Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster
Sylvia Kunkel

Praxisvorstellung
Einklang. Musik – Spiel – Klang
Andreas Vuissa

Patienteninterview
Musiktherapie bei schweren Mehrfachbehinderungen
Alexandra Takats

Schwerpunktthema I
Eine gemeinsame Sprache
Silke Reimer

Schwerpunktthema II
Musiktherapeutische Begegnungen
mit schwermehrfachbehinderten Menschen
Maria Becker

Schwerpunktthema III
Digitale Instrumente in der Therapie
Hans-Helmut Decker-Voigt

Theologische Hochschule Friedensau
André Klinkenstein

Musiktherapie in Argentinien
Gabriela Wagner, Übersetzung: Bettina Eichmanns

Soo! muss Technik – Alexa, der Zauberlehrling
und ein Lob auf den Fortschritt
Thomas Stegemann

4. Internationales Symposium „Music Therapy and Adolescents.
Various Approaches in Different Context – Differentiation and Bridges“
Magdalena Lechner

30. werkstatt für musiktherapeutische forschung Augsburg
9. und 10. Februar 2018
S. Altmayer, U. Below, N. Burkhardt, N. Cardenas, Y. Choi,
M. Ebersberger, J. Müller-Bohn, D. Schmid, A. Straub

News und Hochschulnachrichten

Singende Krankenhäuser e. V.
Silke Kammer, Jörg Spitz, Dirk Meyer

Rezension
Silke Reimer: Affektregulation in der Musiktherapie
mit Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung
Ludger Kowal-Summek

Rezension
Hansjörg Meyer/Peter Zentel/Teresa Sansour (Hg.)
Musik und schwere Behinderung
Ludger Kowal-Summek

Zum Mitmachen
Kleine Hilfen mit Atem,
Bewegung und Stimme
„Vom Klang des Selbst“
Sabine Rittner

Praxismodelle
Film ab! Klappe 1
Constanze Rüdenauer-Speck

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster

Von Sylvia Kunkel

Das Universitätsklinikum Münster verfügt aktuell über 1.500 Betten und mehr als 30 Kliniken sowie zahlreiche Institute und Zentren. Mit rund 10.000 Mitarbeitern ist die UKM-Gruppe einer der größten Arbeitgeber und Ausbildungsbetriebe in der Region. Das UKM liegt am Stadtring von Münster und ist sowohl fußläufig als auch mit Bus und Auto vom Zentrum aus gut erreichbar.
Am Rande des weitläufigen UKM-Geländes liegt die 1928 bis 1932 ursprünglich als psychiatrisch-neurologische Klinik erbaute Klinik für Psychia­trie und Psychotherapie. Der aus dem Münstertatort bekannte schöne rote Klinkerbau mit dem hübschen Balkon (genau, der gehört eigentlich gar nicht zur Pathologie!) ist von einem großen Garten mit Sitzecken, Rasenflächen und altem Baumbestand umschlossen.
Die Klinik gliedert sich in einen stationären Bereich mit fünf Stationen, eine Tagesklinik und eine Institutsambulanz. Klinische Schwerpunkte umfassen die Behandlung bipolarer affektiver (manisch-)depressiver Erkrankungen, von Depressionen aller Formen und Schweregrade, Angsterkrankungen und anderer neurotischer Erkrankungen (z.B. Essstörungen), psychotischer Erkrankungen sowie Störungen der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses. Insgesamt können ca. 100 Patienten stationär bzw. teilstationär behandelt werden.

Stationen
Station 2: Station für affektive Störungen/Wahlleistung
Station 3: Station für affektive Störungen
Station 4: Station mit psychotherapeutischem Schwerpunkt
Station 5: Station für Psychose­erkrankte
Station 6: Akut- und Intensiv­station
Während sich die vier offenen Stationen (2–5) jeweils im ersten Stock des insgesamt dreistöckigen Gebäudes befinden, nehmen die geschützt-geschlossene Station sowie die Insti­tutsambulanz den größten Teil des Erdgeschosses ein. Dort befinden sich außerdem eine kleine Cafeteria sowie die Behandlungsräume der Physio-, Arbeits-, Moto- und Musiktherapie. Weitere Therapieräume der Ergo- und Kunsttherapie sowie ein großer Vorlesungssaal befinden sich im ersten Stockwerk. Weitere Räume des großzügig geschnittenen Gebäudes werden als Besprechungszimmer, Forschungs- und Unterrichtsräume, für EKT-Behandlungen sowie als Labor genutzt. So herrscht auf den Fluren häufig ein buntes Treiben nicht nur von Patienten, Besuchern und Mitarbeitern, sondern auch von Studenten und Dozenten.
Im hinteren Garten befinden sich darüber hinaus eine zur Klinik gehörende Sporthalle und im Obergeschoss der Klinik neben Besprechungsräumen der Sozialpädagogen ein Aufenthaltsraum für Mitarbeiter.

Therapieangebot
Arbeitstherapie (Computerbereich, Papierwerkstatt)
Ergotherapie (Werkstatt/Holzraum, Kreativraum, Küche)
Kunsttherapie
Mototherapie
Musiktherapie
Physiotherapie (Physiotherapie, KBT)

Musiktherapie
1993, noch während meines Musiktherapiestudiums, bekam ich die Möglichkeit, die Musiktherapie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie zu etablieren. Ich konnte, unterstützt vom „Förderverein Sozialpsychiatrie“, einige Instrumente anschaffen, die ich jeweils von einem Ende der Klinik zum anderen ins „Schwesterncasino“ transportierte, wo ein altes Klavier stand und die Musiktherapie zunächst – in Ermangelung eines eigenen Raumes – stattfand. Wenngleich die äußeren Umstände damals nicht gerade optimal waren, gestaltete sich die konkrete musiktherapeutische Arbeit, zunächst auf Einzeltherapien und einige Honorarstunden begrenzt, doch äußerst angenehm. Die Musiktherapie war erwünscht und willkommen bei Patienten wie Kollegen; für die wenigen zur Verfügung stehenden Plätze wurden mir gezielt Patienten ans Herz gelegt, die verbal kaum oder gar nicht zu erreichen waren – zumeist schwer kranke schizophrene oder schwer depressive Patienten. Unterstützt durch die engmaschige Supervision bei der Leiterin des (damals Diplom-)Studiengangs Musiktherapie Frau Prof. Rosemarie Tüpker, konnte ich erste wertvolle Erfahrungen in der musiktherapeutischen Begleitung dieser Patienten sammeln. Mit dem Abschluss meines Musiktherapiestudiums 1995 wurde eine halbe Musiktherapiestelle geschaffen und ich konnte die psychodynamisch fundierte Musiktherapie als psychotherapeutisches Verfahren in das Gesamtbehandlungskonzept der Klinik integrieren, eigenständig musiktherapeutische Behandlungselemente an der Klinik entwickeln und diese bis heute immer wieder den klinischen Notwendigkeiten sowie meiner eigenen beruflichen Weiterentwicklung entsprechend anpassen und modifizieren. Aktuell biete ich je nach Bedarf Musikpsychotherapie, Musik-imaginative Schmerzbehandlung sowie Tinnituszentrierte Musiktherapie im Einzelsetting an sowie drei spezifische Gruppen.

Angebote und Ziele der Musiktherapie
Einzelmusiktherapie
Musikpsychotherapie:
Konfliktbearbeitung
Affektausdruck und Emotions­regulation
Stabilisierung und Ressourcen­förderung
Musik-imaginative Schmerzbehandlung
Tinnituszentrierte Musiktherapie

Gruppenmusiktherapie
Depressionsgruppe
Aktivierung und Stabilisierung
Förderung interaktioneller Kompetenzen
Ressourcenaktivierung
Psychodynamisch-interaktionelle Gruppe:
Erkennen und Modulieren dysfunktionaler Interaktions- und
Beziehungsmuster
Affektausdruck und Emotions­regulation
Konfliktbearbeitung
Gruppe für psychotische Patienten:
Ermöglichen positiver Gemeinsamkeitserfahrungen
Ressourcenförderung
Aktivierung und Stabilisierung

Schon lange gibt es für die Musiktherapie einen sehr gemütlichen eigenen Raum im Erdgeschoss mit Blick in den Garten.
Mit zwei großen Fenstern, Pflanzen, Teppichboden und vielen hochwertigen Instrumenten wie zwei Klavieren, Orffschem Instrumentarium und Instrumenten aus aller Welt ausgestattet, vermittelt der Musiktherapieraum eine Atmosphäre anregender Ruhe und Geborgenheit, die den meisten Patienten gut tut und häufig auch direkt angesprochen wird.

