Mit Musik durchs Leben oder Die Musen und das Nilpferd

– zum 70. Geburtstag von Hans-Helmut Decker-Voigt

 

 

Vorbemerkung: Dieser Beitrag zielt nicht darauf ab, das Lebenswerk von Hans-Helmut Decker-Voigt in seiner Gesamtheit nachzuzeichnen (allein die Aufzählung seiner wissenschaftlichen und belletristischen Publikationen würde die mir hier zur Verfügung stehende Zeilenzahl übersteigen). Stattdessen geht es mir um einen persönlicheren Zugang zum Menschen Hans-Helmut Decker-Voigt, einen Zugang über die Musik – verbunden mit Auszügen aus einigen seiner Bücher (wie im Titel schon erwähnt: das Nilpferd Pummel, Entwicklungspsychologie am Beispiel einer Nilpferdkindheit). Jene Musik, die ihm wichtig war und die uns mit ihm verbindet – mehr oder anders, als es uns vielleicht bekannt ist.
Einmal im Studienjahr – meist im Sommer – lud er den ganzen Jahrgang zu sich nach Hause ein: nach Allenbostel. Ein kleiner Ort ohne Straßennamen inmitten der Lüneburger Heide. Neben dem Wohnhaus – einem umgebauten Schafstall – befindet sich das „Studierhaus“, in welchem die Seminare abgehalten wurden (und einmal die Fußball-EM geguckt wurde, aber das ist eine andere Geschichte…). Neben den zahlreichen Musikinstrumenten ziehen die bis unter das Dach reichenden Bücherregale die neugierigen Blicke der Eintretenden auf sich – vollgepackt mit Schriften in vielerlei Sprachen über Musiktherapie, Psychologie, Kunst, Philosophie, Theologie und Musik… über ihnen wachend, auf ovalen Holzschildern entlang der Galerie platziert, die Namen der neun Musen: Klio, Melpomene, Terpsichore, Thalia, Euterpe, Erato, Urania, Polyhymnia und Kalliope. Blickt man auf die siebzig Jahre von Hans-Helmut Decker-Voigt zurück, so wird man das Gefühl nicht los, dass manche dieser Musen an vielen Stationen seines ungewöhnlichen und kunst-vollen Lebensweges Pate gestanden haben.

Klio (die Rühmende, die Muse der Geschichtsschreibung)
Wenn ich mich richtig erinnere, so hat uns Decker-Voigt (so die gebräuchliche Bezeichnung im Studierendenjargon – ohne Anrede und Titel) in jenem Studierhaus im Sommer 2004 das Arbeitsblatt zum „Exposé im Zusatz- und Aufbaustudium“ ausgeteilt. Dort heißt es erklärend:
Damit ist ein 10-minütiger Vortrag gemeint, der vorzugsweise frei gesprochen wird. Es ist möglich mit der Vortragsform zu spielen und gestalterische Hilfen zu nutzen. Das Exposé soll ermöglichen:
über unsere Arbeit reden zu lernen,
Worte zu finden für Szenen im eigenen Leben, wo sich wichtige musikalische Schlüsselerlebnisse ereigneten.
An diese Aufgabe angelehnt habe ich (quasi in Umkehr der damaligen Rollen) im Vorfeld dieser „Geschichtsschreibung“ gebeten, Musiken zusammenzustellen, die für die einzelnen Dekaden seines Lebens bedeutsam und prägend waren; eine Art „musikalisches Lebenspanorama“ (vgl. Isabelle Frohne-Hagemann und Karin Schumacher).
Die Metapher des Lebens als Reise ist nicht neu – so sind beispielsweise von Herman Melville, dem Schöpfer von Moby-Dick, die Zeilen überliefert: „Das Leben ist eine Reise, die heimwärts führt“ („Whoever afflict us, whatever surround, life is a voyage that’s homeward-bound!“, White-Jacket, 1850). Und von Moby-Dick ist es – zumindest evolutionsbiologisch – nur ein kleiner Schritt zum Hippopotamus amphibius, dem Nilpferd, als dessen nächste Verwandte die Wale gelten. Und auch die Geschichte von Pummel nimmt uns mit auf eine Reise, die „heimwärts“ führt: das Nilpferd-Kind findet nach einer narzisstischen Kränkung über eine Phantasiereise zu sich selbst – und zu einem neuen Selbstbewusstsein (entwicklungspsychologisch-empathisch und weise kommentiert von Decker-Voigt). Und natürlich spielt die Musik – insbesondere das Singen – eine prominente Rolle in der Fabel von Pummel, der nun pünktlich zum 70. Geburtstag seines Kommentators digitale Karriere macht. Im gedruckten Pummel heißt es auf Seite 16 (Decker-Voigt, 1998, 2. Aufl.):
Ansonsten aber wird Musik den späteren Pummel freundlich stimmen, entspannen lassen, wenn ihm ein Lied am Bettrand gesummt wird, wird ihn begeistern, wenn er seine Lieblingsarie in der Oper hört – ferne Verwandte der ersten Töne von der Mutter, die Pummel bereits aus seiner intrauterinen (innerhalb des Uterus) Zeit kennt. Musik, Töne sind die ältesten Gepäckstücke, die wir gerne auf Reisen mitnehmen. Auf Übergänge…
Den Spuren solcher musikalischen Weggefährten, Gepäckstücke und Übergangsobjekte im Leben von Hans-Helmut Decker-Voigt wollen wir in 10-Jahres-Schritten folgen:


