Klänge, und weil er gerade seine Geige verloren hat, schnitzt er sich aus dem klingenden Wacholderholz eine neue. Zunächst im Traum – dann auch in Wirklichkeit – spielt diese Geige ganz von selbst und singt in ihren Tönen von dem längst vergessen geglaubten Verbrechen.
Viele Märchen erzählen solche Geschichten, in denen singende Instrumente oder auch Tiere Verlorenes oder Verborgenes künden. Nicht immer geht es so gut aus wie hier, wo die Getötete schließlich aus der vom Roma gespielten und dann auf ihr Geheiß hin zerschlagenen Geige wieder neu entspringt (vgl. Tüpker 2011, S. 251–263).
Musik als Hüterin der Erinnerung spielt auch in der Arbeit mit alten und dementen Menschen eine wichtige Rolle und die musikalische Erinnerung erscheint dort oft ebenso unzerstörbar wie in den Märchen. Es ist eine der Quellen der Musiktherapie, dass das, was vor und jenseits der Sprache verinnerlicht und bewahrt wurde, durch Musik wiederbelebt werden kann. In der Arbeit mit alten Menschen ist es – wie in den Märchen – oft die innige Verbindung von Musik und Sprache im Lied, welche unbehelligt von kog­nitiven Einschränkungen frisch und „mit allen Strophen“ aus den Tiefen der Erinnerung wieder auftaucht. Wie in den Märchen bedarf es dazu aber eines musikalischen Helfers, der die Erinnerung durch das Anstimmen des Liedes wieder auftauchen lässt und der gewillt ist zu hören, was erzählt werden will. Manchmal aber ist es auch ein Klang ohne Worte, ein Rhythmus, das Zusammenspiel von Therapeut und Patient, welches frühe Erinnerungen weckt oder die Situation am Ende des Lebens gestalten hilft (vgl. von Hodenberg 2013). So wie im Lied das Vorhandensein der Worte selbstverständlich ist, so ist es auch die Musik in der gesprochenen Sprache. Die Musiktherapeutin Friederike von Hodenberg betont in ihren eindrucksvollen Beschreibungen einer solchen Arbeit, wie wichtig die stimmliche, also musikalische Gestaltung auch beim Vortrag von Gedichten oder beim Vorlesen sein kann.
Musik in der Sprache
Sprache hat die ganze Palette der musikalischen Parameter in sich aufgenommen: Nicht nur Melodik, Metrik und Rhythmik, Tempo und Dynamik, sondern ebenso Klangfarbe, Harmonik und Form lassen sich bei genauerem Hinsehen auch in der Sprache aufzeigen. Deshalb lohnt es sich auch für die „nur sprechenden“ Therapeuten, auf die Musik im therapeutischen Dialog zu achten, auf das Fließen und Stocken, die Betonungen und Pausen, das Laute im Vordergrund und die leise mitschwingenden Töne im Hintergrund. Das hilft, die emotionale Färbung des Gesagten mit aufzunehmen. Und weil Musik mehrstimmig sein kann, kann ein musikalisches Zuhören zugleich auf das hören, was im Therapeuten mitschwingt und anklingt, während der Patient spricht. Dieser Zusammenklang kann harmonisch sein oder dissonant. Das wahrzunehmen kann dabei helfen, neben der semantischen Bedeutung des Gesprochenen die Beziehung nicht aus dem Auge zu verlieren.
Durch Musik zur Sprache
kommen
Musik ist die ältere der beiden Schwestern und sie kann der jüngeren Sprache helfen, zur Welt zu kommen und ihren Part mitzuspielen (vgl. Keller 2013). Um ein solches Mitspielen-Können, auch mit den Möglichkeiten, sich sprachlich auszudrücken und von sich erzählen zu können, geht es in dem Projekt „Durch Musik zur Sprache“, welches wir 2007 an der Uni Münster begonnen haben. In diesem Jahr gingen die erschreckenden Ergebnisse zur Sprachentwicklung von Kindern im Vorschulalter durch die Medien: Nur 57 % der Kinder verfügten demnach über eine altersgemäße Sprachentwicklung und ausreichende Deutschkenntnisse. Auch wenn diese Zahlen später revidiert wurden, blieb bei der näheren Beschäftigung damit die Frage, was aus Kindern wird, die schon so früh im Rückstand sind mit der Möglichkeit, sich sprachlich auszudrücken. Wie fühlen sie sich in der Welt, mit den anderen Kindern, mit den Erwachsenen? Wohin gehen die Affekte, wenn sie nicht sagen können, was sie brauchen, was sie wünschen und was sie nicht leiden mögen? Wie geht das dann weiter, wenn sie in die Schule kommen? Solche Fragen waren Anlass, sich zusammenzutun und darüber nachzudenken, wie unsere Mittel aus der Musiktherapie hier helfen könnten. Herausgekommen ist dabei ein musiktherapeutisches Konzept zur ganzheitlichen Förderung von Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter (Tüpker 2009). Sowohl der Kontakt mit Erzieherinnen als auch die Analyse der ersten sieben durchgeführten Gruppen bestätigten die Vermutung, dass der Sprachrückstand meist nur ein Symp­tom ist für umfassende soziale und psychologische