Frau M. betritt den Musiktherapieraum zum ersten Mal und schaut sich mit großen Augen um. Dann seufzt sie und meint: „Ach, ist das schön hier! Und die vielen wertvollen Instrumente! Das ist ja gar nicht wie im Krankenhaus, sondern wie ein kleines Paradies! Danke, dass ich hier sein darf.“
Herr R. kommt schon länger zur Musiktherapie, betritt den Raum jedoch jedes Mal mit einer Bemerkung wie „Wie gut es hier wieder riecht, nach Holz, das sind die tollen Instrumente.“ oder „Wenn ich hier reinkomme, ist das immer, als wenn ich eine andere Welt betreten darf.“

So bringt schon der Raum etwas zum Ausdruck, das für mich grundlegendes Agens meiner musiktherapeutischen Arbeit ist: Da unsere Klinik ein Akutkrankenhaus ist, kommen die Patienten in Zuständen tiefster Verstörung und Verunsicherung zu uns. Die meisten von Ihnen suchen und brauchen zunächst einmal Ruhe, Halt und Sicherheit; einen „sicheren Hafen“, wie viele Patienten es selbst nennen. Die Betroffenen haben tiefgreifende Erschütterungen ihres Selbsterlebens, ihrer Identität und Lebenswirklichkeit erlebt, waren und sind existentiellen Ängsten ausgesetzt und haben den Kontakt zu sich und/oder zur sie umgebenden Welt verloren. Von Grauen und Angst überwältigt oder in Zuständen der Leblosigkeit und Leere erstarrt, benötigen sie eine Umgebung, die ihnen hilft, sich im wahrsten Sinne des Wortes wieder zu sammeln und zu ordnen; Kraft zu schöpfen, zu sich und dann auch wieder „zur Welt“ zu kommen. Diese „Räume der Genesung“ bedürfen zunächst einmal ästhetisch-atmosphärischer Komponenten, um die erforderlichen Suchbewegungen gefahrlos ausprobieren zu können. Dazu gehört selbstverständlich auch die akustische Umgebung und im Rahmen der Musiktherapie der bewusste Umgang mit Tönen, Klängen, Sprache und anderen akustischen Stimuli. Töne erreichen und berühren uns schon, bevor wir geboren werden. Hörend nehmen wir den ersten Kontakt zur Welt auf – vielleicht ist es diese tief verwurzelte Erfahrung, die die Musik eine Brücke zur Welt werden lassen kann.

„Irgendwas Verrücktes muss passieren, damit ich das Verrückte loswerde“, meinte ein junger schizophrener Patient im Rahmen unseres musiktherapeutischen Erstkontaktes – und fand es dann „echt verrückt“, einfach so zu spielen. „Einfach so, auf diesen Geräten, ohne das gelernt zu haben?“ Und während er noch fragte, waren wir schon mitten im Spielen…
Frau M., eine junge Studentin, hatte sich im Verlauf mehrerer Wochen immer mehr zurückgezogen, verstummte schließlich völlig und nahm keinerlei Kontakt mehr zu ihrer Umwelt auf. In dem Wunsch, ihr ein Anknüpfen an ihr früheres (Er-)Leben zu ermöglichen, brachten ihre Eltern ihre Geige in die Klinik, die sie früher gerne und oft gespielt hatte, gaben sie ihr in die Hand und ermutigten sie zum Spielen. Doch es war, als wisse sie mit diesem Ding nichts anzufangen. Das Gleiche wiederholte sich mit dem sehr um die junge Frau bemühten Pflegepersonal. Schließlich wurden die Patientin und ihre Geige in die Musiktherapie gebracht. Wie einen Fremdkörper hielt sie Instrument und Bogen in den ebenfalls nicht zu ihr zu gehören scheinenden Händen und blickte durch mich hindurch. Keine Reaktion auf meine Begrüßung, auch nicht auf die Frage, ob sie mit mir musizieren wolle. Doch nachdem ich behutsam einen Ton auf dem Klavier angeschlagen hatte, öffnete sich ein Raum, und in die eintretende Stille hinein spielte sie einen Ton; wiederholte meinen Ton, genau den Ton, den ich auf dem Klavier intoniert hatte. Und dann noch einen, nun folgte ich ihr. Gemeinsam spielten wir lange, wunderschön. Und dann sprach sie mit mir…
Herr G. sprach schon, als ich ihm die Tür öffnete. Erklärte mir, dass er der Sohn eines Zaren sei, eigentlich Jesus, aber das alles sei streng geheim. Instrumente spielen? Er?? Mitleidig schaute er mich an. So etwas Merkwürdiges hatte ihm wohl noch niemand vorgeschlagen. Huldvoll meinte er dann, ich solle schonmal beginnen. Während ich am Klavier zu spielen begann, wanderte er ruhelos im Raum umher, zupfte mal hier, klopfte mal dort. Dann stellte er sich hinter mich, schloss die Augen und begann, sich im Takt der Musik zu wiegen. Ganz bei sich jetzt – wer auch immer er gerade war…

In späteren Stadien des Klinikaufenthalts oder auch im Rahmen der Behandlung auf der Station mit psychotherapeutischem Schwerpunkt bekommen die Musik und die Musiktherapie dann eine andere Funktion: Erlebtes kann „aus sicherer Entfernung“ angeschaut, hinterfragt, integriert werden; Spannungen können im Umgang mit den Instrumenten ausagiert und im Austausch von Spielen und Sprechen auf ihre Auslöser oder Ursprünge zurückgeführt und damit verstehbar und veränderbar werden; dysfunktionale Interaktions- und Beziehungsmuster können identifiziert und modifiziert, Verdrängtes oder Abgespaltenes erhört und integriert werden.