1. Lebensjahrzehnt (1945–1955)
Es stellt sich zunächst die Frage, wie Hans-Helmut Decker-Voigt ohne Musik durchs Leben gekommen wäre? Er wuchs zusammen mit seiner Mutter im großelterlichen Pfarrhaus in Celle auf, das durch den „Logos“, die Sprache, und durch große Musikalität gekennzeichnet war – und das, obwohl es wenig Gründe gab, in den ersten Jahren Freudengesänge anzustimmen. Das Pfarrhaus erholte sich mit 30 Flüchtlingen von seiner Position im offiziellen Widerstand zum Nationalsozia­lismus, dem auch der Vater Decker-Voigts als Offizier wie auch Pastor folgte und drei Tage vor der Geburt Decker-Voigts hingerichtet wurde. Der nächste Schicksalsschlag war eine von Krankheit und langjähriger Bettlägerigkeit geprägte Kindheit – infolge einer Polio- und Tuberkuloseerkrankung. Doch noch am Krankenbett wurde Melpomene, die Muse der Tragödie, von Terpsichore verdrängt. Geküsst von dieser „fröhlich im Reigen tanzenden“ Muse wurde Hans-Heinrich-Helmut Michael Hermann (so der vollständige Name) von zahlreichen Verwandten und Anverwandten „besungen“ und unterhalten. Das Spek­trum – so Decker-Voigt im Rückblick heute – reichte von Paul-Gerhard-Liedern wie „Nun ruhen alle Wälder“ bis hin zum sich über die Obrigkeit lustig machenden Quatschlied „O hängt ihn auf“. In einem Interview mit Udo Baer (therapie kreativ, 2004) spricht Decker-Voigt davon, dass zeitweise seine Liegekarre in die Küche geschoben wurde, wo ihm mit Stimme, Flöten und Percussion-Instrumenten „Klanggeschichten“ erzählt wurden. Und wenn keiner da war, habe er sich selbst sein „Musiktheater“ gemacht… willkommen Thalia!
Es verwundert nicht, dass Decker-Voigt später immer wieder so sehr die Container-Funktion der Musik betont, oder mit Paul Gerhard gesprochen:


Breit aus die Flügel beide
o Jesu meine Freude
und nimm dein Küchlein ein
will Satan mich verschlingen
so laß die Englein singen
Dies Kind soll unverletzet sein


2. Lebensjahrzehnt (1955–1965)
Im Zuge seiner Rehabilitation machte Decker-Voigt früh auch mit der (sozusagen) funktionellen Musiktherapie Bekanntschaft: Mithilfe von Militärmusik (wie dem Fehrbelliner Reitermarsch) sollte er zum Wieder-Gehen-Lernen animiert werden. Gleichzeitig stellten diese Märsche – oder aber auch das Deutschlandlied – eine biographische Verbindung und Auseinandersetzung mit dem toten Vater (vor dem Theologenberuf war dieser Rittmeister) dar. In dieser Dekade trat aber auch Erato, die Muse der Liebesdichtung, an sein Bett und in sein Leben. Kontrafaktisch wurde da aus „Jesu meine Freude“ ein sehnsuchtsvoll anhimmelndes „Irmgard meine Freude“ und es geschah der Kirchenaustritt (mit späterem Wiedereintritt).


3. Lebensjahrzehnt (1965–1975)
Euterpe, die Erfreuende, die Muse der Lyrik und des Flötenspiels, stand wohl während der dritten Lebensdekade Pate: In diesen Zeitraum fallen sowohl die ersten Publikationen (der Freischreib­roman „Der zweite Schritt vor dem ersten“ oder „Minnesöldner“, vier moderne Liebesgeschichten) als auch das Studium der Musik in Trossingen. Als charakteristisches Musikstück nennt Decker-Voigt Vivaldis Flötenkonzert Nr. 2 in G-Moll (Op. 10) u.a., seine Lieblingssoli bei ersten Konzerttourneen. Mit neuen Funktionen kamen auch neue Musikgattungen und -genres in sein Leben: „‚Eines schickt sich nicht für alle‘ und elend viele andere Kanons bei offenem Singen (als Musikschulleiter in Uelzen) und erste Pop-Kontakte (als Fachhochschullehrer in Düsseldorf, der seinen Studierenden zuliebe Pop-Musik zu respektieren begann und sich bei ‚Play Bach‘ mit ihnen auch am Klavier musizierend traf)“. Zu diesen ersten Pop-(Kon)-Takten gehörte auch ein Song der Beatles:


Because the world is round
It turns me on
Because the world is round
Love is old, love is new
Love is old, love is you
(Lennon/McCartney, 1969)


4. Lebensjahrzehnt (1975–1985)
In „Mit Musik ins Leben“ schreibt Decker-Voigt (2008, S. 182f.):
Das Lied von der Krabbe „Krabbelkrubbelkri“ war der Renner in einer jungen Studentenfamilie: „Die Krabbe Krabbelkrubbelkri spazierte einst im Sand, sie krabbelte bei Sahlenburg in Richtung Badestrand. Krabbelkribbel, krabbelkribbel – in Richtung Badestrand…“ Der 18-monatige Sohn der studentischen Familie verstärkte den elterlichen Konzertgesang mit „abbe-abbe“, dann zwei Tage später mit „abbe-ibbe“ und von Anfang an mit jenen Krabbelbewegungen, die die Mutter auf der Haut ihres Sohnes bei der entsprechenden Stelle machte. Auch hier tritt jenes Phänomen der unbedingten Beibehaltung und Bevorzugung, Wiederholung dieses Liedes auf (…). Besagte Familie zählte für die Krabbe Krabbelkrubbelkri in einer Woche über 160 Aufführungen (…)
Es ist nicht überliefert, wie häufig Decker-Voigt das Krabben-Krabbellied mit seinen beiden Töchtern gesungen hat – Polyhymnia lässt grüßen –, aber auf jeden Fall taucht dieser Titel als erstes Musikstück in dem Jahrzehnt auf, das mit „erster begeisterter Vaterschaft“ einherging. Wie für Decker-Voigt im Speziellen (und für MusiktherapeutInnen im Allgemeinen) typisch, ist die Bandbreite der rezipierten und produzierten Musik sehr groß und stilistisch ungewöhnlich variabel. Entsprechend ist es von „Stock und Hut steht im gut“ zu Stockhausen nur ein kleiner Spaziergang: So führte Decker-Voigt als Fachhochschullehrer an der Ev. Fachhochschule Düsseldorf-Kaiserswerth mit Studierenden und Menschen mit geistiger Behinderung den „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ von Karlheinz Stockhausen auf.


