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Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

Sieben Mini-Meditationen zur Aktivierung der natürlichen Selbstheilungskräfte
Manche Menschen glauben, für das Meditieren keine Zeit zu haben. Ihnen sei hier die Geschichte von dem Waldarbeiter erzählt:
Ein Spaziergänger begegnet einem Waldarbeiter, der dabei ist, einen Baumstamm durchzusägen. Der Spaziergänger beobachtet eine Weile, wie schwer sich der Arbeiter abmüht, auch nur einen Zentimeter mit dem Sägen weiterzukommen. Da fragt der Spaziergänger: „Ich sehe, Sie mühen sich so sehr ab. Warum schärfen Sie nicht Ihre Säge?“ Der Waldarbeiter schaut ihn ebenso erstaunt wie vorwurfsvoll an und erwidert: „Dafür habe ich keine Zeit. Sehen Sie denn nicht, dass ich mit meiner Arbeit fertig werden muss!“ In diesem Zusammenhang lässt sich die japanische Weisheit leichter verstehen: Hast du’s besonders eilig, so mache einen Umweg (im Original: „急がばまわれ“ – „Isogaba maware“).
Wie oft aber geht es uns im Alltag ähnlich wie diesem Waldarbeiter? Meist haben wir es uns mühsam abtraininert, die Zeichen natürlicher Entspannungsbedürfnisse unseres Körpers zu deuten. Wichtig ist es jedoch zu wissen, dass unsere Bewusstseinsaktivität tagsüber, während wir wach sind, in Wellen verläuft: Nach etwa 90–120 Minuten der Aktivierung und Tatkraft (die sich in einer Beta-Wellen-Dominanz im Gehirn abbildet) tritt eine natürliche Entspannungsreaktion ein. Diese dauert etwa 15–20 Minuten an, vorausgesetzt wir unterbrechen sie nicht durch Wachmacher-Drogen wie Koffein, Nikotin oder sonstige „Absackverhinderer“. Die Phase der Entspannungsreaktion macht sich bemerkbar durch spontane Impulse wie beispielsweise Gähnen, Gedankenabschweifen, Tagträumen, Harndrang, Lust etwas zu knabbern, sich mit den Händen in die Haare fassen u.a.
Während dieser Phase mit langsamerer Hirnwellendominanz (Alpha) sind wir intuitiver, ruhiger, verträumter, manchmal auch müde und unsere Konzentration lässt nach.
Diese Entspannungsphase benötigt unser Organismus für notwendige Heilreaktionen. Meist jedoch gilt sie als Störenfried in unserer dauervernetzten Leistungsgesellschaft, in der wir pausenlos auf „Empfang“ sein müssen. Meine Anregung: Lernen Sie ihre eigenen, ganz persönlichen Anzeichen dieses natürlichen Entspannungsbedürfnisses ihres Organismus kennen. Nutzen Sie das regelmäßige Angebot Ihres Körpers, schulen Sie Ihre Aufmerksamkeit für die Sprache Ihres Körpers und heißen Sie Entspannungsphasen willkommen. Ihre Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, sowie die Effizient Ihrer Tätigkeiten werden in der nächsten Aktivierungsphase umso größer sein und Ihre Gesundheit wird es Ihnen danken.
Heute möchte ich Sie anregen, diese Phase der natürlichen Entspannungsreaktion hier und da für eine „Mini-Meditation“ mitten im Alltag zu nutzen. Für jede dieser sieben Kurz-Übungen benötigen Sie nur wenige Minuten und sie bedürfen keinerlei Vorbereitung. Sie können im Sitzen oder Stehen ausgeführt werden, mit offenen oder geschlossenen Augen.


1. Loslassen:
Beobachten Sie die Bewegungen Ihres Atems. Lassen Sie nun den nächsten Ausatem mit einem weichen „fff“ ganz langsam durch den Mund hörbar entweichen. Mit jedem Ausatem konzentrieren Sie sich jeweils auf einen Körperbereich:
den Unterkiefer absacken lassen,
die Schultern fallen lassen,
den Bauch loslassen,
die Füße nebeneinander auf den Boden stellen und den Ausatem durch die Fußsohlen in den Boden entweichen lassen.


2. Räkeln:
Strecken und räkeln Sie sich genüsslich, dehnen Sie sich bis in die Fingerspitzen der weit geöffneten Hände. Lassen Sie sich dann mit einem hörbaren Seufzer locker vornüberfallen und aushängen, bis ein neuer Impuls Sie wieder aufrichtet zu einer vielleicht ganz anderen, weiten Dehnbewegung. Achten Sie darauf, dass beim Dehnen der Hals geöffnet bleibt ohne zu pressen und die Finger sich weit strecken. Dies machen Sie einige Male im Wechsel von genüsslicher Spannung im Dehnen und lockerem Loslassen im Hängen. Spüren Sie dann nach, was sich verändert hat: Ihre Stimmung? Ihr Körpergefühl? Ihre Wachheit? Die große Atemtherapeutin Ilse Middendorf nannte diese Übung übrigens „Kreatürliches Dehnen“.


3. Qath-Meditation:
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Punkt etwa eine Handbreit unter Ihrem Bauchnabel. In Japan wird dieses Energiezentrum „Hara“ genannt, im Sufismus bezeichnet man es als „Qath“-Punkt. Beobachten Sie, wie er sich hebt und senkt. Sie können auch unterstützend eine Hand dort auflegen. Zählen Sie nun während einer kompletten Ein- und Ausatemphase die Zahl 1. Das wiederholen Sie insgesamt 3 mal: 1-1-1, dann 2-2-2… bis 9-9-9 und dann wieder rückwärts bis zur 1-1-1, ohne jedoch dabei das Atemtempo zu verändern.