Probleme der Kinder (vgl. Keller 2013, 170f.). Kinder, die unter erschwerten Bedingungen aufwachsen, sei es nun aufgrund der noch nicht lange genug zurückliegenden Migration der Familie oder aufgrund sozialer oder psychischer Probleme der Eltern. Kinder, die eine große Bedürftigkeit und einen Nachholbedarf zeigen, weil sie vielleicht etwas Ähnliches erleben wie das, was Muriel Barbery in dem Buch „Die Eleganz des Igels“ so beschreibt: „Bei uns zu Hause wurde nicht geredet. Die Kinder schrien, und die Erwachsenen gingen ihren Beschäftigungen nach, wie sie es in der Einsamkeit getan hätten. Wir aßen uns satt, wenn die Kost auch einfach war, wir wurden nicht mißhandelt, und unsere Armeleutekleider waren sauber, so daß wir, mochten wir uns ihrer auch schämen, nicht unter der Kälte litten. Aber wir sprachen nicht miteinander“ (zit. nach Tüpker 2009, 8).
Kern des Konzeptes ist daher auch die therapeutische Haltung, mit der versucht wird, dreierlei in ein Gleichgewicht zu bringen: die Entwicklungsaufgaben des einzelnen Kindes, die Gruppe als Raum zur Entwicklung sozialer Kompetenzen und die Zielsetzung einer Förderung der Sprachentwicklung durch Musik. Und obwohl es sich meist um kleine Gruppen von nur vier bis sechs Kindern handelt, ist das nicht immer leicht. Eine große emotio­nale Bedürftigkeit und das Verlangen nach Aufmerksamkeit und Zuwendung einzelner Kinder, archaisch anmutendes Erleben oder aggressiv-expansives Verhalten verlangen ein hohes Maß an persönlichem Geschick der Anleiter und Anleiterinnen solcher Gruppen. Das methodische Vorgehen verbindet musikpädagogische und musiktherapeutische Erfahrungen und ist durch eine besondere Flexibilität gekennzeichnet. So gibt es kein fertiges Programm, keinen vorgegebenen Ablauf und auch keinen außerhalb der Kinder selbst liegenden Leistungsdruck, etwa den, musikalisch etwas erreichen zu wollen. Vielmehr steht ein reiches Spielerepertoire zur Verfügung, aus dem der Anbieter einer solchen Gruppe frei wählen kann, je nachdem, was diese spezielle Gruppe braucht. Das führt dazu, dass die Gruppen sehr unterschiedliche Abläufe entwickeln, die sich dann aber oft über lange Zeit erhalten, die Halt geben und die die Grundlage für die Entwicklung der Gruppe und der Einzelnen bilden (vgl. Keller 2013, 148ff.). Es geht nicht darum, möglichst viele Spiele „durchzunehmen“, sondern die bevorzugten und dann oft wiederholten Spiele erweisen sich als das, was die Gruppe und die Einzelnen brauchen, um einen sicheren Ort entstehen zu lassen und von da aus voranzukommen. Grenzen müssen gesetzt werden, damit darin überhaupt erst einmal ein Spielraum entstehen kann. Durch Kontinuität und eine sichere Haltung des Therapeuten bildet sich eine Gruppenidentität, die sich festigen kann und dann Reifungs- und Entwicklungsprozesse zulässt, die vorher nicht möglich gewesen wären. Auch wenn die Förderung der Sprachentwicklung den Rahmen der meist einjährigen Gruppenprojekte bildet, sind die „Behandlungsaufträge“ der Kinder oft sehr viel grundsätzlicher: Da geht es darum, Raum einnehmen und im Mittelpunkt stehen zu dürfen, zur Ruhe zu kommen, sich als Urheber erleben zu können und vor allem gehört, verstanden und anerkannt zu werden (ebd. 161ff.). Die Evaluation des ersten Projektes durch die Dissertation von Barbara Keller zeigte auch quantitativ einige signifikante Verbesserungen im Hinblick auf die sprachlichen Defizite (ebd. 140–147, 245). Eindrucksvoller waren aber die Verbesserungen in den „Soft Skills“ und der emotionalen Entwicklung, so z.B. im Bereich der Selbstbehauptung und Stressregulation (ebd.) und die qualitativen Schilderungen der Entwicklungen der Gruppen wie auch einzelner Kinder: So etwa der Bericht über die aufsässige kleine Selma, die immer so laut schreit, dass sie schon an einer chronischen Heiserkeit leidet und kaum zu ertragen ist. Sie will als Person gehört werden, und erst als der Therapeut ihre Schutzbedürftigkeit versteht und dabei hilft, dass sie sich auch zurückziehen kann, wenn sie das braucht, nehmen das Schreien und die Heiserkeit ab und sie kann ihre verletzlichen und zarten Seiten zeigen (ebd. 223ff.).