5. Lebensjahrzehnt (1985–1995)
Alte Bekannte treten wieder auf: zum einen der Komponist eines Werkes, das den schönen und einprägsamen Titel und Untertitel trägt:
„Das Wohltemperirte Clavier oder Præludia – zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib auffgesetzet …“
Die Bach’sche Musik, die ihn schon am Krankenbett begleitet hat, scheint wie ein Anker in Decker-Voigts Leben: denn auch in der fünften Lebensdekade tritt zum anderen Melpome wieder auf oder wie Decker-Voigt den Verlust der zwei Seminar-Häuser, für die er finanziell geradestand, mit einem Wiener Original zusammenfasst: „O du lieber Augustin, alles ist hin.“ Inhaltlich waren die Häuser erfüllt vom „Lesley Institut für Medien-und Ausdruckstherapie“ (deutsche Filiale des Lesley College in Cambridge/USA), das er mit Paolo J. Knill gründete und leitete und was danach als „ISIS International School for Interdisciplinary Studies“ und EGS European Graduate School in die Schweiz ging.
Gleichzeitig befindet sich an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater vieles in Sachen Musiktherapie im Aufbau – begleitet und untermalt von einer Musik, die zur Symbolisierung des Universitätsbetriebes wohl geeignet ist wie keine andere: die freie Improvisation – das „Spiel ohne Maske“:
Die Schauspieler auf den Bühnen antiker Theater ließen durch ihre Masken, mit denen sie ihre jeweiligen Rollen anzeigten, ihre Stimme hindurchtönen. Im Spiel mit Musik hingegen, im frei gestalteten Klang einer Improvisation, gibt der einzelne Mensch an einem der vielen Ton-, Klang- und Geräuschwerkzeuge ohne Umweg, ohne Maske seinen seelischen Kräften Ausdruck. Dis­tanz und Nähe, Wechsel- und Dauerhaftes, sowohl die Übertreibung als auch die Verkümmerung dieser Aspekte findet sich im Raum des musikalischen „Spielraums“ wieder. (Decker-Voigt, 1991, S. 234)


6. Lebensjahrzehnt (1995–2005)
Kalliope, die Muse der Rhetorik, der Philosophie, der Wissenschaften, Mutter von Orpheus, hatte sicherlich ihre Hand im Spiel, als es Decker-Voigt gelang, im Jahr 1996 den Musiktherapie-Weltkongress nach Hamburg zu holen und erstmals sämtliche damals 42 deutschen West- und Ostgruppierungen im „Nationalen Komitee“ als Vorbereitungsbasis im CCH zusammenzubringen – mit den dann anreisenden Kolleginnen und Kollegen aus 52 Nationen und Bundeskanzler Helmut Schmidt als Schirmherrn. Mit dieser Phase und im ersten Jahrzehnt der Amtsnachfolge von Johannes Th. Eschen, zu deren Anfang er in einer Bleibeverhandlung die Gründung eines eigenen Instituts und Promotionsstudiengangs zur Bedingung machen konnte, waren für Decker-Voigt zahlreiche Auslandsreisen und die wachsende Bekanntschaft mit außereuropäischer Musik verbunden. Stellvertretend dafür sei die „Misa Criolla“ des argentinischen Komponisten Ariel Ramírez erwähnt. Den Gegenpol bildete die Hausmusik in der Lüneburger Heide mit der „angetrauten Geliebten Christine“ und den beiden Töchtern, z.B. mit dem Weihnachtskonzert von Arcangelo Corelli (aus Op. 6, Concerti grossi, Nr. 8 in G-Moll).


7. Lebensjahrzehnt (2005–2015)
Dieses Mal meldet sich Melpome via „Cyber-Mobbing“ zu Wort und Decker-Voigt schleudert ihr ein Mozart’sches „Dies Irae“ entgegen. Liebe, Neid, Schuld und Kunst sind die vier großen Themen, denen sich Decker-Voigt in der autobiographisch inspirierten Erzählung „Vom Selbstmord des Rufmörders“ annimmt. Ein Schatten, der über dieser Dekade und wegen der „Ewigkeit“ jeder Internet-Verfolgung auch in der Zukunft liegt und der nicht nur die Freude an der Musik zu vergällen droht. Doch es gibt noch Bach und seine Partiten für Cello-Solo, eingespielt von Mstislaw Rostropovich (1927–2007). Der Ausnahmecellist gründete mit seinem und dem Namen seines Lehrers und Vaters in Orenburg die L.u.M. Rostropovich Hochschule für Kunstwissenschaften und Musik als staatliche Hochschule. Decker-Voigt erhielt zusammen mit dem hochbetagten M. Rostropovich von der Hochschule sowohl die Ehrenprofessur als auch den Dr. h.c. in Anerkennung seiner Verdienste für die Studiengangsgründungen für Musiktherapie in Osteuropa (welche meist infolge der vorangegangenen Übersetzungen seiner Bücher – u.a. auch in Asien – möglich wurden).
Und der Lebenskreis (vgl. „Lehrbuch Musiktherapie“, S. 105) dreht sich ein weiteres Mal weiter und mit begeisterter erster Großvaterschaft ertönen von Neuem die Kinderlieder – alte wie neue…


8. Lebensjahrzehnt (ab März 2015)


Vielleicht leben wir siebzig Jahre, vielleicht sogar achtzig – doch selbst die besten Jahre sind Mühe und Last! Wie schnell ist alles vorbei, und wir sind nicht mehr!
Psalm 90:10 (Die Bibel in heutigem Deutsch, Deutsche Bibelgesellschaft, 1983)