Frau M. bringt in ihrer vierten Gruppenmusiktherapiesitzung ein eigenes Thema ein: Schon mehrfach habe sie in den Gruppensitzungen die Beziehung zu ihrem Ehemann thematisiert und durch die Reaktionen ihrer Mitpatienten Stärkung und Halt erfahren. Irgendwie ändere das aber nichts, ihr Ehemann sei so dominant und einschüchternd, dass sie sich gar nicht traue, sich zu wehren – und sie könne auch nicht so genau sagen, wogegen überhaupt, er sei eben einfach irgendwie übermächtig. Ich bitte die Patientin, jeweils für sich und ihren Ehemann ein Instrument auszuwählen und diese beiden so im Raum anzuordnen, wie es ihrer Wahrnehmung der Beziehungsgestaltung entspricht. Frau M. wählt zielsicher den großen Gong für ihren Ehemann und die kleine Sansula für sich selbst und stellt bzw. legt sie jeweils in eine Ecke des Raumes. Anhand der gewählten Instrumente beschreibt Frau M. noch einmal die als übermächtig erlebte Dominanz ihres Partners sowie ihre eigene Ohnmacht und ihren Wunsch nach Harmonie. Die anderen Gruppenteilnehmer nicken, soweit nichts Neues. Als ich die Patientin bitte, zwei Gruppenteilnehmer auszuwählen und ihnen genau zu erklären, wie sie die Instrumente spielen sollen, stellt sie den Klavierhocker vor den Gong und bittet einen Mitpatienten, auf diesen zu steigen und mit dem Gesicht zum Instrument und damit zur Wand laut und anhaltend auf den Gong zu schlagen. Eine Mitpatientin wird angeleitet, sich ebenfalls mit dem Rücken zum Raum an der gegenüber liegenden Wand auf den Boden zu kauern und leise und kaum hörbar einzelne Töne auf der Sansula erklingen zu lassen. Wie erwartet ist fast ausschließlich der Lärm des Gongs zu hören, der in den Ohren schmerzt. Auch der Höreindruck bestätigt das zuvor Bewusste und Gewusste und bringt keine neuen Erkenntnisse, allerdings schaut Frau M. beiden Spielern auffallend nachdenklich zu. Als die beiden Spieler anschließend ihr Erleben schildern, horcht sie auf: Der Patient, der den Gong spielte, beschreibt ein ausgeprägtes Unwohlsein: Er habe sich „verrenken“ müssen, um das Instrument auf dem Hocker stehend zu spielen und ihm sei plötzlich die Frage durch den Kopf gegangen, warum er so „auf den Sockel gestellt“ worden sei; da gehöre er nicht hin, fühle sich nicht wohl dort – und er habe sich die Frage gestellt, ob es wohl dem Mann von Frau M. ähnlich gehen könnte? Weitere Aspekte tauchen auf, die die Patientin nachdenklich machen… Ähnlich bewegt und bewegend beschreibt die Mitpatientin, die die Sansula spielte, dass sie sich „wie ein gefesseltes Kleinkind“ vorgekommen sei; sie habe einen starken Drang verspürt, aufzustehen, sich aufzurichten und sich vor allem umzudrehen; nicht so in sich hineinzuspielen, lauter zu werden. Frau M. nickt und beginnt zu weinen: Genau so fühle sie sich ihrem Mann gegenüber, wie ein kleines Kind… wie als kleines Kind ihrem Vater gegenüber … Im weiteren Verlauf der Sitzung kann Frau M. die Beziehung zu ihrem Ehemann erstmals differenzierter betrachten, eigene „kindliche“ und „erwachsene“ Anteile differenzieren. Sie beginnt, Zusammenhänge zu erahnen… Schließlich gibt es eine zweite Spielrunde: Frau M. ordnet nun die Instrumente so an, dass sich beide Spieler gegenüber stehen. Der Gongspieler muss nicht mehr auf den Klavierhocker klettern und „darf so spielen wie er möchte“. Die Sansula spielt sie nun selbst – aufrecht stehend, mit klaren, zarten, aber gut hörbaren Tönen. Ein wunderschön anzuhörendes Zusammenspiel, in dem beide aufeinander hören und sich gegenseitig Resonanz geben und antworten, entsteht. Frau M. genießt und weint hinterher lange; ein befreites, hoffnungsvolles Weinen. In der folgenden Stunde berichtet sie, dass sie ihrem Mann von dieser Stunde erzählen konnte; wie beim Musizieren habe sie „auf Augenhöhe“ mit ihm sprechen können, habe seine Erschütterung und Erleichterung gespürt. Die Interaktion zwischen beiden verändert sich deutlich und der Fokus der Patientin verschiebt sich und gilt in den folgenden Sitzungen Erfahrungen mit ihrem Vater, den sie als übermächtig und dominant erlebt, zuvor in der Therapie jedoch nur am Rande erwähnt hatte…

Die Patienten können die Musiktherapie im Rahmen ihres Aufenthalts in unserer Klinik auf unterschiedlichste Art und Weise nutzen. Wir spielen oder singen nicht immer und nicht nur in der Musiktherapie. Manchmal tut es einfach gut, zu reden – um etwas loszuwerden, sich zu ordnen, sich verständlich zu machen – oder auch, um genau das zu verhindern. Manchmal hören wir Musik, gezielt im Rahmen eines musikimaginativen Vorgehens oder aber über Youtube: Das Gleiche hören und auf demselben Monitor die gleichen Bilder schauen, verbunden sein in diesem gemeinsamen Tun, ohne sich anschauen oder direkt aufeinander Bezug nehmen zu müssen. Manchmal reicht es schon, dass es in der Musiktherapie „irgendwie um Musik geht“, um Anknüpfungspunkte zu finden, wo es sonst kaum Anknüpfungspunkte zu geben scheint. Manchmal ist die Musik der Anker, der uns hält. Manchmal ist sie das Boot, in dem wir sitzen. Manchmal übertönt sie die Stimmen, die sonst keiner hört; manchmal hüllt sie uns ein und manchmal füllt sie die Leere in uns und um uns. Manchmal ermöglicht sie Kontakt und Begegnung und manchmal heilsame Distanzierung.

Die Autorin:

Dr. sc. mus. Sylvia Kunkel
ist Diplom-Musiktherapeutin und Dipl.-Musikpädagogin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Lehrmusiktherapeutin. Nach dem Studium der Musikpädagogik an der HfM „Franz Liszt“ Weimar studierte sie Musiktherapie an der WWU Münster und promovierte später an der HfMT Hamburg über ihre Arbeit mit schizophrenen Patienten. Zahlreiche Fort- und Weiterbildungen, u.a. dreijährige Weiterbildung in Psychoanalytischer Psychosentherapie an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie e.V. München, Weiterbildungsstudium „Musik-imaginative Schmerzbehandlung“ an der Hochschule Magdeburg, Weiterbildung „Tinnitus-zentrierte Musiktherapie“ nach A. Cramer, Klangmassage nach P. Hess. Sie arbeitet seit 24 Jahren als Musiktherapeutin am UKM und eben so lange als Klavierlehrerin an einer Musikschule. Daneben ist sie als Chorleiterin sowie in eigener musiktherapeutischer Praxis tätig. Langjährige Tätigkeit als Dozentin im Masterstudiengang Musiktherapie an der WWU Münster sowie an der Hochschule Magdeburg im Studiengang „Musik-imaginative Schmerzbehandlung“. Veröffentlichungen und Referententätigkeit zu speziellen Aspekten der Musiktherapie in der Psychiatrie.

Editorial

„Jan, den wir jetzt besuchen, wird jetzt genauso alt wie du. Sieben Jahre“, hatte mich meine Mutter vorbereitet, als sie mit mir in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, in denen sie ihre Jugend verbracht hatte, an das Bett von Jan trat. Der hatte an diesem Tag Geburtstag – den siebten. Jans Kopf wirkte auf mich ähnlich groß wie sein übriger Körper unter der Decke.
An das Geburtstagslied, was wir ihm damals am Bett sangen, sicher eines mit viel Glück und viel Segen auf all seinen Wegen, erinnere ich mich nicht mehr – aber an Jans Augen und ich freute mich, dass er sich freute.
Später, viel später, lernte ich das Instrument der Gegenübertragung kennen, das zum größeren Verstehen der Jans dieser Welt beiträgt.
Ist es eine neue Schubkraft, die in Praxis und Forschung den Fokus auf unsere Klienten lenkt, die ihr Leben unter den Bedingungen schwerster Mehrfachbehinderung leben? Oder zeigt sich durch die Möglichkeit mit heutigen Forschungsinstrumenten (wie z.B. der Einschätzung der Beziehungsqualität EBQ) nur deutlicher, was die unmittelbar begleitenden Therapeutinnen und mitbetroffenen Angehörigen immer schon fühlten, sagten und in ihr Handeln einbezogen: Wie groß der Reichtum des inneren Lebens von Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung sich zeigt, wenn er sich erstmal zeigen, ausdrücken darf und dann kann.

Weiterlesen: Editorial

Praxisvorstellung

Einklang. Musik – Spiel – Klang

Andreas Vuissa

Persönliche Vorstellung
Mein Name ist Andreas Vuissa. Ich bin verheiratet und habe zwei Töchter im Alter von 16 und 18 Jahren und lebe in Hörbranz bei Bregenz (A) am Bodensee. Von Beruf bin ich klinischer Musiktherapeut. Meine Ausbildung habe ich in Zürich absolviert – zuerst in Form eines Diplomstudiums (2000–2003) im Rahmen der damaligen Berufsbegleitenden Ausbildung Musiktherapie (bam) und später (2008–2012) mit einem Master-Upgrade-Studium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).
Persönlich stark beeinflusst durch meine intensive musikalische Tätigkeit in meiner Jugend als Schlagzeuger in einer Rockband, habe ich mich schon sehr früh, bereits als junger Student in Wien, für die Musiktherapie interessiert. Aufgrund mangelnder klassischer Ausbildung in der Musik war mir ein Zugang zum Wiener Musiktherapiestudium zur damaligen Zeit jedoch verwehrt.
Meine spätere sozial- und heilpädagogische Ausbildung und Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Fremderziehung, in welcher ich viele musikalische Projekte realisierte, brachten mich wieder in Berührung mit der Musiktherapie und schließlich zur Ausbildung in Zürich.