Umgekehrt ist es bei Ali, der sich sprachlich wie auch musikalisch nur wenig äußert. Er kümmert sich um andere, droht aber selbst unterzugehen. Mithilfe der wiederholten Spiele, hier insbesondere dem Spiel des Wasserkönigs (Tüpker 2009, 65), und weil die Therapeutin den Kindern dabei hilft, auch über ihre persönlichen Gefühle untereinander zu sprechen, kann er mutiger und kontaktfreudiger werden. Das äußert sich dann auch darin, dass Explorationsfreude, Aufgabenorientierung und die Fähigkeit zur Selbststeuerung am Ende der Zeit (auch messbar) zugenommen haben. Zusammen mit seinem mitgebrachten umsorgenden Verhalten ist das eine gute Mitgift für den Schulbeginn, der für ihn zum Ende der einjährigen Gruppenphase ansteht (Keller 2013, 239ff.). Auch Lisa soll bald in die Schule kommen, hat aber große Hemmungen in einer Gruppe zu sprechen, spricht leise und schwer verständlich. In der Musik aber hat sie diese Hemmung überraschenderweise nicht, kann es genießen, auch mal im Mittelpunkt zu stehen und sich musikalisch auszudrücken. Schnell beginnt sie die besonderen Möglichkeiten des Projekts für sich zu nutzen: „In den Spielen findet sie das, was sie braucht. Der Wasserkönig gibt ihr Gelegenheit, zunächst abzutauchen, ihren Mut zu sammeln und dann ihren Emotionen ungefiltert und ungehemmt freien Lauf zu lassen; diese werden gehört, verstanden und respektiert (ebd. 238).“ So kann sie nach und nach im Schutzraum der Gruppe durch die Musik ihre Sprache finden. Sie beginnt von sich aus mehr zu reden, auch über private Dinge und ist mit großem Eifer dabei. Ihre im Grunde vorhandene Sprachkompetenz kann sie nun auch zeigen und nutzen.
In der einjährigen Projektphase wurden die Gruppen ausschließlich mit Kindern im Kita- und Vorschul­alter durchgeführt. Erika Menebröcker erprobte das Konzept in einer Grundschule und es zeigte sich, dass auch diese Altersgruppe sehr von einer solchen Arbeit profitieren kann, insbesondere die stillen Kinder, die sonst in den immer noch zu großen Klassen einfach untergehen. Durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ersten Weiterbildung weiteten sich die Anwendungsfelder noch einmal aus. Die Weiterbildung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster beinhaltete die Durchführung eines eigenen Projekts, welches am Ende der einjährigen Zusammenarbeit präsentiert wurde. Vorgestellt wurden neben Projekten in Kitas und Familienbildungsstätten Projekte mit Schulkindern bis hin zur sechsten Klasse, Kindern in einem Kinderheim, einer Einrichtung der Jugendhilfe und einer Rehabilitationsklinik für Kinder mit Kommunikationsstörungen. Die freie Auswahl aus dem Spielerepertoire wie auch die flexibel angepasste Haltung der Therapeutinnen und Therapeuten scheinen eine solche Ausweitung möglich und eine sinnvolle Arbeit auch mit größeren Kindern und in verschiedenen Zusammenhängen umsetzbar zu machen. Immer gibt es aufgrund der Auswahl entlang des Merkmals „Sprachdefizite“ einen hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund. Dabei beginnt die Arbeit bei größeren Kindern natürlich auf einem altersgemäß verschobenen Stand. Die Gründe für sprachliche Defizite sind teilweise die gleichen, teilweise hängen sie mit den weiteren sozialen Erfahrungen, etwa im Klassenverband, zusammen. Immer aber geht es darum, einen sicheren Ort zu erleben, gehört, anerkannt und verstanden zu werden, um Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit, um die Regulation der eigenen Wünsche und Bedürfnisse im Zusammensein mit anderen, und darum, eine positive(re) Gruppenerfahrung zu machen.
Und auch wenn die Ursprungsidee nicht an Kinder mit klinisch relevanten Sprachstörungen gerichtet war, erprobte eine Teilnehmerin das Konzept erfolgreich mit einer Gruppe selektiv mutistischer Kinder mit teilweise schweren familiären Belastungen. Nach der Überwindung der Probleme, einen sicheren therapeutischen Rahmen zu schaffen, bot der hohe Aufforderungscharakter der Instrumente die Möglichkeit, sich erst einmal musikalisch zu verständigen und die „anspruchslose“ Haltung der Therapeutin ermöglichte den fünf Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren überraschend schnell den (Wieder-)Einstieg ins Sprechen.
Die Schwestern Musik und Sprache erweisen sich als ein wirksames Gespann unter der Voraussetzung, dass sie mit einer dritten zusammengespannt werden: einer therapeutischen Haltung, die eine Mitte findet zwischen der notwendigen Rahmensetzung für einen sicheren „Spielort“ und dem Vertrauen darin, dass die Kinder selbst „wissen“, wie sie die Musik, den Therapeuten und die Gruppe nutzen können, um zur Sprache zu kommen. Eine Teilnehmerin, die weiß, wovon sie spricht, formulierte diese Dritte im Bunde in ihrer Abschlusspräsentation so: „Ziel dieser therapeutischen Haltung ist es, das Selbstvertrauen der Kinder aufzubauen, ihr Wissen zu stärken: »Ich habe meinen Platz auf dieser Erde«, und das ist die Voraussetzung dafür, dass sich Kinder mitteilen können und wollen.“