4. HÖBAT:
HÖREN: Lauschen Sie auf das, was Sie gerade jetzt hören, und unterscheiden Sie die verschiedenen Geräusche, Stimmen, Klänge und auch die Stille dazwischen, die in diesem Augenblick an ihr Ohr dringt.
BODEN: Spüren Sie Ihre Füße auf dem Boden.
ATEM: Beobachten Sie Ihren Atem, die Atembewegung, den Luftstrom an Ihren Nasenflügeln.
Diese Reihenfolge Hören – Boden – Atem wiederholen Sie so lange, wie es Ihnen gut tut. Bei dieser von mir „HÖBAT“ genannten Methode kreisen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zwischen den drei Wahrnehmungsschritten wie in einer Spirale immer weiter nach innen, lauschen schließlich nach innen, folgen Ihrem Atem nach innen und werden dabei ganz von alleine ruhiger.


5. Atmen in den Boden:
Im Stehen: Verlagern Sie ihr Körpergewicht mit jedem Ausatem von einem Fuß auf den anderen. Stellen Sie sich vor, ihr Ausatem würde dabei durch eine „Mundöffnung“ an Ihren Fußsohlen in den Boden hinein abfließen. Die Knie sind dabei leicht gelöst.
Unterstützen Sie dieses Abfließen durch ein weiches „fff“, das Sie hörbar ausströmen lassen.
Lassen Sie dies in kleine, sehr langsame Schritte übergehen: jeder Schritt auf einen Ausatem, der tief in die Erde hinabströmt.
Geben Sie dem Ausatem mit, was immer Ihnen momentan gerade lästig ist.
Diese Art des meditativen Gehens wirkt sehr entlastend bei Spannungen im Kopf- und Nackenbereich und beruhigt die Gedankenflut. Sollten Sie dabei zu Gähnen beginnen, so ist das ein gutes Zeichen.


6. Natürliche Impulse:
Genießen Sie die unwillkürlichen Spontanreaktionen Ihres Körpers, die man ruhig auch hören darf: herzhaftes Gähnen, Seufzen, Stöhnen, Rülpsen, Lachen, Singen, Summen… Es sind natürliche Impulse, die Ihr Körper zur Entlastung und Selbstregulation benötigt, um in einen mittleren Spannungszustand (Eutonus) zurückfinden zu können. Schamhemmung und anerzogene Konventionen haben uns bedauerlicherweise dieser Selbstregulationsimpulse unseres Organismus beraubt. Erobern Sie sie sich zurück!


7. Das UND:
Erinnern Sie sich an die Übung „Das UND zwischen Himmel und Erde“ („Kleine Hilfen“ in der MuG Ausgabe 14/2007, S. 27–28)?
Beobachten Sie Ihren Ein- und Ausatem.
Nehmen Sie nun in Ihrem Inneren einen röhrenartigen Hohlraum wahr, der sich nach oben und unten öffnet.
Der Einatem steigt jetzt in Ihrer Vorstellung in diesem inneren Hohlraum hinauf bis unter die Schädeldecke, der Ausatem sinkt darin hinab bis in den Beckenboden.
Daraufhin lassen Sie den Einatem hinauf bis weit in den Himmel steigen, der Ausatem sinkt bis tief hinab in die Erde.
Lassen Sie nun beim Ausatmen in diesem inneren Raum Ihre Stimme hörbar werden, so dass Ihre „innere Bambusflöte“ erklingt und Sie vielleicht mit einer spontanen Melodie beschenkt.

Alle Übungen und Mini-Meditationen lassen sich zwischen 1 Minute und 15 Minuten ausführen, ganzkörperlich oder aber nur in unserer Vorstellung, so dass niemand um uns herum bemerkt, dass wir gerade meditieren. Mein Tipp: Erlauben Sie sich, bei jeder dieser Übungen irgendwelche spontanen Laute oder Töne zu machen. Die Wirkung jeder Meditation vervielfacht sich um ein Vielfaches, sobald Sie dazu tönen und Ihrer Stimme dabei Ausdruck verleihen.
Ich wünsche Ihnen gleich jetzt, mitten im Alltag, heilsame Entspannungsreaktionen zur Selbstregulation Ihres Körpers und damit auch zum Wohl Ihrer Seele.
Herzlichst,
Ihre Sabine Rittner

Die Autorin:

Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, approb. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und systemischer Therapie mit der inneren Familie (IFS). Sie ist tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Musiktherapie- und Bewusstseinsforschung), sowie in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching). Seit mehr als 35 Jahren leitet sie Seminare, bildet aus und hält Vorträge weltweit. Umfangreiche Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie u.a. Weitere Informationen unter: www.SabineRittner.de

Schwerpunktthema

Traumatische Erfahrungen und ihre Behandlungsmöglichkeiten in der Musiktherapie

Von Gitta Strehlow

Fallvignette 1:
Frau B. (43) wählt, wie auch in früheren Stunden, das kleine Glockenspiel. Sie denkt sich gern kleine Melodien aus und spielt diese mit lächelnd entspannter Miene. Die Therapeutin begleitet ihr Spiel mit dem großen Metallophon, indem sie die Töne der Patientin durch eine regelmäßige Begleitung mit langsamen tiefen Tönen ergänzt. Die Musik von beiden kann mit Hauptstimme (Patientin) und Begleitung (Therapeutin) beschrieben werden. Allmählich verändert sich das Spiel in eine dialogische Frage-Antwort-Form. Frau B. und die Therapeutin unterhalten sich in der Tonsprache miteinander und versichern sich jeweils, dass sie noch da sind und sich hören. Frau B. genießt dieses Zusammenspiel offensichtlich. Frau B. reflektiert anschließend, dass sie sich solch ein friedliches Miteinander auch mit ihrer Tochter wünschen würde. Traurig merkt sie an, dass sie sich in ihrer Jugend, ähnlich wie jetzt auch, sehr einsam gefühlt habe und ihr ein Miteinander fehlte. Entlastet und auch nachdenklich verlässt sie die Therapiesitzung.