Weg in die Selbständigkeit
Nach knapp 20 Jahren pädagogischer, beraterischer und therapeutischer Tätigkeit in einem Kinderdorf habe ich mich vor acht Jahren entschlossen, mich als Musiktherapeut selbstständig zu machen. Neben dem Aufbau einer eigenen Praxis (erst in Bregenz und später im schweizerischen Heiden) habe ich eine Teilzeitstelle als Musiktherapeut in einer Rehaklinik aufgenommen. In einer Höhenklinik im Kanton St. Gallen (Schweiz) mit Schwerpunkt Neurologie und Pneumologie habe ich meine ersten musiktherapeutischen Erfahrungen im klinischen Feld gemacht und vieles zum Setting der Einzel- und Gruppentherapie mit Erwachsenen lernen dürfen. In diesem Rahmen ergab sich für mich die Möglichkeit, meine Masterstudie über die Klangmeditation zur Tiefenentspannung mit dem Monochord durchzuführen – mit dem Fokus auf PatientInnen mit Multipler Sklerose. Dieses besondere Setting habe ich später auch genutzt, um vor sechs Jahren eine neue Musiktherapiestelle in einer psychosomatischen und kardiologischen Rehaklinik im Kanton Appenzell aufzubauen. In diesem Rahmen biete ich aktive und rezeptive Musiktherapiegruppen an. Diese Stelle habe ich bis heute inne.

Seminare für Unternehmen
Musiktherapeutische Angebote in der Prävention zu entwickeln, die Möglichkeiten der Musiktherapie aufzuzeigen und auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, war mir schon während meiner Ausbildungszeit ein großes Anliegen. Vor vier Jahren habe ich ein Seminarkonzept entwickelt und gebe seitdem im In- und Ausland Seminare zur Burnoutprophylaxe in Unternehmen. Es handelt sich hierbei um größere Unternehmen, deren Mitarbeiter und Führungskräfte – beispielsweise Manager, Ingenieure, Disponenten – hohem Stress und Leistungsdruck ausgesetzt sind. Unter dem Titel „Entschleunigung in bewegten Zeiten“ geht es darum, mit Hilfe der Musik zur Ruhe zu kommen, sich selbst und den eigenen Körper wahrzunehmen und die Selbstfürsorge und Eigenständigkeit zu fördern. Hier ein kurzer Bericht, der sich auch auf meiner Website www.einklang.ch findet:

Airbus-MitarbeiterInnen im Einklang
Toulouse | April 2016
Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, ein Drei-Tages-Seminar zum Thema „Entschleunigung in bewegten Zeiten“ mit MitarbeiterInnen der Firma AIRBUS durchzuführen. Ich wurde mit viel Herzlichkeit empfangen. Es war dies mein erstes fremdsprachiges Seminar – hauptsächlich Englisch gemischt mit Französisch. Den TeilnehmerInnen gelang es, sich auf einen intensiven Prozess einzulassen und wertvolle Impulse im Umgang mit Stress mitzunehmen. Eine Teilnehmerin brachte ihre Erfahrungen Wochen nach dem Seminar folgendermaßen zum Ausdruck: „I feel very lucky I could participate to this seminar and I can already feel every day of what I’ve learned and became aware of… Very very powerful experience!“

Neue Musiktherapiepraxis
Nach gut 5 Jahren selbstständiger Praxistätigkeit in Heiden ist es mir Anfang 2016 gelungen, einen perfekten Standort für eine neue und größere Praxis zu finden – nicht weit vom bisherigen Standort, im schönen Appenzeller Land mitten in der Natur, in einem Tobel, direkt an einem Bach. Bereits in der Planungs- und Bauphase konnte ich über einen gesamten Jahresverlauf die verschiedenen Stimmungsbilder der Jahreszeiten am Ort beobachten.
Ab Juli 2017 wurden die Räumlichkeiten schließlich bezogen und mit viel Begeisterung eingerichtet. Anfang September wurden sie der Öffentlichkeit vorgestellt. Beim Tag der offenen Tür am 9. September 2017 wurde den über 100 BesucherInnen die neue Praxis vorgestellt und in stündlichen, kurzen Workshops verschiedene musiktherapeutische Einführungen gegeben. Ein Atelierraum im Obergeschoss des Anbaus konnte für diese Zwecke mit genutzt werden. Als Höhepunkt gab es schließlich einen Festvortrag von Prof. Hans-Helmut Decker-Voigt, zu dem Ärzte und Therapeuten sowie politische VertreterInnen der Region eingeladen wurden. Die über 50 Gäste waren begeistert und haben nun die Möglichkeit, auf meine musiktherapeutische Arbeit aufmerksam zu machen.
Mit der Realisierung dieses Projekts geht ein Traum in Erfüllung. Räumlichkeiten wie diese sind wunderbare Arbeits- und Genesungsbedingungen, denn hier kann man sich jederzeit ungestört musikalisch ausdrücken, mit der Natur verbunden sein und diese als Inspirationsquelle nutzen. Zudem wird hier für den Klienten einerseits die Anonymität gewährleistet und dennoch eine Nähe zum Ortskern geboten – mit gutem Anschluss an die öffentlichen Verkehrsmittel.
Seit Oktober gehören in meiner Praxis neben der Einzelmusiktherapie (aktiv und rezeptiv) auch eine Musiktherapiegruppe, Trommel- und Meditationsgruppen und Seminartage zur Entschleunigung zum Angebot. Ich begleite Menschen in der Krise und prophylaktisch – und zwar Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen. Die Musik schafft einen Zugang zu ihren Gefühlen, sie lässt sie sich und ihren Körper besser spüren. Den Körper, verstanden als In­strument, als Signalgeber, gilt es besser kennen und verstehen zu lernen.

Lauschen – Innehorchen – Spüren. Der Körper als Signalgeber. Sinne öffnen und Sinn finden
Einer meiner Schwerpunkte sowohl im klinischen als auch ambulanten und seminarbezogenen Setting ist die Klangmeditation zur Tiefenentspannung mit dem Monochord. Wie schon erwähnt, habe ich mich für meine Masterarbeit eingehend mit diesem Thema auseinandergesetzt und im Verlauf der letzten acht Jahre viele Erfahrungen sammeln können. In dieser Zeit sind etwa 3000 TeilnehmerInnen mit meiner Klangmeditation in Berührung gekommen. Die vielen Rückmeldungen haben geholfen, den Blick für dieses Werkzeug zu schärfen – einerseits gemeinsame Tendenzen auszumachen, andererseits offen zu sein und einen Umgang zu finden für die verschiedensten individuellen Meditationseindrücke.
Die über die Jahre verfeinerte Methode hat eine enorme Wirkkraft, um Klienten mit ihrem Potenzial und ihren Selbstheilungskräften in Verbindung zu bringen. Sie eignet sich als Türöffner für den therapeutischen Prozess und hat oft einen nachhaltigen Effekt auf die Beteiligten. Sie dient vielen Menschen hilfreich der Entspannung und Schmerzlinderung sowie der Krankheitsverarbeitung und als Inspirationsquelle. Sie öffnet den Blick für neue Möglichkeiten. Unabhängig ob im klinischen, ambulanten oder präventiven Setting entfaltet sie enorme Kräfte in den TeilnehmerInnen.

Spielen – Entdecken – Explorieren – Experimentieren – Aktiv Meditieren
Auch im Rahmen der aktiven Musiktherapie spielt die Achtsamkeit und der bewusste Fokus auf den eigenen Körper eine wesentliche Rolle. Hier geht es darum, den PatientInnen, KlientInnen, SeminarteilnehmerInnen einen neuen Zugang zur Musik zu ermöglichen. Und zwar einen Zugang, der nicht auf Leistung und Noten (in beiderlei Sinngebung), auf richtig und falsch ausgerichtet ist und somit nicht auf musikalische Harmonie, sondern auf Stimmigkeit und Übereinstimmung mit der im Inneren erlebten Stimmung. Ziel ist es, einen „ent-sprechenden“ Ausdruck zu finden, um einen Ausgleich zu den vielen emotionalen „Ein-Drücken“ herzustellen. Das Innere gilt es hörbar zu machen, um es später verbal zu reflektieren. Dabei handelt es sich um Suchprozesse, denen die nötige Zeit eingeräumt werden soll. Der spielerisch-improvisatorische und meditativ-musikalische Prozess hat vielfach eine „ent-leerende“, befreiende, lösende Wirkung.