 

Literatur
Keller, Barbara (2013): Zur Sprache kommen: Konzeptualisierung und Evaluierung eines musiktherapeutischen Förder­angebotes. Norderstedt: BoD.
Tüpker, Rosemarie (1988): Ich singe, was ich nicht sagen kann. Zu einer morphologischen Grundlegung der Musiktherapie. 3. aktualisierte Aufl. 2013: Norderstedt: BoD.
Tüpker, Rosemarie (2009): Durch Musik zur Sprache. Handbuch. Norderstedt: BoD.
Tüpker, Rosemarie (2011): Musik im Märchen. Wiesbaden: Reichert Verlag.
von Hodenberg, Friederike (2013): Jedes Wort ein Klang: Die Stimme an den Grenzen des Lebens. Tagebuch einer Musiktherapeutin. Wiesbaden: Reichert Verlag.

Ausbildung

Staatlicher Studiengang Münster

Von Britta Sperling

 

1. Nennen Sie bitte Inhalte Ihres Studiums, die Sie für Ihre Praxis für effizient halten?
die tiefenpsychologisch orientierte Grundhaltung in der Begegnung mit meinen Patienten
der hohe Anteil an Selbsterfahrung zur Verknüpfung von fachlichen Inhalten parallel zur biographie- und selbstbezogener Reifung in Richtung einer „Therapeutenpersönlichkeit“/Berufs­identität
auf instrumentaler/„handwerklicher“ Ebene der Improvisations-­unterricht, in dem ein flexibler Umgang mit diversem Instrumentarium eröffnet und erprobt wird, sowie die Entwicklung eines „Methodenköfferchen“ zum Thema „freie Improvisation“ und Gestaltung von therapeutischen Einzel- und Gruppensettings stattfindet
die praxisorientierten Seminare, welche einen breiten Einblick in die Vielzahl der Anwendungsfelder ermöglichen z.B. Musiktherapie mit alten Menschen, Musiktherapie in der Psychiatrie, Musiktherapie in der Psychosomatik, Musiktherapie in der Neurologie u.v.m.
die Musiktherapeutischen Praktika