In Wien hat sie ihr Zuhause im ersten Bezirk, direkt am Donaukanal, wo sich heute Planetarium und Kino befinden: Urania, die Muse der Sternkunde. Was sagt uns der Blick ans Firmament, in die Zukunft? Urania ist nach der pythagoreischen Vorstellung der Sphärenharmonie der höchste Ton zugewiesen. Wohin führt uns das nächste Jahrzehnt – was hält es für Hans-Helmut Decker-Voigt bereit?
Von einem wissen wir bereits: Auf der Buchmesse 2014 wurden die beiden Bände von Teil 1 seiner Trilogie „Das Pfarrhaus“ präsentiert, Teil II und III folgen und beschreiben in einem Romanepos die Institution „seines Pfarrhauses“ von 1507 bis 2010. Ein sich seit 40 Jahren – neben aller Musiktherapie – in Entstehung befindendes „Ferment einer Mentalitätsgeschichte zu denen von G. E. Lessing, G. Benn, F. Nietzsche, S. Lenz“ (der Philosoph und Theologe Jendris Alwast).
Was darf und soll man ihm als „Soundtrack“ für die kommende Zeit wünschen? Ihm, der unzweifelhaft zu den Pionieren der Musiktherapie gehört. Der aus dem Französischen stammende Ausdruck „Pionier“ bezeichnete ursprünglich die Fußsoldaten (pion), deren Aufgabe darin bestand, den Vormarsch der restlichen Armee vorzubereiten und zu ermöglichen, indem entsprechende Wege und Brücken gebaut wurden. Dies hat er – wenn auch vielleicht nicht ganz so martialisch – stets als seine Aufgabe gesehen: neue Wege eröffnen, Brücken bauen, um die Musiktherapie voranzubringen. Die Musik – wie wir oben gesehen haben – und die Musik seiner Sprache waren dabei nicht nur ein Medium einer künstlerischen Therapieform, sondern ein Lebenselixier, das für ihn von klein auf „notwendig und Not wendend“ war (um eines seiner beliebten Wortspiele aufzugreifen).
Bach zitierend schließt Decker-Voigt in „Schulen der Musiktherapie“ mit dem Satz „So kämpfet nun, Ihr munt’ren Töne“ – in diesem Sinne seien dem Jubilar noch viele kämpferische und muntere Zeiten wie Töne – im Studierhaus und an anderen Orten (wie Pummels gelber Bucht) – gewünscht! Ad multos annos!


Wien, Dezember 2014


Literatur und weitere Informationen zu Biographie und Werk:
http://www.decker-voigt-archiv.de

 

Der Autor:

Thomas Stegemann
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. sc. mus.
Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Abteilung für Musiktherapie, Rennweg 8, A-1030 Wien.
Seit 2011 Professor für Musiktherapie (Dipl.-Musiktherapeut), Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Paar- und Familientherapeut (BvPPF). Gitarrenstudium in Los Angeles, USA. Medizinstudium in Mainz und Kiel. AiP an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen. Aufbaustudium Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater, Hamburg. Von 2002–2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf; 2008–2010 leitender Oberarzt. 2013 musiktherapeutische Promotion bei Prof. Dr. Decker-Voigt zum Thema: „Stress, Entspannung und Musik – Untersuchungen zu rezeptiver Musiktherapie im Kindes- und Jugendalter“.
Forschungsschwerpunkte: Musiktherapie und Neurobiologie; Rezeptive Musiktherapie im
Kindes- und Jugendalter; Familien-Musiktherapie.
Homepage: www.thomasstegemann.at
E-Mail: stegemann(at)mdw.ac.at

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

„Musik und Sprache“, unser aktuelles Schwerpunktthema, ist eines der „klassischen“ und doch immer wieder aktuellen Themen der Musiktherapie. „Musik und Sprache sind Schwestern“, so postuliert z.B. Rosemarie Tüpker, die Verfasserin eines unserer zu diesem Thema gehörigen Schwerpunktbeiträge. Das kann man so sehen. Laut Kleinem Brockhaus bedeutet Sprache zunächst „die dem Menschen eigene Fähigkeit, äußere und innere Erfahrungen in besonderen Symbolen zu bezeichnen und auszudrücken. Damit wird es möglich, sich eindeutig zu verständigen, die Erfahrung anderer zu nutzen, Gedankliches in einer vom Träger ablösbaren Form weiterzugeben… und das Verhalten anderer… zu beeinflussen.“
In der Musiktherapie gibt es eine lange – und immer wieder gern aufgegriffene – Diskussionstradition, ob z.B. – bezogen auf eine prinzipiell gut reflexions- und verbalisierungsfähige Klientel – musikalisches Erleben stets auch versprachlicht werden sollte oder ob dieses Erleben für sich stehe. Tendenziell tendieren die dazugehörigen Aussagen aus Perspektive der Nachbarfächer wie Psychologie oder Medizin eher dazu, dass prinzipiell zusätzlich versprachlicht werden sollte. Die Aussagen, die der Musiktherapie-„Szene“ entstammen, sind deutlich uneinheitlicher.
Vieles spricht sicherlich für Versprachlichung, sei es zur Aufarbeitung oder Verfestigung des oft gemeinsam mit/in der Musik Erlebten, sei es zum Schutz vor zu regressivem Erleben, das Musik auch auslösen kann. Andererseits kann es – gerade bei z.B. rational-intellektualisierenden Abwehrstrukturen – hilfreich und sinnvoll sein, das Erleben eben gerade nicht sprachlich zu bearbeiten, sondern für sich „sprechen“ zu lassen. Nicht zuletzt bestehen auch bei Musiktherapeuten manchmal Tendenzen, im Zuge der psychotherapeutischen Beziehung dem Verbalen mehr, der Musik weniger Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Weiterlesen: Editorial

Heft 27 (2015) ist erschienen!

Musiktherapie und Sprachförderung


Durch die Prosodie, die Musik in der Stimme, lernen wir alle in den ersten zwei Lebensjahren die Musik und ihre Elemente als Hinführung zum Sprechen und zur Sprache zu nutzen. Die Konzepte, die Musik und Sprache therapeutisch verbinden, führen in unterschiedlichen Praxisfeldern zu Sprachförderung und Sprachentwicklung. Einblicke in Praxis und Forschung beinhaltet diese Ausgabe der MuG.

Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans Ulrich Schmidt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Klinikum Bremen-Nord
Das Psychiatrische Behandlungszentrum in Bremen Vegesack
Catarina Mahnke

Praxisvorstellung
Musiktherapeutische Praxis in Muttenz/Schweiz
Hans Peter Weber

Patienteninterview Neurologische Musiktherapie: Wenn Patienten aus dem Wachkoma erwachen
Alexandra Takats

Schwerpunktthema
Rosemarie Tüpker

Schwerpunktthema II: Spielen und Sprechen in der Musiktherapie
Eckhard Weymann

Ausbildung
Britta Sperling

Tagungsberichte Forschung Wissen: Praxisbericht über den neugegründeten Verein
Musiktherapie-Initiative e.V.
Tina Posselt

Fachtag Musiktherapie – voller Erfolg für BIM
Sita Pollmeier

Geisteskrankheit und Musik
Ana-Marija Markovina/Helmut Reuter

Forschung und Wissen Capriccio celebrale: Singangebote in Gruppen aus Sicht von Singleitern in klinischen Facheinrichtungen
Teil II: Risiken und Folgerungen
Gunter Kreutz/Katja Böhm/Wolfgang Bossinger/Stephen Clift

Hmmmmm – was war zuerst da? Dadada oder lalala?
Zum Verhältnis zwischen Musik und Sprache
Thomas Stegemann

Menschen und Orte: News und Hochschulnachrichten

Mit Musik durchs Leben oder Die Musen und das Nilpferd –
zum 70. Geburtstag von Hans-Helmut Decker-Voigt
Thomas Stegemann

Nachruf auf Franz Mecklenbeck
Hans Ulrich Schmidt

Buch und Medien

Zum Mitmachen
Musikfocusing
Selma Suzan Emiroglu

Kolumne AufgeMuGt
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Klinikum Bremen-Nord

Das Psychiatrische Behandlungzentrum in Bremen Vegesack

Von Catarina Mahnke

 

Bremen-Vegesack, ein Stadtteil innerhalb des Bremer Stadtbezirks Nord, liegt an der Mündung der Lesum in die Weser. Im 17. Jahrhundert wurde hier der erste künstliche Flusshafen Deutschlands angelegt und die Walfänger stachen von hier aus in Richtung Arktis in See. Im Laufe seiner fast 400jährigen Geschichte wurde Vegesack von der Schifffahrt, vom Schiffbau, vom Fischfang und der Fischverarbeitung geprägt. All das bescherte der Region einen gewissen Wohlstand, von dem die alten Kapitäns- und Kaufmannshäuser an der Weser und der Museumshafen noch heute zeugen. Bis weit in die neunziger Jahre war die hier ansässige Großwerft Bremer Vulkan AG der Hauptarbeitgeber in der Region. Der Konkurs der Bremer Vulkan Werft und damit einhergehend der Niedergang des verarbeitenden Gewerbes hatten zur Folge, dass es zu Abwanderung und Einwohnerverlusten kam. Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die tragenden wirtschaftlichen Strukturen und bedeutete einen extremen Einschnitt für das Selbstverständnis der Menschen im Bremer Norden. Bis heute hat der Bremer Norden mit einer hohen Arbeitslosenquote zu kämpfen. Alte, zum Teil restaurierte und moderne Bauten prägen heute das Stadtbild von Vegesack.
Das Klinikum Bremen-Nord, eine der insgesamt vier kommunalen Kliniken der Hansestadt Bremen, gehört zum Klinikverbund Gesundheit Nord. Sie verfügt über 559 Betten und beschäftigt rund 900 Menschen. Versorgt werden hier Patienten aus dem Stadtbezirk Nord und dem angrenzenden niedersächsischen Umland. Neben den regulären medizinischen Fachbereichen wie der Inneren Medizin, Chirurgie etc. verfügt das Klinikum über ein eigenes Psychiatrisches Behandlungszentrum.
Der Bremer Stadtbezirk Nord war in (gemeinde-)psychiatrischer Hinsicht lange unterversorgt. Bis zur Jahrtausendwende mussten psychiatrisch erkrankte Menschen aus dem Bremer Norden weite Anfahrtswege in Kauf nehmen, um im Klinikum Bremen-Ost (als Standort einer großen Psychia­trie) behandelt zu werden. 2001 wurde am Klinikum Bremen-Nord der Grundstein für das Psychiatrische Behandlungszentrum gelegt. 2002 startete das Behandlungszentrum mit einer psy­chiatrischen Station zunächst am Standort des Klinikums. Zeitgleich wurde mitten im Zentrum von Vegesack ein zweiter Standort auserkoren. Am Sitz eines ehemaligen Gesundheitsamtes wurde ein modernes zweistöckiges Klinikgebäude angebaut. Bereits 2003 konnte das Psychiatrische Behandlungszentrum mit einer zweiten stationären Einheit, einer Tagesklinik und einer Psychiatrischen Instituts­ambulanz seinen Betrieb aufnehmen, um seiner gemeindenahen psychiatrischen Pflichtversorgung noch besser gerecht zu werden. Im November 2014 wurde ein Erweiterungsanbau fertig gestellt und seitdem sind beide stationären Einheiten unter einem Dach vereint. Im Erdgeschoss befinden sich die Therapieräume für die Ergo- und Bewegungstherapie, Gesprächsgruppen, Visiten, Heilsames Singen etc. sowie ein Aufenthaltsbereich für tagesklinische Patienten. Zwei unterschiedlich große Innenhöfe, einer mit Bepflanzungen, laden bei gutem Wetter zum Verweilen ein. Die stationären Patienten sind auf der ersten und zweiten Ebene untergebracht. Auf jeder Ebene gibt es einen großzügigen Milieubereich, der sowohl Aufenthalts- als auch Speiseraum ist und Rückzugsmöglichkeiten bietet. Auf jeder Ebene gibt es ein Milieuteam aus pflegerischen Mitarbeitern. Diese arbeiten in der Bezugspflege (nach Peplau). Sie betreuen und unterstützen jeden einzelnen Patienten und sind jederzeit ansprechbar.
Es werden erwachsene Menschen aller Alterstufen mit (akut)psychiatrischen Erkrankungen (z.B. Psychosen, Suizidalität, Depressionen) aus dem Gesamtspektrum der Psychiatrie sowie Suchterkrankungen (Ausnahme Drogenabhängigkeit) behandelt. Das Behandlungszentrum bietet Platz für 87 Patienten. Diese teilen sich in 44 stationäre und 43 tagesklinische Plätze auf. Die Behandlung erfolgt in einem multiprofessionellen Team aus Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern, Pflegekräften und Spezialtherapeuten (Musik-, Kunst-, Ergo-, und Bewegungstherapeuten). Das allgemeine Setting des Behandlungszentrums gestaltet sich milieutherapeutisch und orientiert sich am Soteria-Konzept.
Die Wirkfaktoren von Soteria bilden den Kern der Behandlungsausrichtung und wurden in das ambulant-tagesklinisch-stationäre System übertragen. Hierbei wird der Blick auf die Gestaltung der therapeutischen Beziehung und die Aufrechterhaltung der Beziehungskontinuität gerichtet, d.h. jedem Patienten wird von der Aufnahme bis zur Entlassung ein Persönlicher Therapeutischer Begleiter (PTB) zugeordnet, der ihn während der gesamten Behandlung begleitet. Dadurch gestalten sich die Übergänge zwischen einer stationären, tagesklinischen oder ambulanten Behandlung fließend. Sämtliche Mitarbeiter aus dem Behandlungszentrum können die Rolle eines PTB übernehmen. Die Behandlungen werden individuell für jeden Patienten geplant und auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt. Das Therapieprogramm besteht aus einem Wochenplan mit unterschiedlichen Gruppenangeboten wie z.B. Psychoedukative Gesprächsgruppen, Training emotionaler Kompetenzen, Frauen- und Männergruppen, Progressive Muskelentspannung, verschiedene Suchtgruppenangebote, Ergotherapie, Bewegungstherapie, Yoga, Kunsttherapie und Musiktherapie.