Trommeln und den Kopf lüften
In den wöchentlich angebotenen Trommelgruppen geht es mit dem Schwerpunkt Rhythmus darum, den eigenen maskulinen und femininen Anteilen zu begegnen, diese zu beleben und zu fördern. Reinhard Flatischlers „Taketina“ und „Gamala“ werden spielerisch genutzt, um sich symbolisch mit von mir entwickelten sieben indianischen maskulinen und femininen Archetypen (wie Indianerhäuptling, Medizinmann etc.) zu identifizieren. Dabei geht es darum, die eigenen Qualitäten in sich bewusst zu machen, zu integrieren und in Balance zu bringen. Strukturiertes (gebunden und variationsreich) und freies meditatives Trommeln im Zusammenspiel mit Atmung und Stimme schaffen ein befreiendes Ventil. Verschiedenste Konzentrationsspiele in der Gruppe bringen eine weitere spielerische Komponente in dieses Setting.

Abseits der Praxis – Singen als wertvolle Ressource des Ausdrucks und Gefühlsventils
In wöchentlichen „Hausbesuchen“ im Alters- und Pflegeheim Hard (A) wird das Singen von altem Liedgut musiktherapeutisch genutzt, um BewohnerInnen mit Demenz eine emotionale Ausdrucksplattform zu bieten. Sie schätzen diesen musikalischen Rahmen, in dem es immer wieder etwas zu entdecken gibt, sehr.
Die Musik schafft besonders über das gemeinsame Singen bei Menschen mit Demenz einen Rahmen, in dem sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen können. Wo Sprache nicht mehr oder nur noch unzulänglich funktioniert, kann die Musik vermitteln und Brücken bauen. So können Gefühle zum Ausdruck gebracht werden, die lange keinen Weg nach außen gefunden haben. Das bringt Erleichterung, Entspannung, Befreiung und manchmal auch Erlösung. Es hilft, den Kreislauf der Gefühle wieder in Gang zu setzen, so dass aufgestaute Gefühle wieder verarbeitet werden.

Selbstverständnis
Ich definiere meine Arbeit als identitätsstiftend, ressourcenorientiert, spielerisch, Selbstwert aufbauend. Sie ist tiefenpsychologisch und gestalttherapeutisch, systemisch und logotherapeutisch orientiert. Der Körper als unser persönlichstes Instrument ist in meiner Arbeit von zentraler Bedeutung.
Gerade die breite Abwechslung meiner musiktherapeutischen Tätigkeit im klinischen, ambulanten wie im präventiven Setting macht meine persönliche Ausrichtung aus. Der Wechsel zwischen Musiktherapie mit Kindern, mit älteren Menschen im Alters- und Pflegeheim, mit Menschen in der Krise, in der Rehabilitation sowie auch in der ambulanten Praxis und die Semi­nar­tätigkeit unter dem Motto „Entschleunigung in bewegten Zeiten“ mit Managern, Ingenieuren und Berufsleuten, die unter großem Druck stehen, ist für mich immer wieder eine spannende Herausforderung. In allen diesen Bereichen steht der Mensch mit seinen Gefühlen im Mittelpunkt. Es geht darum, ins Spüren und über die Musik ins Spiel(en) zu kommen.
Mit dem Schritt in die Selbstständigkeit vor acht Jahren ist es mir gelungen, meine eigene musiktherapeutische Identität zu festigen und zu etablieren. So kann ich bestätigen, was Prof. Decker-Voigt anlässlich einer Musiktherapietagung in einer Reha­klinik in Bellikon (CH) sagte, nämlich dass wir Musiktherapeuten „den schönsten Beruf haben“.

Schwerpunktthema I

Eine gemeinsame Sprache

Von Silke Reimer

„Huhu, da schaut eine alte Hexe raus!
Sie lockt die Kinder ins Pfefferkuchenhaus.“
Silvia, eine 38 Jahre alte Frau mit schwerster Mehrfachbehinderung, sitzt oft mit gesenktem Kopf in ihrem Rollstuhl. Beim Hören dieses Lieds beginnt sie jedoch verschmitzt zu lächeln und schaut erwartungsvoll zur Therapeutin, die auch schon fortsetzt:
„Sie stellte sich gar freundlich – Oh Hänsel welche Not!
Sie will ihn braten im Ofen braun wie Brot!“
Mit kräftiger Stimme und durch ein Gitarrentremolo unterstreicht die Therapeutin die Dramatik der Geschichte. Silvia zeigt deutlich ihr Vergnügen. Sie blickt die Therapeutin an und lacht voller Freude.

Als ich vor 20 Jahren meine musiktherapeutische Tätigkeit in einem Pflegewohnheim für Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung begann, war Freude ein wichtiges Anliegen der damaligen Heimleiterin. Musik sollte Reaktionen, vor allem aber Freude hervorrufen bei Menschen, die im Alltag oft wenig Ansprache haben. Die Heimleiterin hatte oftmals gesehen, wie bei Wohnheimfesten Heimbewohner mit deutlicher Freude auf Musik reagierten. Dieses positive Erlebnis sollte den Heimbewohnern nun regelmäßig durch musikalische Angebote ermöglicht werden. Mit Beginn meiner Tätigkeit waren die ersten Eindrücke sehr unterschiedlich. Manche der Heimbewohner reagierten tatsächlich mit großer Freude auf Lieder, Klänge oder Rhythmen, bei anderen war der mimische und körperliche Ausdruck schwer zu verstehen, wieder andere reagierten mit Anspannung oder Unruhe. Viele Verhaltens- und Ausdrucksweisen der Heimbewohner waren mir fremd und verbale Kommunikation war nicht möglich. Es dauerte mehrere Wochen, bis ich die sehr individuelle Körpersprache der Bewohner mehr und mehr verstehen konnte. Nach Bodelschwingh liegt hierin der Grundstein der Kommunikation mit diesen Menschen:
„Ob ein behinderter Mensch kommunizieren kann, liegt darin, ob wir seine Sprache erlernen und nicht umgekehrt.“ (Zit. nach Bienstein & Fröhlich, 2004, S. 55).
Musiktherapie wird in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen als rezeptiv oder aktiv, einzeln oder in Gruppen angeboten. In der rezeptiven Therapie bietet der Therapeut Musik und Klänge an, die der Mensch mit Behinderung ‚empfängt‘ (lat. recipere – aufnehmen). Musik wird eingesetzt, um zu beruhigen oder anzuregen, um Stimmungen zu verstärken oder zu mildern.
Besonders im Kontext von Gruppenangeboten wird deutlich, wie unterschiedlich die Bedürfnisse der Teilnehmer sein können. Musik mit schnellem Tempo und lebendigem Charakter wirkt auf manche Menschen anregend und ermuntert zu Bewegungen oder Lautierungen, andere sind davon überfordert und zeigen Anspannung und Unruhe. Umgekehrt kann eine Musik, mit der der Therapeut eine ruhige Atmosphäre schaffen und ein Gefühl von Angenommensein und Geborgenheit vermitteln möchte, zu Wohlbefinden und entspannter Aufmerksamkeit beitragen oder andere Teilnehmer zum Einschlafen bringen.
Während Gruppenangebote von Betreuern und Pflegepersonal meist zur Tagesstrukturierung erwünscht sind, wird der Sinn in therapeutischen Teams oft diskutiert. Im Mittelpunkt steht dann die Frage nach der Gruppenfähigkeit der schwerst mehrfachbehinderten Teilnehmer, da die Art und Weise der Teilhabe an einer Gruppe – wie oben beschrieben – sehr unterschiedlich sein kann. Während einzelne Menschen mit Unterstützung aktiv teilnehmen können, sind andere eher passiv und scheinen vorwiegend die Atmosphäre zu genießen. Dies kann ein stimmiges Miteinander ergeben. Ist ein Mensch im Gruppenkontext jedoch sehr unruhig und angespannt, so wird er auch nicht davon profitieren, bzw. sogar darunter leiden. Hier sollten bevorzugt Einzeltherapien angeboten werden, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Die Ziele aktiver Musiktherapie und der musikalischen Heilpädagogik mit Menschen mit Behinderungen reichen von der Entwicklung spezifischer motorischer Fähigkeiten, die an Instrumenten erfahren und geübt werden, bis hin zur Entwicklung von Beziehungsfähigkeit. Hiermit ist nicht allein zwischenmenschliche Beziehung gemeint, sondern auch die Beziehung zu den eigenen Affekten und dem eigenen Körper, sowie die Beziehung zu Objekten, speziell Musikinstrumenten. Die Beziehungsfähigkeit in diesen Bereichen ist die Voraussetzung für ein zielgerichtetes Spielen und Lautieren, vor allem aber auch für die Fähigkeit, Aufgabenstellungen und Spielideen des Therapeuten mitzumachen.
Ist ein Mensch nicht zu einem aktiven Spiel oder zum Mitvollziehen von Spielideen des Therapeuten in der Lage, ist es wichtig, den Entwicklungsstand von Fähigkeiten und Bedürfnissen differenziert einzuschätzen, um therapeutische Interventionen gezielt einsetzen zu können. Interveniert der Therapeut nicht den Bedürfnissen des Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung entsprechend, kommt entweder kein Kontakt zustande oder die Versuche des Therapeuten, die Aufmerksamkeit auf sich und seine Musik zu lenken, führen zur Überforderung des Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung. Es bedarf zunächst also vor allem ein Umdenken des Therapeuten: Nicht der Mensch mit schwerster Mehrfachbehinderung soll auf den Therapeuten reagieren müssen, sondern der Therapeut ist herausgefordert, die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung wahrzunehmen, angemessen darauf zu reagieren und die musiktherapeutischen Interventionen entsprechend zu gestalteten (Bergmann et al., 2011).
Dieser Ansatz wird als entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie bezeichnet (Schumacher & Calvet, 2008). Der Therapeut versucht aufgrund seines theoretischen Hintergrundwissens und seiner Interaktionserfahrung mit einem Menschen in jedem Moment in der Therapie den körperlich-emotionalen Ausdruck des Menschen wahrzunehmen und richtig zu interpretieren, um seine Interventionen bestmöglich danach auszurichten. Doch was sind sinnvolle Interventionen bei Menschen, die nicht auf Instrumenten spielen und gemeinsam mit dem Therapeuten musizieren können? Die folgenden Beispiele orientieren sich in ihrer Reihenfolge und Bezeichnung an den Merkmallisten zur Einschätzung der Beziehungsqualität (EBQ) (Schumacher, Calvet & Reimer, 2013).