2. Welche Ausbildungsinhalte erfahren Sie dabei für sich selbst am wertvollsten?
Da meine Vorbildung als Psychologin sehr verhaltenspsychologisch/therapeutisch orientiert war, empfand ich die tiefenpsychologische Ausrichtung des Studiengangs zunächst als fremd, später als bereichernde Blickwinkelerweiterung und heute (als tätige Musiktherapeutin) als absolut unverzichtbare Grundhaltung im Umgang mit den unterschiedlichsten Patienten. Konkret gibt es einige theoretische Konzeptionen (s.u.), welche sich vor allem in Aspekten der Beziehungsgestaltung darstellen und so versteh- und reflektierbar werden (z.B. Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse). Dabei bot das Studium stets eine Offenheit für die Einnahme verschiedener Perspektiven, Vernetzung von bereits erworbenem und neuem Wissen und die Ausbildung eines eigenen (eklektischen und integrativen) Therapieansatzes. Die vermittelten Inhalte wurden dabei nicht als „absolutistische Wahrheiten“ transportiert, sondern ermöglichten den Studierenden allzeit eine kritische Auseinandersetzung, die nicht nur zu einer fachlichen Entwicklung, sondern ebenso zu einer persönlich-berufsbezogenen Reifung beitrugen.


3. Würden Sie sich zurückblickend zusätzlich noch weitere Inhalte wünschen, die Ihnen momentan eventuell fehlen?
Es gibt eine sehr intensive Zusammenarbeit mit dem medizinischen Fachbereich, die den Studenten einen wirklich intensiven Einblick in medizinische Themenfelder (Grundlagenwissen, aber auch spezifische Anwendungsfelder wie z.B. Schmerztherapie o.ä.) gibt. Der stärkere Einbezug therapiespezifischer Inhalte (z.B. verhaltens-therapeutische Standardverfahren, Grundlagen diagnostischer Testverfahren o.ä.) in Kooperation mit den psychologischen Fachbereichen wäre sicherlich für viele Studierende eine Bereicherung. Anzumerken ist, dass man natürlich als Student an der WWU unabhängig vom Lehrplan jederzeit Vorlesungsveranstaltungen anderer Fachbereiche besuchen kann. In der Praxis hat man es mit multiprofessionellen Mitarbeitern zu tun. In der Vorbereitung auf die spätere kollegiale Zusammenarbeit ist es auch ein Teil interdisziplinärer Akzeptanz und Anerkennung zu wissen, was der jeweils andere tut. Dies ist etwas, was ich mir als Musiktherapeutin ebenso von Kollegen aus anderen Fachbereichen wünsche.


4. Welche Inhalte haben Sie zwar bereits in der Ausbildung kennengelernt, konnten diese aber nicht in Ihre Praxis übertragen?
Natürlich spielen in meinem praktischen Berufsalltag wissenschaftstheo­retische Aspekte keine große Rolle. Forschungsrelevante Themen und empirische Grundlagen sind aber ein wesentlicher Aspekt in der akademischen Ausbildung und für die Weiterentwicklung, Etablierung und Anerkennung eines Fachbereiches fundamental. Um im fachlichen Austausch und Dialog zu bleiben, ist es relevant, aktuelle Studienergebnisse zu verstehen und einordnen zu können. Vielleicht wird man nach einigen Jahren Berufserfahrung Beiträge in Fachzeitschriften veröffentlichen oder in sonstige Forschungsaktivitäten eingebunden sein. Spätestens dann bekommt dieser Teil der wissenschaftlichen Ausbildung eine persönliche Aktualität.


5. Welche Methoden, Ansätze oder Konzepte der Musiktherapie stehen in Ihrer beruflichen Praxis im Mittelpunkt?
freie und teilstrukturierte Improvisationen: Verfahren zum Verstehen und Verarbeiten musiktherapeutischer Improvisation (morphologische Musiktherapie: Beschreibungen mittels Tonaufnahme der Improvisation; Bilder, Assoziationen, Einfälle)
tiefenpsychologische Theorien und Ansätze: Entwicklungstheorie nach Stern, Selbst- u. Objektbeziehungstheorien (z.B. Kohut, Klein, Balint); Konzept des Containing, Negative Capability und Reverie (Bion, W.R.), Konzept der Holding Function und des intermediären Raumes (Winnicott, D.W.), Konzept der projektiven Identifikation (Klein, M.)
in der Gruppenarbeit mit alten und demenziell erkrankten Menschen: vor allem atmosphärisches Arbeiten mittels altem Liedgut; biographie- und erinnerungsbezogenes Arbeiten (Validationsprinzip, Naomi Feil)