Die Musiktherapie im Behandlungszentrum
Seit Bestehen des Behandlungszentrums ist Musiktherapie fester Bestandteil des Therapieangebots. Ich bin seit 2012 mit einer vollen Stelle im Behandlungszentrum als Musiktherapeutin tätig. Der Musiktherapieraum befindet sich im Altbau direkt über der Institutsambulanz und außerhalb des statio­nären/tagesklinischen Bereichs. Der Raum verfügt über eine Fläche von ca. 36 m2. Acht Personen finden hier genügend Platz, um sich an den Instrumenten auszuprobieren. Wer durch die Tür in den Raum kommt, sieht gleich zur rechten Seite ein großes weißes Regal, in dem unterschiedliche Arten von Instrumenten gelagert werden. Bekannte wie unbekannte und leicht handhabbare Instrumente aus verschiedenen Kulturkreisen sind hier zu finden. Weitere Instrumente verteilen sich im Raum, z.B. Xylophon, akustische Bassgitarre, Klangröhrenspiele, Congas, Cajon, Klavier und Teile eines Schlagzeugs. Durch die großen Fenster an den beiden Außenwänden wirkt der Raum hell und freundlich. Die Musiktherapie findet vorwiegend in Gruppen bis maximal acht Personen und immer vormittags statt. Vereinzelt arbeite ich im Einzelsetting, wenn ein Patient von dem Gruppengeschehen (noch) überfordert ist, aber dennoch von einer Musiktherapie profitieren könnte. In den täglich stattfindenden Team-Besprechungen wird vorher überlegt, ob und in welchem Setting Musiktherapie für einen Patient geeignet ist.
„Ich bin unmusikalisch!“, ist ein Satz, den ich sehr oft zu hören bekomme, wenn Patienten das erste Mal in die Musiktherapie kommen. Für die Teilnahme an der Musiktherapie sind keine musikalischen Vorkenntnisse erforderlich. Ängstlich unsicheren Patienten versichere ich, dass „nichts passiert, was sie nicht wollen“. Um ihnen die Scheu zu nehmen, tasten wir uns im wörtlichen Sinne zu Beginn an die Instrumente heran und sinnieren z.B. über die Herkunft, Materialbeschaffenheit und Klang. Patienten staunen immer wieder darüber, dass sie z.B. der Sansula einzelne Töne oder Melodien entlocken können. Oder sie lassen sich von dem zarten, weichen und glockenähnlichen Klang der Sansula berühren und möchten sie nicht wieder aus der Hand geben.
Dann lade ich die Gruppe zu einer gemeinsamen Improvisation ein. Es hat sich bei Patienten mit psychiatrischen Krankheitsbildern aus meiner Sicht gut bewährt, zu Beginn sehr strukturiert vorzugehen, indem ich z.B. einen rhythmischen oder harmonischen und Halt gebenden Rahmen spiele, in dem frei improvisiert werden kann, sowie der Hinweis, dass jede Improvisation „gefühlte sieben Minuten“ dauert, damit jeder auch die Gewissheit hat, dass die Improvisation ein Ende hat. Eine weitere Vorgabe (in Anlehnung an Lilli Friedemann, einer Pionierin der Gruppenimprovisation) ist, während des Spielens möglichst nicht zu sprechen oder nur so laut zu spielen, dass jeder hörbar ist. Während des gemeinsamen Improvisierens können Harmonie und Getragensein erfahrbar gemacht werden. Depressive Patienten können wieder Zugang zu ihrer Lebendigkeit erlangen und Patienten, die in ihrem bisherigen Leben wenig Halt und viele Unsicherheiten erfahren haben, können in der Musiktherapie einen „sicheren Ort“ finden. Neben der Gruppen- und Einzelmusiktherapie gibt es weitere (offene) musiktherapeutische Angebote wie z.B. die Jamsession, zwei Trommelgruppen und das Heilsame Singen.