Kontaktlosigkeit: Als die Musiktherapeutin an Roberts Bett tritt und ihn begrüßt, zeigt er keine Reaktionen und wirkt scheinbar kontaktlos. Weder an seiner Mimik noch an seinem körperlichen Verhalten ist zu erkennen, ob er die Therapeutin oder ihre Begrüßung wahrnimmt. Die Therapeutin beginnt, eine ruhige Musik mit der Gitarre zu spielen. Mit ihrem Spiel schafft die Therapeutin eine Atmosphäre, in der Robert von der Musik umgeben wird, ohne ihn zu Reaktionen oder Aktivitäten aufzufordern.
Für Menschen, die nicht auf den Therapeuten oder seine Interventionen reagieren, ist es wichtig, dass sie sich in ihrem „So-Sein“ angenommen fühlen (Schumacher et al., 2013). Kontakt soll ermöglicht, aber nicht vom Therapeuten eingefordert werden. Dazu werden Musikinstrumente mit einem resonanzreichen Klang, wie z.B. Gitarre, Klavier, Gongs etc. ausgewählt und mit einer ruhigen Atmosphäre, d.h. ohne Aufforderungscharakter, gespielt.
Sensorischer Kontakt: Viktor ist ein sehr aufmerksamer junger Mann, der häufig seine Umgebung beobachtet. Er sitzt in einem Rollstuhl und beschäftigt sich tagsüber meist stereotyp mit Gegenständen, die er in seinen Mund nimmt oder an seinen Zähnen reibt. Hält er keinen Gegenstand in der Hand, führt er seine gefalteten Hände schon bei geringer Aufregung an den Mund oder an die Wange und brummt, um sich dadurch selbst zu beruhigen. Die Therapeutin bietet Viktor in der Musiktherapie eine Rahmentrommel mit Schlegel an. Viktor greift danach und beginnt für kurze Zeit, auf die Trommel zu schlagen. Kurz darauf führt er jedoch den Rahmen der Trommel an den Mund und lutscht daran. Nach kurzem erneuten Spiel beginnt er, am Schlegel zu saugen. Dieses Beispiel zeigt zwei unterschiedliche Fähigkeiten Viktors. Einerseits kann Viktor auf der Trommel spielen, andererseits hat er aber auch das Bedürfnis, Trommel oder Schlegel sensorisch wahrzunehmen.
Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist das sensorische Wahrnehmen und Erkunden mit dem Mund ein wichtiger Vorläufer für das spätere und reifere Spiel mit Instrumenten. In der Musiktherapie ist es wichtig, dass der Therapeut zwischen einem sensorischen Verwenden und einem Spielen unterscheidet, da jede dieser Verhaltensweisen eine unterschiedliche Intervention zur Folge hat. Wenn ein Mensch ein angebotenes Instrument vorwiegend über seine Nahsinne (Spüren, Schmecken) wahrnimmt, indem er Vibrationen am Mund oder seinem Körper spüren möchte, ist es wichtig, die musiktherapeutischen Interventionen auf dieses Bedürfnis auszurichten. Der Therapeut bietet Instrumente und Vibrationen an, die sehr körpernah erlebt werden können und das Körperempfinden aktivieren, wie z.B. resonanzreiche Trommeln, Körpertambura oder Gitarre. Der Therapeut spielt diese Instrumente an, damit die entstehenden Schwingungen an den Händen spürbar werden oder er legt das Instru­ment auf den Oberkörper und die Beine auf. Hier, wie bei allen anderen Interventionen auch, ist es wichtig, den körperlich-emotionalen Ausdruck des Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung zu beobachten, um Stresszeichen zu erkennen und die Intervention gegebenenfalls erneut anzupassen. Kommt der Mensch mit schwerster Mehrfachbehinderung jedoch zur Ruhe und kann die Schwingungen wahrnehmen, dient die Intervention der Aktivierung des Körperempfindens. Dieses Empfinden des eigenen Körpers ist die Basis für aktives Instrumentalspiel.