Zur Psychotraumatologie
Der Bedarf Patienten zu behandeln, die aufgrund von traumatischen Erfahrungen eine Therapie aufsuchen, hat in den letzten 20 Jahren beachtlich zugenommen. Fortbildungen, spezialisierte traumaorientierte Therapiekonzepte und Literatur sind rasant angewachsen, mit der Folge, dass im psychotherapeutischen Diskurs das Thema Trauma nicht mehr wegzudenken ist. Mit welchen Störungen und wie intensiv auf ein traumatisches Erlebnis reagiert wird, ist abhängig von der Dauer, der Schwere, dem Alter, den biologischen und psychischen Prädispositionen, dem Stand der erreichten Entwicklung und der Anwesenheit bzw. dem Fehlen einer hilfreich stützenden menschlichen Umgebung (Dümpelmann 2016). Obwohl sich Freud (1896) bereits vor mehr als 100 Jahren mit traumatischen Erfahrungen befasste, hat sich der Fokus auf äußere Faktoren damals nicht durchgesetzt. Erst in den 1980er Jahren wurde durch die Aufnahme des Krankheitsbildes der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in den offiziellen Diagnose­katalog anerkannt, dass äußere traumatogene Faktoren zu psychischen Symptomen führen können. In den 90er Jahren entwickelte sich das Fachgebiet der Psychotraumatologie mit dem 3-Phasen-Modell von Stabilisierung, Traumakonfrontation/Bearbeitung und Integration (Fischer et al. 1998). Unterschieden wird nach Terr (1998) Trauma Typ 1 als einmalig und Trauma Typ 2 als anhaltend, kumulativ und multipel. In den psychiatrischen Krankheitsbildern gibt es mittlerweile vielzählige Forschungsergebnisse, die die Verbindung von inneren Krankheitsfaktoren und exogenistischen Krankheitsverursachungen (multiple Traumatisierungen) aufzeigen. Beispielhaft seien hier die Borderline-Persönlichkeitsstörung (Wöller 2014) und die Psychose (Dümpelmann 2016) erwähnt. Glaser (2000) unterschiedet zwei Typen von Traumatisierung:


a)    commission: aktive Übergriffe, Bemächtigung durch Gewalt, Sexualität, Entwertung usw. und
b)    omission: passiv erlittener Entzug, Verlust und Vernachlässigung durch Isolation, Ausgrenzung Nichtbeachtung (Dümpelmann 2016).


Gerade die Traumatisierungen durch omission (Unterlassung, Vernachlässigung) ist in den letzten Jahren in den Fokus gerückt (Allan et al. 2011, S. 279). Neue Erkenntnisse aus der Neurobiologie, Bindungstheorie und Gedächtnisforschung wurden in die neuen Trauma-Therapiekonzeptionen integriert (Dümpelmann 2016, Wöller 2014, Sack et al. 2013, Leutzinger-Bohleber et al. 2008). In der aktuellen Traumaliteratur ist Musik und Rhythmus als heilende Kraft mittlerweile aufgenommen worden (Van der Kolk, 2015, S. 256). Auch in der Musiktherapie hat das Thema Traumatisierung seit Jahren seinen Niederschlag gefunden.


Literatur zur Musiktherapie
Musiktherapie ist in zahlreichen Kliniken und Institutionen etabliert, in denen alte und junge Patienten mit traumatischen Erfahrungen behandelt werden, so dass Musiktherapeuten über reichhaltige Erfahrungen in der Behandlung dieser Klientel verfügen. Insgesamt besteht die musiktherapeutische Literaturliste (deutsch und englisch) zum Thema aus ca. 65 Beiträgen, die aufgrund des Umfangs hier nur ausgewählt erwähnt werden können. Erstmals haben Tüpker 1989 über sexuelle Traumatisierung im deutschsprachigen Raum und Roger (1992) im englischsprachigen Raum publiziert. Besonders das Thema der sexuellen Traumatisierung wurde in der Musiktherapie in über 30 Artikeln (deutsch und englisch) beschrieben und bearbeitet. Bücher, die sich ausschließlich mit dem Thema von Traumatisierung in der Musiktherapie befassen, gibt es bisher nur wenige. Sutton (2002) und Wolf (2007) geben Einblicke in unterschiedliche Gebiete der Psychotraumatologie und ihre Behandlung in der Musiktherapie. Kim (2015), Day et al. (2009), Curtis (2007), York (2006), Decker-Voigt (2005) beschreiben Forschungsprojekte mit dem Fokus der sexuellen Traumatisierung. Maack (2012) und Wiesmüller (2014) befassen sich in ihren Forschungsprojekten genereller mit Traumatisierung. Andere Publikationen befassen sich mit Kriegstraumatisierung, Flucht, Folgen des Holocaust, Migration und der Hilfe bei Naturkatastrophen.