Jamsession
Die Jamsession ist ein offenes musiktherapeutisches Angebot für Patienten, die selbst ein Instrument (z.B. Gitarre) spielen oder früher mal gespielt haben und hier die Möglichkeit erhalten, sich mit ihrem Instrument einzubringen. Die Jamsession wird auch von Patienten besucht, die über wenig bis keine instrumentellen Kenntnisse verfügen. Während in der Gruppenmusiktherapie sämtliche Instrumente zur Verfügung stehen, treffe ich hier eine kleine Vorauswahl aus dem mir zur Verfügung stehenden Instrumentarium, die sich aus meiner Sicht für eine Jamsession gut eignen. „Gejammt“ wird im Dur-Moll-System und immer am Freitagvormittag.
Durchschnittlich nehmen sechs bis acht Patienten an der Jamsession teil. Die Gruppe setzt sich zusammen aus ambulanten Patienten, die schon über längere Zeit dabei sind, sowie Patienten aus dem stationären und tagesklinischen Setting. Die Jamsession läuft folgendermaßen ab: Vorab sucht sich jeder ein Instrument aus. Jemand greift sich das Cajon, ein anderer nimmt sich eine Conga. Das Cajon sieht aus wie eine Holzkiste und klingt, wenn man mit den Händen rhythmisch auf die Schlagfläche schlägt, wie ein Schlagzeug. Die Conga ist eine schmalbauchige Fasstrommel. Beide Instrumente stammen aus der Karibik. Ein dritter probiert das pentatonisch klingende Xylophon. Ich selbst spiele Gitarre und beginne mit einer harmonischen Akkordfolge, die sich in diesem Fall an der vorgegebenen Tonart des Xylophons orientiert. Manchmal begleiten mich Patienten auf ihren Gitarren. Vorher zähle ich die Gruppe ein: „one, two, one, two, three, four…“
„Gejammt“ wird über verschiedene Akkordfolgen und altbekannten Popsongs wie z.B. „Let it be“ von den Beatles oder das ein oder andere Lied aus dem Repertoire der Heilsamen Lieder. Ängstliche und depressive Patienten, die sich (noch) nicht trauen, können dabei sein und zuhören. Nicht selten verfliegt die Scheu, wenn sie erleben, wie sich in der Gruppe Lust am Spielen entwickelt und der berühmte „kleine Funke überspringt“ und sie sich vorsichtig und zaghaft mit einer kleinen Rassel trauen, leise im Takt mitzugehen. In der Jamsession hat schon so mancher Patient die Freude am gemeinsamen zwanglosen Musizieren als wichtige Ressource für sich (wieder)entdecken und nutzen können. Für andere ist die Jamsession ein Versuch, sich an das aktive Musizieren heranzuwagen.


Trommelgruppe
Trommelgruppen als eine Form aktiver Musiktherapie finden sich in vielen musiktherapeutischen Angeboten psychiatrischer Kliniken. Trommeln ist (neben dem stimmlichen Ausdruck) eines der ältesten und ursprünglichsten Ausdrucksmittel. Mit Trommeln sind jene Trommeln gemeint, die „Fell und Fläche“ besitzen und mit den Händen bespielt werden. Hierbei fallen die Hände quasi in mehr oder weniger regelmäßigen alternierenden Abständen auf das Trommelfell. Rhythmen können so sinnlich erfahrbar gemacht werden und Halt und Struktur vermitteln. Dies geschieht z.B. durch gemeinsames Trommeln einfacher afrikanischer Rhythmen, sowohl ein- als auch zweistimmig. Freies Improvisieren innerhalb einer vorgegebenen rhythmischen Struktur ist ebenso möglich. Eine weitere Kombination zum Trommeln ist das Singen von Indianerliedern, afrikanischen Liedern und/oder das gleichzeitige Einbeziehen von Klanggesten. Klanggesten (auch „Bodypercussion“ genannt) sind Klänge/Geräusche, die mit dem eigenen Körper mittels der Hände, Füße und Finger erzeugt werden.
Es gibt zwei Trommelgruppen im Behandlungszentrum: eine offene und eine geschlossene Trommelgruppe. Hierfür stehen neun Congas und ein Cajon zur Verfügung. Beide Trommelgruppen finden einmal wöchentlich im Bewegungsraum statt. An der offenen Gruppe kann jeder Patient aus dem stationären, tagesklinischen und ambulanten Kontext teilnehmen. Es gibt Patienten, die nur einmal kurz „reinschnuppern“ und welche, die regelmäßig über einen längeren Zeitraum kommen. Die Gruppengröße variiert zwischen vier bis acht Teilnehmern.
Die geschlossene Trommelgruppe besteht aus insgesamt zehn Teilnehmern. Diese setzen sich zusammen aus vier Mitarbeitern (Musik-, Bewegungstherapeuten und zwei Pflegekräften) und drei ambulanten Patienten sowie drei Teilnehmern, die das Behandlungszentrum nur noch zum Trommeln aufsuchen. Diese Trommelgruppe hatte sich vor einigen Jahren formiert, um gemeinsam anspruchsvolle und mehrstimmige Trommelrhythmen einzustudieren und gelegentlich öffentlich aufzutreten.


Fallvignette
Frau Q. (Name geändert), Ende vierzig, wurde in der Kindheit von ihren Eltern stark vernachlässigt. Sie hat Geowissenschaften studiert, war mit einem Inder verheiratet und lebte einige Jahre in Indien. Die Ehe scheiterte, die Kinder leben beim Vater. In einem psychotischen Schub war sie vor einigen Jahren in suizidaler Absicht aus großer Höhe gesprungen. Sie überlebte schwerverletzt, ist seitdem körperlich sehr eingeschränkt und bewegt sich mit einem Rollator fort. Frau Q. wirkt verhärmt und verbittert, und sie ist schon einige Male im Behandlungszentrum stationär behandelt worden.
Frau Q. kommt das erste Mal in die offene Trommelgruppe. Sie möchte mittrommeln, lässt sich aber nur schwer auf den von mir vorgegebenen Rhythmus ein. Sie wirkt angespannt. Ich nehme innerlich Ärger wahr, blicke in die Runde und habe das Gefühl, dass sie absichtlich „daneben haut“. „Frau Q. möchte mich und die Anwesenden testen, ob wir sie aushalten“, denke ich. Frau Q. äußert, dass sie sich nicht anpassen möchte und es ihr auch schwerfalle, sich anzupassen. Ich melde ihr zurück, dass ich die Art ihres Trommelns wahrnehme, dass es für die restliche Gruppe schwierig sei, den Rhythmus zu halten und dass sie mit entsprechenden Rückmeldungen rechnen muss.
Ich schlage der Gruppe nun vor, gemeinsam ein afrikanisches Lied zu trommeln und zu singen. Frau Q. äußert sogleich, dass sie nicht mitsingen könne, da sie nicht singen kann, was für mich sehr nachvollziehbar ist, da ihre Stimme durch einen Luftröhrenschnitt in Mitleidenschaft gezogen ist. Ich spiele der Gruppe einen leichten Rhythmus vor und stimme dazu das westafrikanische Lied „Yemaja Assessu“ an. Alle Teilnehmer trommeln mit und einige stimmen in das Lied mit ein. Ich vernehme, wie Frau Q. sich traut leise mitzusingen und sich auf den Rhythmus einlässt. Sie wirkt gelöster und ihr Gesicht wirkt weicher. Um sie nicht zu beschämen, spreche ich sie vor der Gruppe nicht auf ihr Mitsingen an. Dann stimme ich das Indianerlied „Heya Nana“ an. Lauter und schneller werdend, langsam und leise wechseln sich ab. Das Lied endet mit einem kraftvollen und lauten Trommelwirbel und mit einem grandiosen „Indianerschrei“. Frau Q. strahlt mit leuchtenden Augen. Sie äußert, das habe ihr unglaublich großen Spaß gemacht. Sie habe endlich mal ihre Aggres­sionen lauslassen können. Es sei so befreiend gewesen.