Befindlichkeitszeichen und Affektregulation: Marie reibt im Alltag meist ihre Handflächen aneinander und wendet den Kopf stereotyp hin und her. Diese Bewegungen scheinen stark im Vordergrund ihres Erlebens zu stehen und dienen vermutlich sowohl der Selbststimulation als auch der eigenen Beruhigung. Bei Aufregung lösen sich ihre Hände voneinander, sie beginnt mit den Armen zu rudern und auch der Kopf gerät in eine Schüttelbewegung, bis sie sich schließlich in den Handrücken beißt.
Unter dem Begriff „Befindlichkeitszeichen“ versteht man in der Entwicklungspsychologie physische (Atmung, Hautfarbe etc.) und motorische Verhaltensweisen, die etwas über die Affektlage eines Menschen aussagen. Es wird zwischen Stresszeichen und Zeichen für Aufmerksamkeit und Interaktion unterschieden. Bei Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung weisen Anspannung und Unruhe sowie stereotype Verhaltensweisen oder Bewegungen, mit denen ein Mensch sich selbst stimuliert („Handwaschbewegungen“, Hin- und Herschaukeln, Saugen an Gegenständen etc.), auf eine dysregulierte Affektlage hin. Diese Verhaltensweisen stehen vermutlich auch in Zusammenhang mit einem beeinträchtigten Empfinden für den eigenen Körper. Gleichzeitig können diese Verhaltensweisen, vor allem wenn sie mit Anspannung und Unruhe einhergehen, den Kontakt zur Umwelt und zu Mitmenschen einschränken oder gar verhindern. Bei sehr hohen Affekten kann auch selbstverletzendes Verhalten in Erscheinung treten, wie z.B. sich selbst beißen oder schlagen. In der Musiktherapie reagieren Menschen, die Belastungszeichen zeigen, oftmals nicht auf vorgespielte Musik, da für sie Anspannung und Unruhe oder das Bedürfnis nach eigener körperlicher Stimulation so stark im Vordergrund stehen, dass die Musik kaum zu ihnen durchdringen kann. In diesem Fall sind Interventionen hilfreicher, die das Körperempfinden aktivieren. Dazu versucht der Therapeut Körpergewicht und Körperspannung des Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung genau zu erfassen und ihn mit Hilfsmitteln wie Hängematte oder Rollstuhlschaukel so zu bewegen, dass sein Körperempfinden stimuliert wird. Auch das Singen im Atemrhythmus kann dazu führen, dass ein Mensch sich selbst, d.h. den eigenen Atem und die eigene Körperlichkeit, durch die Akzentuierung von außen spürt. Durch das entstehende Körperempfinden bleiben stereotype oder selbststimulierende Verhaltensweisen oftmals aus und die Aufmerksamkeit kann nach außen, auf Umwelt oder Mitmenschen, gerichtet werden (Reimer, 2016).
Es ist hilfreich, die individuellen Verhaltensweisen, speziell Stresszeichen, eines Menschen zu beobachten und bestimmte Bewegungsabläufe, wie sie oben für Marie beschrieben wurden, mit ihrer Bedeutung für die Affektlage zu kennen. In der Therapie ist es dann oftmals möglich, durch gezielte Interventionen oder durch eine Anpassung der Reizintensität die Affekte zu regulieren, so dass es nicht zu selbstverletzendem Verhalten kommt.
Das Empfinden für den eigenen Körper und eine regulierte Affektlage sind eine wichtige Basis für Aufmerksamkeit und Interaktionsfähigkeit. Das entstehende Selbstempfinden ist die Basis, auf der sich Beziehungsfähigkeit entwickeln kann.

Selbstwirksamkeit: Andrea ist eine junge Frau mit einer starken Spastik. Im Alltag ist es ihr nicht möglich, ihre Hände einzusetzen, da ihre Unterarme angewinkelt an den Oberkörper gezogen sind und sie ihre Finger kaum bewegen kann. In der Musiktherapie genießt Andrea es, die Schwingungen der Kantele (kleines Saiteninstrument), auf ihrem Oberkörper zu spüren, während die Therapeutin die Saiten an­zupft. Ihre Freude über das Empfinden geht mit einer leichten Anspannung ihres Körpers einher und ihre Finger strecken sich nach vorne. Die Therapeutin bringt die Kantele in eine Position, in der Andrea die oberste Saite mit ihrem Zeigefinger berührt und durch eine kleine Bewegung zum Klingen bringt. Durch das Gefühl an ihrem Finger und den gleichzeitig erklingenden Ton bemerkt Andrea, dass sie selbst den Klang hervorgerufen hat. Die Therapeutin unterstützt dieses Erleben durch ein Lied, in dem sie über Andreas Spiel singt.
Schwerst behinderte Menschen sind auf umfangreiche Unterstützung im Alltag angewiesen. Die umfangreiche Pflege und Versorgung ist einerseits lebensnotwendig, andererseits fehlen häufig Möglichkeiten und Freiräume, eigene Aktivität zu erleben und selbstständig Einfluss auf die Umgebung nehmen zu können. In der Musiktherapie können Bewegungen, Klänge und Laute, die zu Beginn noch ohne eine Intention auftreten, vom Musiktherapeuten mit einem Situationslied besungen, imitiert und begleitet werden. Der Therapeut bietet Instrumente an, die den körperlichen Möglichkeiten eines Menschen entsprechen und für ihn gut spielbar sind.

Zwischenmenschlicher Kontakt: Thilo gelingt es, mit Unterstützung der Therapeutin auf eine Trommel zu schlagen. Dieses Erlebnis löst bei ihm sichtbar Freude aus. Er bewegt den Trommelschlegel ein zweites Mal, die Trommel erklingt und Thilo lacht. Er wendet seinen Kopf der Therapeutin zu und es entsteht ein Blickkontakt, mit dem die Freude über das Trommelspiel zwischen Therapeutin und Thilo ausgetauscht wird.
Ein Blickkontakt, mit dem Emotionen ausgetauscht oder geteilt werden, ist im Kontakt zu Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung ein eindrückliches Erlebnis, besonders, wenn ein Mensch im Alltag oft unruhig ist und eine Kontaktaufnahme selten gelingt. Voraussetzung für einen interpersonellen Blickkontakt ist, wie oben beschrieben, eine regulierte Affektlage und ein Empfinden für den eigenen Körper und die Emotionen. Auf dieser Basis sucht ein Mensch danach, sein Erleben über den Blickaustausch mit einem anderen Menschen zu teilen.

Zusammenfassung: Ist ein Mensch mit schwerster Mehrfachbehinderung nicht dazu in der Lage, über Sprache, Blicke oder Berührungen Kontakt zu anderen Menschen zu suchen, bleibt er emotional sehr allein. Es liegt oftmals in den Händen von Familie, Betreuern und Therapeuten, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. Je schwerer ein Mensch beeinträchtigt ist, desto bedeutender ist es, den jeweiligen Entwicklungsstand einschätzen zu können, um eine adäquate Art und Weise des Kontaktes zu finden, oder, wie Bodelschwingh es ausdrückt, die Sprache des Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung zu erlernen, damit Kommunikation entstehen kann. Durch musiktherapeutische Interventionen, die dem sozio-emotionalen Entwicklungsstand des Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung entsprechen und die auch dann wirksam werden, wenn ein Mensch noch nicht Nach- oder Mitmachen kann, entsteht diese gemeinsame Sprache, die Kontakt und Begegnung schafft.

Die Autorin:

Dr. Silke Reimer
Musiktherapeutin DMtG und Dipl. Instrumentalpädagogin, arbeitet seit 1999 als Musiktherapeutin mit Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung. Schwerpunkt ihrer Unterrichts- und Forschungstätigkeit ist entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie.

Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

„Vom Klang des Selbst“

„Zwei Seelen wohnen – ach! –
in meiner Brust.
 Die eine will sich von der anderen trennen.“ (Goethe, Faust I)

„Faust beklagte, dass er zwei Seelen in seiner Brust habe.
Ich habe eine ganze sich zankende Menge.
Da geht es zu wie in einer Republik.“ (Bismarck)

Wir alle kennen diese inneren Ambivalenzen und Konflikte. Sie machen einerseits menschliche Grundthemen aus, können andererseits aber auch die Chance auf Wachstum, persönliche Entwicklung und Heilung in sich tragen.1)
Heute lade ich Sie zu einer Übung ein, die sich eignet zur Klärung innerer Zweifel, zur Entscheidungsfindung oder zur Entspannung zehrender Ambivalenzen und widerstrebender Persönlichkeitsteile. Dabei stellt sich die Methode der kreativen Externalisierung von Persönlichkeitsteilen als besonders geeignet dar, in welcher Ideen aus der „Internal Family Systems Therapy“ mit Bodenankern, sowie mit musiktherapeutisch-körperorientierten Elementen kombiniert werden. Die Übung besteht im Erspüren und Darstellen von zwei verschiedenen Persönlichkeitsteilen, sowie der Kommunikation zwischen dem Selbst und diesen Teilen. Sie ist geeignet sowohl zur Selbstfürsorge und Selbstbehandlung, als auch in Einzel- und Gruppenpsychotherapie oder Selbsterfahrung einsetzbar.
Teile sind – sehr vereinfacht gesagt – neuronale Erfahrungsnetzwerke und multisensorisch gespeicherte Erinnerungsspuren in unserem Gehirn. Richard C. Schwartz übertrug die systemische Sichtweise aus der Familientherapie auf die Innenwelt und respektierte die Multiplizität unserer inneren Anteile als etwas Naturgegebenes, anstatt sie als Störung zu sehen. So entwickelte er eine neue Methode, die „Internal Family Systems Therapy“ (IFS).2) Inzwischen ist IFS in den USA als evidenz-basiertes Verfahren anerkannt und seine besondere Wirksamkeit in fünf Bereichen festgestellt: Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens, Verbesserung von Angst, Depression, körperlicher Gesundheit und persönlicher Resilienz.
In der IFS wird das „Selbst“ der Menschen als weise, kompetent und unverletzt angesehen. Im Zustand des Selbst erlebt der Mensch Empathie für seine Persönlichkeitsteile, seine verschiedenen Seiten und Facetten. Ein IFS-Grundprinzip (das diese Methode auch von anderen Teile-Therapien unterscheidet) besteht darin, dass die Beziehung zu den Teilen grundsätzlich vom Selbst ausgehend gestaltet wird, so dass möglichst keine Interaktion der Teile untereinander stattfindet.3)
Für die Durchführung dieser Übung sind etwa 45 Minuten erforderlich und ein Raum mit ausreichend Platz am Boden. Wenn irgend möglich, ziehen Sie ihre Schuhe aus. Sollten Sie die Übung für ein bestimmtes Anliegen machen wollen, so könnte es erleichternd sein, sich von einer Person Ihres Vertrauens die einzelnen Schritte begleitend vorlesen zu lassen.
In den Schritten 1., 4. und 6., in denen zum Tönen angeregt wird, ist unzensiert und absolut bewertungsfrei jeglicher hörbarer Stimmausdruck möglich: summen, singen, Konsonanten-Geräusche, Atemgeräusche… Vermieden werden sollte jedoch das Sprechen, es kommt erst ganz zum Schluss beim Austausch (8.) zum Zuge. Das behutsame Mittönen der anleitenden Person kann ggf. den Stimmeinsatz erleichtern, ihn schützend begleiten.
Benötigte Materialien: 3 große, weiße, runde Pinnwand-Karten oder 3 kleine Blätter weißes Papier (DIN A5) und Farbstifte oder Wachskreiden, Heft und Stift zum Aufschreiben