Grundsätze in der Traumabehandlung
Als Grundstrategie in der psychotherapeutischen Behandlung beschreibt Sack et al. (2013) die Balance und Verknüpfung zwischen den beiden Polen von Ressourcenorientierung und konfrontativen Behandlungsstrategien. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, zu erkennen, wann er mit zu langer Ressourcenorientierung identifikatorisch ein Vermeidungsverhalten des Patienten übernimmt oder wann eine zu frühe Konfrontation eine emotionale Überforderung des Patienten darstellt. Dieses Spannungsfeld gehört zu den immensen Herausforderungen bei der Arbeit mit traumatisierten Patienten.


Musiktherapie
Die Musiktherapie kann zum einen in der ressourcenorientierten Arbeit verwendet werden, sie kann aber ebenso in der Traumakonfrontation und Bearbeitung ihre Rolle finden.
Im Folgenden werden für beide Bereiche Fallvignetten vorgestellt.


Fallvignette 2
Frau B. war in die psychiatrische Klinik gekommen, da sie von starken Suizidgedanken gequält war. Sie war zwar einerseits niedergeschlagen, antriebslos, doch gleichzeitig konnte sie keine Ruhe finden, nicht schlafen und ihre Gedanken kreisten unaufhörlich. Durch Gespräche erfuhr das Team, dass Frau B. sich große Sorgen um ihre jetzt in der Pubertät befindliche Tochter machte. Erst durch Nachfragen und nur unter großer Scham konnte Frau B. berichten, dass sie selbst in diesem Alter mehrfach sexuell missbraucht worden war. Sie habe über diese Erfahrung nie gesprochen und niemand habe ihren damaligen Rückzug bemerkt. Sie mache sich große Sorgen um ihre Tochter, dass diese sich nicht schützen könne. Die Kleidung der Tochter sei auffällig aufreizend. Gleichzeitig konnte Frau B. gar keine Worte finden, um mit ihrer Tochter zu sprechen. Ihre Tochter war immer seltener zu Hause und zog sich von ihrer Mutter zurück. Frau B. haderte mit sich, denn sie mochte sich selbst nicht, wenn sie zu bestimmend war. Sie wollte ihrer Tochter den Freiraum gern lassen – wenn nur ihre Angst nicht gewesen wäre.
In der Musiktherapie war es Frau B. zunächst nicht möglich, die Instrumente auszuprobieren und auf ihnen zu spielen. Die Angst, etwas falsch zu machen, lähmte sie fast vollständig. Es war notwendig, dass die Therapeutin in dieser aktuellen Krise Entscheidungen für Frau B. übernahm und ihr aktiv Vorschläge machte. Zu Beginn hatte sie vor allem mit der Therapeutin zusammen Musik gehört. Musik, die ihr bekannt war und bei der sie sich sicher aufgehoben fühlte. Es war Musik, die sie beruhigte, z.B. Die vier Jahreszeiten von Vivaldi. Einmal erinnerte sie sich während des Hörens an gute Momente mit einem nahen Freund. Dieser hatte in der Pubertät Gitarre für sie gespielt. Die Therapeutin explorierte mit Frau B. diese guten Beziehungsmomente und stellte eine Verbindung zu dem aktuellen Gefühl der Einsamkeit her.
Das Hören dieser für Frau B. bedeutsamen Musik und die nachfolgenden Gespräche beruhigten Frau B., so dass sie weniger Angst hatte und infolge sich auch ihre strenge Bewertung reduzierte. Sie fasste den Mut, sich „experimentell“ den Instrumenten zu nähern und entdeckte das Glockenspiel für sich, wie in der Fallvignette 1 beschrieben.
In beiden beschriebenen Fallvignetten steht die Ressourcenorientierung im Vordergrund und damit die Entwicklung von Stärke, Freude, Kreativität und Hoffnung. Die Therapeutin bietet Frau B. mit Hilfe von Musik Sicherheit und Verlässlichkeit an. Dazu gehört eine aktive Rolle der Therapeutin, die notfalls auch bedeutet, die Musik zu stoppen, wenn diese zu bedrohlich wird. Patienten mit Traumatisierung haben einen massiven Kontrollverlust erlitten, mit starken Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Daher ist es zentral, als Therapeutin dem Thema Kontrolle höchste Aufmerksamkeit zu geben. Die Therapie sollte so gestaltet werden, dass die Patientin größtmögliche Kontrolle und damit Sicherheit erleben kann.
Musik wird immer im Hier und Jetzt erlebt. Mit diesem Angebot gelang es der Therapeutin, Frau B. ganz konkret aus ihren Gedankenschleifen zu locken. Sie erlebte die Musik körpernah, sinnlich und beruhigend. Frau B. nahm sich und ihr Erleben während der Musik achtsam und mit hoher Konzentration wahr. Ein besonderes Erlebnis, das sie lange nicht mehr gehabt hatte. Die Therapeutin weiß um die Wirkung der unterschiedlichen Musikparameter und suchte Musik aus, die möglichst aus wenig dynamischen Elementen und einer klaren Struktur (Periodizität, Melodie und Begleitung) bestand.
Frau B. erinnerte sich während des Hörens an eine gute Beziehungserfahrung. Dies ist ein wesentliches Moment, es zeigt, dass sie über innere positive Repräsentanzen verfügt und diese ihr hilfreich zur Verfügung standen. Frau B.s Gefühl von innerer Stärke für Entwicklung, Veränderung und Hoffnung war geweckt worden. In der ersten Fallvignette gelang auf der Handlungsebene ein vorsichtiges Miteinander von Frau B. auf dem Glockenspiel und der Therapeutin auf dem Metallophon. Frau B. erlebte eine Form der Bezogenheit und Verbundenheit, die sie aus ihrer Isolierung holte. Gerade Menschen mit einer Traumatisierung erleben sich häufig als sehr isoliert und einsam (Reddemann 2009). Musiktherapeutisches Spiel stärkt Gemeinschaftsgefühle.