Heilsames Singen
Singen hat hier eine lange Tradition. Seit Bestehen des Behandlungszen­trums findet einmal wöchentlich das „Singen für alle“ statt. „Singen für alle“ bedeutet, dass sowohl Patienten als auch Mitarbeitende mitsingen können. Geleitet wird dieses Angebot von einer pflegerischen Mitarbeiterin. Gesungen wird immer im Aufenthaltsraum der Tagesklinik. Das Repertoire beinhaltet Popsongs, Schlager und Volkslieder. Das Singen wird von einem der Oberärzte auf dem Klavier begleitet. Bis zu 20 Teilnehmer kommen regelmäßig zum Singen.
Ein weiteres wöchentlich stattfindendes Singangebot ist das „Heilsame Singen“.
Es handelt sich hierbei um ein leistungsfreies („Es gibt keine falschen Töne, nur Variationen“ – Wolfgang Bossinger) und gesundheitsförderndes Singen. Gesund ist dieses Singen deswegen, weil Forschungen auf diesem Gebiet gezeigt haben, dass das Immunsystem durch die vermehrte Bildung von Immunglobulin A gestärkt wird, Herz und Kreislauf auf gesunde Weise stimuliert werden, und das Gehirn und die Organe durch das vertiefte Atmen beim Singen besser mit Sauerstoff versorgt werden. Das Heilsame Singen habe ich in einer Weiterbildung bei dem Dipl.-Musiktherapeuten Wolfgang Bossinger kennengelernt. Das Besondere daran ist das Singen von „Chants“. Der Begriff „Chant“ kann mit „Gesang“ oder „Spirituelles Lied“ übersetzt werden und hat seinen Ursprung in spirituellen und religiösen Traditionen. Hierbei steht die Hingabe an das Singen im Vordergrund. Chants sind in der Regel Lieder aus allen Kulturen. Meistens bestehen sie aus kurzen Texten und eingängigen Melodien, die leicht erlernbar sind und sich gut singen lassen. Das gemeinsame Singen von Chants bewirkt, dass Geist und Seele zu innerer Harmonie und Ruhe finden. Es werden sogenannte Glückshormone wie Serotonin, Noradrenalin und Beta-Endorphine ausgeschüttet. Die Stresshormone Cortisol und Adrenalin werden abgebaut und das Bindungshormon Oxytocin wird vermehrt produziert. Diese Hormonausschüttungen haben außerdem noch eine antidepressive Wirkung.
Das Heilsame Singen stößt bei vielen Patienten auf große Resonanz. Rund 20 Teilnehmer nehmen am wöchentlich stattfindenden Heilsamen Singen teil und sitzen in einem Stuhlkreis im großen Therapieraum. Obwohl ich den Ablauf vorher grob gewas die Gruppe jetzt gerade braucht bzw. was ein Einzelner vielleicht gerade braucht. Passt dieses oder jenes Lied zur augenblicklichen Atmosphäre oder Gruppenkonstellation? In der Regel beginne ich mit erdenden afrikanischen oder indianischen Kraftliedern, spanne einen Bogen zu deutsch- und englischsprachigen Chants mit Texten, die nach innen führen und ende mit dem Chant „Namaste“ von Katrin Grassmann. Die meisten Teilnehmer sind ehemalige Patienten, die schon über einen längeren Zeitraum ambulant zum Heilsamen Singen kommen, weil sie sich von dieser Art des gemeinsamen Singens angesprochen fühlen, weil sie sich von den Liedtexten berühren lassen, weil sie sich erlauben „wieder weich, zart und lebendig werden (zu) dürfen“, um es mit den Worten des Sängers und Pianisten Joachim Goerke aus Lüneburg auszudrücken, und weil sie im Umgang mit sich und den anderen Achtsamkeit und Mitgefühl erfahren. Ich bin immer wieder aufs Neue tief beeindruckt, wenn die Patientengruppe ohne mein Zutun von sich aus aufsteht, sich die Hände reicht und gemeinsam „Namaste“ singt. „Namaste“, eine indische Grußformel, bedeutet sinngemäß übersetzt: „Ich verneige mich vor dem Göttlichen in Dir“. Zum Schluss führen alle die Handinnenflächen zusammen, legen diese an ihr Herz und verbeugen sich. Eine Geste, mit der man seinem Gegenüber seine allergrößte Wertschätzung übermittelt.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von dem Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther: „Singen ist ein wirksames Mittel, um Ohnmacht, Angst und Stress zu überwinden und Selbstwirksamkeit und Selbstheilungskräfte zu stärken.“

Die Autorin:

Catarina Mahnke
Dipl.-Musiktherapeutin (DMtG)
Consultant of Palliative Care (Universität Bremen)
Singleiterin für Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen
Kontakt: catarina.mahnke(at)klinikum-bremen-nord.de

Quellen:

Angaben zur Klinik:

Klinikum Bremen-Nord
Psychiatrisches Behandlungszentrum
Aumunder Heerweg 83/85
28757 Bremen
Tel: (0421)6606-1220
www.gesundheitnord.de