6. Welche arbeitsrechtlichen Inhalte fehlten Ihnen besonders auf die Musiktherapie bezogen?
In meiner derzeitigen Situation als Freiberuflerin fühle ich mich durch die Einbindung in das Netzwerk mit den Kollegen von Musik auf Rädern und durch die Mitgliedschaft im Berufsverband gut informiert. Schon während des Studiums gab es eine enge Kooperation und guten Kontakt zum Unternehmen, so dass aufkommende Fragen auch mit den bereits tätigen Kollegen besprochen werden konnten. Die Studiengangsleitung steht für alle Jahrgänge und in jeder Phase der Ausbildung mit einem umfassenden Wissen und langjähriger Erfahrung als Begleiterin und Ansprechpartnerin zur Verfügung. Ich fühlte und fühle mich zu jederzeit gut unterstützt und beraten.


7. Welche Störungsbilder und Formen der Behinderung haben Sie während des Studiums kennengelernt? Welche fehlen Ihnen?
Aufgrund der sehr engen Kooperation mit den medizinischen Fachbereichen gibt es eine umfassende und intensive Grundausbildung in den Bereichen Psychopathologie für den Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Erwachsenenpsychiatrie, Psychosomatik, sowie physiologische und neurologische Krankheitslehre (z.B. demenzielle Erkrankungen, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Epilepsie u.v.m.). Institutsintern und spezifisch musiktherapeutische Seminare gab es hierzu: Musiktherapie mit Menschen mit Behinderung, Musiktherapie in der Psychiatrie, Musiktherapie in der Psychosomatik, Musiktherapie in der Neurologie – in allen Seminaren arbeiteten wir mit Musiktherapeuten aus der Praxis, die uns einen tiefen Einblick (auch vor Ort, z.B. mit einem Besuch einer Station für Wachkomapatienten) in ihre Arbeit boten. Des Weiteren fanden natürlich viele Patientenkontakte in den Praktika statt. In diesem Zusammenhang machte ich persönlich die Erfahrung, unterschiedlichste schwer- und schwerstbehinderte Kinder bei meiner Arbeit auf einer Kinderpalliativstation und kinder- und jugendpsychiatrische Störungen während eines Praktikums in der Kinder und Jugendpsychosomatik kennenzulernen. Wenig Kontakt habe ich bisher mit den Themen Sucht (auch Essstörungen) und mit onkologischen Erkrankungen gemacht, was aber nicht an mangelndem Angebot innerhalb der Studiums liegt, sondern in erster Linie an persönlicher Schwerpunktsetzung. So bietet die wirklich umfassende Grundlagenausbildung (bei der ich nichts vermisst habe) die Möglichkeit, individuelle Interessen in Form von studienbegleitenden Praktika zu vertiefen.


8. Welche Berufsbezeichnung benutzen Sie (Musiktherapeut/ggf. und/oder Ihren Grundberuf)?
Diplom Psychologin
Musiktherapeutin (Master of Arts)
Psychotherapie (HP)


9. Welche Berufsidentität hatten Sie mit Abschluss des Studiums eingenommen?
Nach dem Psychologiestudium war es für mich klar, eine therapeutische Weiterbildung anzustreben. Dass ich für die zukünftigen Begegnungen mit meinen Patienten das Medium Musik wählte, ergab sich sozusagen „von Haus aus“. Meine Erfahrung ist, dass die Entscheidung für diesen Beruf schon „per se“ tief mit der Identität der jeweiligen Person verbunden ist. Der Entscheidung für diesen Beruf liegen meist langjährige und biographiebezogene Erfahrungen zugrunde, dass Musik etwas „Magisches“ sein kann, etwas, das über das rein gesprochene Wort hinausgeht und vor allem etwas, das dem emotionalen Erleben zutiefst zugänglich ist. So verspürte ich vom ersten Tag der Ausbildung an ein hohes Maß an Authentizität und Zugehörigkeit. Es gab keine Unsicherheiten, dass die Kombination aus psychologischen, kreativen und therapierelevanten Fähigkeiten in diesem Beruf eine ideale Vernetzung erfährt. Das Studium verankerte im Grunde die bereits vorhandene Vorerfahrung mit dem Ausbau zusätzlichen Fachwissens. Für mich war das eine Art Brückenschlag für die wirkliche Arbeit am Patienten und den Schritt in die Praxis. Neben der Ausbildung einer berufsbezogenen Grundhaltung (Wie ist mein Umgang mit Menschen? Wie begegne ich schwerkranken und hilfsbedürftigen Menschen? Wo sind meine eigenen Grenzen? Was bedeutet für mich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit? Wie gehe ich in diesem Zusammenhang mit auftauchenden Konflikten um?) entwickelte sich dabei ein gewisser Anspruch an die Qualität der Methode. Hierzu zählte vor allem die Auseinandersetzung mit der Frage, welchen wissenschaftlichen Beitrag das Fach zum wachsenden Verstehen von musikbezogenen Wirkungsprozessen beim Patienten liefern kann.