Fallvignette 3
Die Entlassung ist für die nächste Woche geplant und Frau B. ist damit beschäftigt, wie sie ein Gespräch mit ihrer Tochter führen könnte. Frau B. erzählt, wie viel Angst sie um ihre Tochter habe, und dass sie sich viel darüber streiten, wann ihre Tochter abends zu Hause zu sein habe. Der Vater hält sich aus diesen Diskussionen meist heraus und überlässt es seiner Frau Entscheidungen zu fällen. Welche Worte Frau B. für dieses Gespräch wählen möchte, weiß sie noch gar nicht, aber sie möchte nicht immer von ihrer Angst bestimmt sein. Frau B. wird von der Therapeutin gefragt, ob sie sich vorstellen kann, Musik zu machen, die sie der Angst entgegensetzen kann. Frau B. sieht sich ängstlich um. Sie schaut die große Pauke an, braucht aber doch noch ein paar Ermutigungen von der Therapeutin, bevor sie dieses Instrument wählt. Die Therapeutin wählt wieder das Metallophon, da es das Instrument geworden ist, das sie mit Frau B. verbindet. Frau B. spielt zunächst zögerlich auf der Pauke und ihre regelmäßigen Schläge entwickeln sich als Begleitung zu der Melodie, die die Therapeutin auf dem Metallophon spielt. Nach einer Weile probiert Frau B., wie es ist, wenn sie lauter spielt. Da die Pauke viel aushält, wird das Spiel von Frau B. überraschend laut und extrem kräftig. Es wird auch schneller. Frau B. spielt richtige Wirbel, so schnell ihre beiden Hände es ihr ermöglichen. Die Musik der Therapeutin ist nahezu nicht mehr zu hören. Schnell entscheidet die Therapeutin, dass es wichtig ist, sich hörbar zu machen und klopft auf dem Holz des Instruments. Ein kräftiger lebendiger Prasselregen von beiden ist zu hören. Patientin und Therapeutin strengen sich körperlich an, denn für die Lautstärke und den Wechsel der Hände ist Kraft nötig. Nach einer Weile beruhigt sich das Spiel wieder, wird langsamer und tröpfelt langsam aus.
Was ist passiert?
Frau B. ist nach der Improvisation erschöpft und zufrieden. Sie fühlt sich lebendig und das Spiel hat sie vitalisiert. Sie wusste gar nicht, dass sie so viel Kraft hat, sagt sie. Ihr fällt auf, dass sie ziemlich laut gespielt hat. Zu Beginn habe sie bemerkt, dass sie mal wieder nur die Begleitung gespielt habe. Sie hatte sich an das Spiel der Therapeutin angepasst. Sie wurde dann ärgerlich, als sie bemerkte, dass sie wieder versucht, es allen recht zu machen. Sie spricht nun mit ärgerlicher Stimme. Ihr war aufgefallen, dass ihr Mann ihr doch helfen könnte, wenn sie sich mit ihrer Tochter streitet. Stattdessen hält dieser sich raus. Dieser Ärger habe dazu geführt, dass sie so laut geworden ist, sie wollte zu hören sein. Als sie dies im Nachgespräch erzählt, fällt ihr auf, dass ihr damals auch keiner geholfen habe. Keiner habe bemerkt, was mit ihr los war, als der Nachbar sie mehrfach missbraucht habe. Die Mutter war vermutlich froh, dass sie außer Haus war und der Vater habe nicht gefragt. Während Frau B. zunächst mit ihrer Fähigkeit kräftig zu sein beschäftigt war, hat sich jetzt ihr Erleben stark gewandelt und sie ist mit ihrer Trauer konfrontiert. Frau B. erinnert sich, wie einsam sie damals war. Die Therapeutin entscheidet an dieser Stelle, nicht die Trauer sondern das Gefühl von Kraft und Stärke zu fokussieren. Die Therapeutin betrachtet die Beziehungen im Hier und Jetzt, und Frau B. wird deutlich, dass sie ihre Tochter nicht in gleicher Weise allein gelassen hat. Ihre Tochter konnte sich immer mit ihren Sorgen an ihre Eltern wenden. Gestärkt durch das Paukenspiel kann Frau B. sich nun besser ein Gespräch mit ihrer Tochter vorstellen. In diesem Gespräch will sie sich dafür interessieren, wie die Tochter Gefahren einschätzen kann und wie sie sich notfalls zu schützen weiß. Frau B. denkt auch darüber nach, ob sie mit ihrem Mann ein Gespräch suchen sollte, um sich von ihm mehr Unterstützung zu holen.
In dieser Fallvignette wird Frau B. mit ihrer Angst konfrontiert. Die Therapeutin macht einen aktiven Vorschlag, den Frau B. zögerlich, aber dann doch annimmt. Erst im sicheren Raum der Therapie konnte Frau B. mit anderen als ihren sonst üblichen leisen Spielarten experimentieren. Frau B. bemerkt ihre Zurückhaltung beim Spiel (immer nur Begleitung) und ihr Ärger-Gefühl verändert sich von „keiner nimmt mich wahr“ (Tochter, Ehemann, Täter, ehemals Eltern) zu dem Wunsch „endlich zu hören sein zu wollen“. Der Ärger und damit die gewachsene Kraft und die leichte Handhabung der Pauke führen zur Überraschung von Frau B. dazu, dass sie plötzlich extrem laut und also gut zu hören ist. Frau B. konnte durch die Aufforderung der Therapeutin, einmal etwas Neues auszuprobieren, ein ihr bisher unbekanntes Gefühl entdecken. Das Gefühl von Ärger war bisher zu bedrohlich und durch große Angst verdeckt gewesen. Durch das Spiel konnte Frau B. eine Kraft in sich entdecken, die bisher nicht hörbar geworden war und zu der sie bisher keinen Zugang hatte. Frau B. konnte sich als mit Kompetenzen ausgestattet und selbstwirksam erleben.
Weitere Schritte sind notwendig, Frau B. wird in ihrem Alltag erproben müssen, was sie während der Therapie gelernt hat. Frau B. wird sich mit der Trauer, dem Ärger und der Verzweiflung über ihre traumatische Vergangenheit (sexueller Missbrauch und Vernachlässigung) auseinander setzen müssen. Es ist davon auszugehen, dass ihre Erfahrungen in Kindheit und Jugend sie in ihrem Kontakt zu ihrem Ehemann beeinflussen. Frau B. steht vor der Aufgabe, sich auch mit ihrem Ehemann zu verständigen. Frau B. ist ebenso durch die zunehmende Selbstständigkeit der Tochter mehr mit sich und damit auch mit ihrer Biographie konfrontiert. Der Streit mit der Tochter ist nicht nur wesentlich durch ihre eigene traumatische Vergangenheit der sexuellen Übergriffe geprägt, sondern auch durch das Wegschauen der Eltern, die Frau B. allein gelassen haben. Frau B. fühlt sich nun auch von ihrem Ehemann allein gelassen. Hier wird sie eine Auseinandersetzung führen müssen und es bleibt abzuwarten, inwieweit es ihr gelingt, die Kraft und Lebendigkeit, die sie beim Paukenspiel erlebt hat, in die Gespräche einzubringen.
Musik lässt uns lebendig fühlen, aufgrund der ihr innewohnenden Vitalitätsaffekte. Stern beschreibt diese ebenso für alle zeitgestützten Künste wie Musik, Tanz, Theater und Kino. Die dynamischen Aspekte des Erlebens, der vitale Schwung, sind das, was „Lebendigkeit“ ausmacht. Als Formen der Vitalität werden die dynamischen Empfindungen (auf- oder abschwellend, explosionsartig, fließend, sich hinziehend, hereinplatzend, aufscheinend, stockend) bezeichnet. Stern ist der Ansicht, dass diese dynamischen Vitalitätsformen die fundamentalste aller gefühlten Erfahrungen ist, wenn wir mit anderen „Menschen in Bewegung“ zu tun haben (Stern 2011, 19). Frau B. konnte durch ihr Spiel auf der Pauke gemeinsam mit der Therapeutin „im Prasselregen“ diese Form der Lebendigkeit bei sich spüren.