Und nun der Ablauf der Übung in 8 Schritten:
Innerlich Kontakt zum „Selbst“ aufnehmen (das ist dort, wo Sie gelassen sind, vertrauensvoll, zuversichtlich, interessiert, offen, neugierig, mitfühlend, mutig, kreativ, verbunden, klar, verlässlich, zentriert; wo Sie in Ihrer Mitte ruhen; wo Sie Kontakt zu ihren Herzensqualitäten haben…).
Ein Symbol, eine Farbe, etwas Atmosphärisches dazu auf ein Blatt skizzieren.
Dem Bild einen Platz am Boden geben.
Sich mit einem bewussten Schritt mit Ihren Füßen in das Bild hineinstellen und dabei die sofortige Körperreaktion wahrnehmen, spontane Gedanken, Gefühl, Empfindung.
Dies hörbar ausdrücken im angenehmen, wohligen Tönen „für sich selbst“ (z.B. summen, singen, Atemgeräusch…).
Mit einem bewussten Schritt wieder aus dem Bild heraustreten.
Zwei verschiedene Persönlichkeitsteile wahrnehmen (A und B):
Beide Teile mit einem Symbol/Farbe/Strichen/farblich Atmosphärischem auf je einem Blatt malend skizzieren.
Den beiden Blättern in Beziehung zum „Selbst“ auf den Boden einen Platz geben.
Sich in den Teil A in einem bewussten Schritt mit den Füßen hineinstellen: sofort die spontane Körperreaktion wahrnehmen, Gedanken, Gefühl, Empfindung, Veränderung des Atems…
„Was möchte der Teil, dass Sie von ihm erfahren?“
„Was glaubt der Teil, wozu er gut ist?“
Wieder heraustreten, sich lösen vom Teil A.
Sich erneut in das „Selbst“-Bild hineinstellen:
„Was fühlen Sie diesem Teil A gegenüber?“
„Gibt es etwas, das Sie ihn wissen lassen möchten?“
Dies hörbar und sichtbar ausdrücken mit einer Bewegung/Geste/dem Atem/mit Tönen, Lauten, Stimmklang, Geräuschen/Wort, Satz/Gedanke… und lassen Sie es zu dem Teil A hinfließen.
Stille.
Heraustreten aus dem Bild, Abstand nehmen.
Jetzt die 3 Bilder ggf. anders gruppieren, ihre Plätze am Boden verändern – so, wie es sich jetzt passender anfühlt
Sich in den Teil B mit einem bewussten Schritt hineinstellen: sofort die spontane Körperreaktion wahrnehmen, Gedanken, Gefühl, Empfindung, Veränderung des Atems…
„Was möchte der Teil, dass Sie von ihm erfahren?“
„Was glaubt der Teil, wozu er gut ist?“
Wieder heraustreten, sich lösen von Teil B.
Sich erneut in das „Selbst“-Bild hineinstellen:
„Was fühlen Sie diesem Teil B gegenüber?“
„Gibt es etwas, das Sie ihn wissen lassen möchten?“
Drücken sie dies hörbar und sichtbar aus mit einer Bewegung/einer Geste/dem Atem/mit Tönen, Lauten, Stimmklang, Geräuschen/Wort, Satz/Gedanke… und lassen Sie es zu dem Teil B hinfließen.
Stille.
Heraustreten, Abstand nehmen.
Die 3 Bilder nochmals anders gruppieren, ihre Plätze am Boden verändern – so, wie es sich jetzt stimmiger anfühlt.
Wichtig: Zum Abschluss eine gute Endposition für alle drei Bilder am Boden finden und diese mit etwas Abstand auf sich wirken lassen.
„Gibt es etwas, was Sie mit Ihren Teilen verabreden möchten? Möchten Sie zu einem anderen geeigneten Zeitpunkt nochmals Kontakt mit ihnen aufnehmen?“
„Bedanken Sie sich bei ihren Teilen für deren Kooperationsbereitschaft.“
Schreiben Sie nieder, was Sie entdeckt, was Sie wiedergefunden haben, was sich heilsam und unterstützend verändert hat. Wenn möglich, ist ein Austausch zu zweit zu empfehlen bzw. ein Nachgespräch in der Gruppe – ohne jedoch das als heilsam Erfahrene zu zerreden, es zu „zeranalysieren“.
Sollten Sie sich in einem fragilen psychophysischen Gesundheitszustand befinden, so empfehle ich sehr, die Übung in Begleitung einer kompetenten Person Ihres Vertrauens zu machen.
Ich wünsche Ihnen klärende, heilsame und klangvolle Erkundungen Ihrer Innenwelt im Außen und freue mich, wenn Sie mir Ihre Erfahrungen mitteilen mögen:
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Die Autorin:

Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen, körperorientierter Therapie und systemischer Therapie mit der inneren Familie (IFS). Sie ist tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Musiktherapie- und Bewusstseinsforschung), sowie in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching). Seit fast 40 Jahren leitet sie Seminare, bildet aus und hält Vorträge weltweit. Umfangreiche Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie. Weitere Informationen: www.SabineRittner.de

Anmerkungen
1) Sonneborn, Uta (2013): Die Systemische Therapie mit der Inneren Familie. Psychotherapie 18 Jg. (2013), Bd. 18–2. München: CIP-Medien, München.
2) Büchertipps:
Schwartz, Richard C. (2016): Systemische Therapie mit der inneren Familie. Vorwort von Helm Stierlin. Stuttgart: Klett-Cotta.
Holmes, Tom und Laurie (2013): Reisen in die Innenwelt. Systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen. München: Kösel.
3) Internetadresse für mehr Informationen: www.ifs-europe.net

Heft 33 (2018) ist erschienen!

Musiktherapie und Schwerstmehrfachbehinderung

Das nächste Schwerpunktthema widmet sich der therapeutischen Arbeit mit Menschen unter den Lebensbedingungen einer Schwerst- oder Schwerstmehrfachbehinderung. Es erscheint in einer Zeit, in der der stürmische Übergang von der „Basalen Stimulation“ (Bienstein/Fröhlich) zur „Basalen Bildung“ (Mall und Fornefeld) stattfindet. Musiktherapie wird in diese eingebunden werden, weil das Gesamtkonzept die seelisch-geistig-körperliche Ganzheitlichkeit jedes Menschen
unabhängig von seinen gesundheitlichen Voraussetzungen – und etwa vor dem Hintergrund der Existenzanalytischen Psychotherapie und Logotherapie von Viktor E. Frankl – betont.