10. Welche ist es jetzt?
Die zuvor beschriebenen Aspekte der Identitätsentwicklung gehen seit meiner praktischen Tätigkeit mit der Erfahrung einher, dass der Aufbau von individuellen therapeutischen Beziehungen der Kernmotor von Entwicklungsprozessen in der Arbeit mit den Patienten ist. Besonders in der Arbeit mit chronisch psychiatrischen Patienten ist die Stabilität und uneingeschränkte Zuverlässigkeit im Therapeutenverhalten entscheidend (Objektkonstanz). Ich verstehe mich gerade in dieser Arbeit als strukturschaffenden Faktor. Die Rolle der Musik kann in den individuellen Sitzungen völlig unterschiedlich sein. Ich werde jeden Tag aufs Neue in meinem kreativen Umgang mit den verschiedensten Beziehungssituationen gefordert. Dabei treffen die (vielleicht idealisierten) Vorstellungen nach dem Studium auf unmittelbare Erfahrungen/„Realitäten“ des Alltags (Das können zum Beispiel Fragen zum Therapieerfolg sein – wann kann ich in einem therapeutischen Prozess von „Erfolg“ sprechen? In welchem Maße hat mein professionelles Therapeutenverhalten zu diesem so genannten Erfolg beigetragen? Oder ganz pragmatische Settingfaktoren betreffend: Wie verhalte ich mich bei Störungen innerhalb einer Sitzung, z.B. Pflegepersonal kommt in den Raum? Wie kann die Musiktherapie finanziert werden?). Meine Berufsidentität ist gekennzeichnet durch eine wertschätzende innere Haltung (Menschenbild), klare Ziele und das Bewusstsein über eigene Stärken und Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen. Das, was ich in meiner Arbeit anbiete, verstehe ich im weitesten Sinne als personenbezogene Dienstleistung, die mir über die reine Existenzsicherung hinaus ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und persönlicher Entfaltung ermöglicht.


11. Arbeiten Sie als Musiktherapeut selbstständig und/oder sind Sie teilangestellt?
Ich arbeite selbstständig als Franchise­nehmerin bei der Musik auf Rädern GbR.


12. Können Sie im Fall der Selbstständigkeit über die Abrechnung Ihrer Arbeit etwas ausführen?
Der Heilpraktiker für Psychotherapie erleichtert die selbstständigen Abrechnungsmodalitäten. Die Abrechnung erfolgt nach Rechnungsstellung über Finanzmittel der jeweiligen Einrichtung oder durch eine direkte und private Kostenübernahme des Patienten.

Die Autorin:

Britta Sperling
Jahrgang 84
Diplom Psychologin: Studium an der Ruhr-Universität Bochum
Master Klinische Musiktherapie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster: Abschluss Juli 2014
Thema der Masterarbeit: AD(H)S und Timing in der Musiktherapie – eine Untersuchung mit dem Messinstrument InTime
Seit Januar 2014 als selbstständige Musiktherapeutin für das Unternehmen „Musik auf Rädern“ im Kreis Coesfeld, Teilen des Münsterlandes und nördlichem Ruhrgebietes tätig (www.musikaufraedern.de).
Derzeitige Tätigkeitsschwerpunkte: Musiktherapie mit alten und demenziell erkrankten Menschen, mit behinderten Menschen, mit chronisch-psychisch Kranken.
Unter anderem tätig im: St. Antonius Haus in Schöppingen, Wohn- und Pflegeheim für Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen und mehrfachen Behinderung dauerhaft auf unterstützende Hilfe und Begleitung angewiesen sind.