Gefahren
Im lauten Spiel mit der Therapeutin deutet sich eine Besonderheit in der Musiktherapie an. Musik kann auch als übergriffig erlebt werden, durch Lautstärke, aber auch durch eine Form des Eindringens. Musik kann als eklig oder auch chaotisch erlebt werden und auf diese Weise Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit auslösen, auf Seiten der Patientin und auch auf Seiten der Therapeutin. In diesem Fallbeispiel konnte Frau B. ihre Aktivität und auch Aggressivität durch die Lautstärke spüren. Nun war Frau B. in der Rolle derjenigen, die sich kräftig durchsetzte und so nahezu übergriffig spielte. Die Therapeutin ist nicht verstummt, stattdessen hat sie sich durch das Klopfen auf das Holz des Metallophons hörbar gemacht. Sich aktiv zur Wehr zu setzen, ist eine der zentralen Spielarten, die in der Musiktherapie erprobt werden können.
Gefühle von Macht und Ohnmacht und damit Täter- und Opfer-Beziehungen sind typische Interaktionsmuster in der Behandlung von traumatisierten Patienten. Die Autorin hat dieses Muster mit dem Satz „Musik geht über Grenzen“ bezeichnet und ausführlich beschrieben (Strehlow 2011). Musiktherapeuten müssen um die Gefahr und Mächtigkeit von Musik wissen und über ein entsprechend schützendes Interventionsrepertoire verfügen.
Zwei weitere Besonderheiten in der Arbeit mit traumatisierten Patienten sollen hier noch Erwähnung finden. Die Therapeutin muss sich auf Gefühle von Überforderung, Disharmonie und Widersprüchlichkeit einstellen. Beispiel: Die Therapeutin bemüht sich um Übereinstimmung und die Patientin ändert immer wieder ihre Spielart, so dass ein Miteinander verhindert wird. Die Therapeutin erlebt die Musik als in sich widersprüchlich, und die Unmöglichkeit der Übereinstimmung ist das zentrale Muster („Musik erlaubt Disharmonie“, vgl. Strehlow 2011). Für Patienten ist es notwendig, den durch die Traumatisierung verinnerlichten, bedrohlichen Anteil zu externalisieren, um ein stimmiges Selbstbild zu erschaffen. Der nicht aushaltbare Anteil (fremdes Selbst) kann in der Musik Gehör finden und so zu einer Entlastung führen (Strehlow 2013). Ziel der Therapie ist die Veränderung und Integration dieses bedrohlichen Anteils.
Als Letztes sollte das für Traumatisierung typische Symptom der Dissoziation Erwähnung finden. Dissoziation ist eine Störung des Bewusstseins, die vielfältige Formen aufweisen kann (Eckhardt-Henn 2014). In der Musiktherapie zeigt sich die Dissoziation z.B. dadurch, dass Patienten in der Musik versinken und nahezu abwesend wirken oder auch sind, Patienten können sich an Teile der Therapie nicht mehr erinnern, Patienten spielen in einer schädlichen Weise Musik und können sich nicht schützen, Patienten zeigen von einem Moment auf den anderen völlig unterschiedliche Seiten von sich. Die Musiktherapeutin wird gebraucht, um Verbindungen herzustellen. Dissoziation ist zuallererst ein Schutzmechanismus, der auf eine überfordernde Situation hinweist.
Für alle Therapien mit traumatisierten Patienten gilt die Balance eines entsprechenden Erregungsniveaus. Das Erregungsniveau darf nicht zu niedrig sein, damit die Therapie wirksam sein kann, aber es darf auch nicht zu hoch sein, damit die Patienten nicht überfordert sind. In der Musiktherapie ist es daher notwendig, sorgsam auf die Stresssymptome von Patienten zu achten und die Interventionen entsprechend auszurichten. Ein klar vorstrukturiertes Angebot, wie z.B., dass in einer Gruppe ein Patient beginnt und die anderen folgen, gibt deutlich mehr Sicherheit, als eine freie Improvisation. Musiktherapeuten wissen um vielfältige Spielinterventionen und verfügen über musikalisches Können, mit dem sie das Spannungsfeld von Stabilisierung und Konfrontation kreativ gestalten können.
Für Patienten ist die Verknüpfung von Ressourcenorientierung und Musiktherapie häufig sehr schnell möglich. Es ist die Aufgabe des Musiktherapeuten Patienten behutsam hinzuführen, dass Musiktherapie auch für die Traumabearbeitung sinnvoll genutzt werden kann.

Die Autorin:

Dr. sc. mus. Gitta Strehlow
Dipl. Musiktherapeutin, seit 16 Jahren Musiktherapeutin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Bethesda Krankenhaus Hamburg-Bergedorf und bei Dunkelziffer e.V. (Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder). Nationale und internationale Vortrags- und Lehrtätigkeit. Veröffentlichungen zu den Themen Musiktherapie und Psychotraumatologie, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Mentalisierung. Fortbildung in PITT (Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie) und MBT (Mentalization Based Treatment).
Bethesda Krankenhaus, Glindersweg 80, 21029 Hamburg, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Literatur:

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Day, T.; Baker, F. & Darlington, Y. (2009): Experiences of song writing in a group program for mothers who had experienced childhood abuse. NJMT 18 (2), S. 133–149.
Decker-Voigt, H.-H. (Hg.); Mitzlaff, S.; Strehlow, G. (2005): Der Schrecken wird hörbar. Musiktherapie für sexuell missbrauchte Kinder. Eres Verlag, Lilienthal.
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Van der Kolk, B. (2015): Verkörperte Schrecken. Lichtenau: G. P. Probst Verlag GmbH.
Wiesmüller, E. (2014): Traumaadaptierte Musiktherapie: Musiktherapie mit Erwachsenen, die an (komplexen) Traumafolgestörungen leiden. Wiesbaden: Reichert.
Wöller, W. (2014): Bindungstrauma und Borderline-Störung. Stuttgart: Schattauer
Wolf, H.-G. (Hg.) (2007): Musiktherapie und Trauma. Wiesbaden: Reichert.
York, E. (2006): Finding Voice: feminist Music Therapy and research with Women Survivors of Domestic Violence. In: Hadley, S. (Hg.): Feminist Perspectives in Music Therapy. Barcelona: Publishers, S. 245–266.

Praxisvorstellung

Praxis Gravelotte in München

Von Ulrike Wanetschek, Marion Histermann und Henrike Roisch

1. Stellen Sie sich bitte kurz vor.
Wir sind das Praxisteam Musiktherapie München und nennen uns auch Praxis Gravelotte, nach der Straße, in der sich unsere Praxis befindet. Wir sind drei Musiktherapeutinnen, die gemeinsam am Freien Musikzentrum in München die Musiktherapieausbildung gemacht haben. Nach unserem Abschluss und unseren Zulassungen als Heilpraktikerinnen für Psychotherapie haben wir uns zu einem Praxisteam zusammengetan.

Ulrike Wanetschek: Ich bin diplomierte Opernsängerin und Musiktherapeutin und arbeite in unserer Praxis als Gesangspädagogin und Musiktherapeutin. Daneben leite ich verschiedene Chöre, z.B. den Aphasikerchor „Aphasingers“ und zusammen mit meiner Kollegin Marion Histermann einen Inklusionschor am Freien Musikzentrum München. Einmal die Woche bin ich in der Klinik Wartenberg (Geriatrie und Palliativmedizin) tätig. An der Berufsfachschule für Logopädie (IB Medau) habe ich eine Lehrtätigkeit.

Marion Histermann: Ich bin Ergotherapeutin und Musiktherapeutin und gehöre zum interdisziplinären Team der Therapieabteilung der Ernst-Barlach-Schulen der Stiftung Pfennigparade. In der Praxis arbeite ich vor allem mit Jugendlichen sowie mit Kleinkindern im Mutter-Kind-Setting. Außerdem mache ich Hausbesuche bei Demenzpatienten. Im Frauentherapiezentrum biete ich eine stabilisierende Trommelgruppe „Groove and Move“ für Frauen mit psychosomatischen und psychiatrischen Themen an. Zusammen mit der Musiktherapeutin Pauline Schulte-Tigges unterrichte ich das Fach „Praxis der Musiktherapie“ an der Döpfer Schule für Logopädie.

Henrike Roisch: Ich bin Soziologin und Musiktherapeutin. Seit meinem Abschluss arbeite ich in musiktherapeutischen Gewaltpräventionsprojekten, derzeit mit Jugendlichen an Schulen und mit jungen Flüchtlingen unter 18 Jahren. An Förderschulen leite ich musiktherapeutische Gruppen für Kinder von 6–11 Jahren. In diesen Kontexten arbeite ich mit Gruppen, in der Praxis dagegen mit Kindern und Erwachsenen im Einzelsetting. Seit einem Jahr unterrichte ich auch die Studenten der städtischen Fachakademie für Heilpä­dagogik im Fach Musiktherapie.


2. Welche Situation Ihres musiktherapeutischen Berufslebens lag vor der Eröffnung Ihrer ambulanten Praxis?
Wir haben relativ schnell nach unserem Abschluss in Musiktherapie vorgehabt eine Praxis zu gründen. U. Wanetschek und M. Histermann waren in ihren beruflichen Bereichen bereits musiktherapeutisch tätig und H. Roisch arbeitete in verschiedenen musiktherapeutischen Projekten an Schulen für die Stiftung Musikuz.


3. Wie sind Sie zu dem Beruf des Musiktherapeuten/der Musiktherapeutin gekommen?
UW: Die musikpädagogische Arbeit nahm einen immer größeren Teil in meinem Berufsleben ein. In meiner Grundausbildung konzentrierte sich alles darauf, Musik so perfekt und fehlerlos wie möglich wiederzugeben. Trotzdem war mir immer klar, dass Musik heilsam ist – und das nicht nur durch ihre Schönheit. Genau dieser Teil meiner Arbeit hat mich immer mehr fasziniert und ich wollte das fehlende Wissen durch die Ausbildung zur Musiktherapeutin mit Theorie, Selbsterfahrung und Praxis ergänzen.

MH: In meiner Arbeit als Ergotherapeutin sind immer musikalische Elemente mit eingeflossen. Zur Musiktherapie bin ich durch viele Erlebnisse und einige glückliche Zufälle gekommen. In Berlin arbeitete ich lange in einer integrativen Einrichtung mit Kindern und Jugendlichen, vor allem mit türkischem Migrationshintergrund im „Kottikiez“, damals ein so genannter „sozialer Brennpunkt“. Musik half Hindernisse zu überwinden, z.B. ein türkisches Kinderlied im Eltern-Kind-Setting. Einmal habe ich in einer Therapie miterlebt, wie ein mutistischer Junge über das Spiel mit Bewegung und Klängen, vom Tönen zum Schreien, und letztendlich wieder zum Sprechen gekommen ist. Das hat mich sehr bewegt.

HR: Bei mir war es der frühe Wunsch einer Abiturientin eines musischen Gymnasiums, die dann einen Umweg über das Studium der Soziologie gemacht hat. Diesen Umweg habe ich nie bereut, aber über die Jahre war die Musik, das Spielen auf dem Klavier und verschiedenen Instrumenten ein steter und wichtiger Begleiter und der Wunsch blieb. Heute bin ich sehr froh darüber, dass ich diesen Wunsch in die Tat umgesetzt habe.


4. Erzählen Sie bitte von den Rahmenbedingungen und der Konzep­tion Ihrer Praxis.
Wir arbeiten gerne im Team, denn dadurch können wir unseren Klienten ein vielfältiges musiktherapeutisches Angebot machen und unsere Kompetenzen bündeln. Vernetzung heißt für uns gegenseitige Unterstützung, Fortbildung, Supervision und Intervision zur Qualitätssicherung unserer musiktherapeutischen Arbeit. Der Ansatz unserer Arbeit ist tiefenpsychologisch. Die schwierigste Rahmenbedingung in München war, einen Raum zu finden, auch wegen der Lautstärke.


5. Wie sind Ihre Praxisräume eingerichtet? Nach welchen Kriterien haben Sie sie gestaltet?
Die Praxis befindet sich in einem ruhigen, begrünten Altbauhinterhof in Haidhausen. Sie ist verkehrsgünstig und doch geschützt gelegen. Sie soll für die Klienten ein sicherer Ort sein, an dem sie sich willkommen und wohl fühlen.
Beim Reinkommen sieht man das Klavier und ein großes Regal mit einer vielfältigen Auswahl von Instrumenten aus verschiedenen Ländern und Kulturen der Welt.
Im hinteren Raumteil stehen Sessel und eine Couch in einer ruhigen Ecke. Gegenüber stehen ein Klangbaum, daneben E-Gitarre, Verstärker und Mi­krofon.
Auf einem Teppich kann auch am Boden gearbeitet werden.


6. Mit welchen Anliegen, Leiden oder Krankheiten können sich Menschen an Sie wenden?
Unsere Praxis wendet sich an Menschen jeden Alters. KlientInnen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen können uns aufsuchen. Wir sind da für Menschen in Krisen­situationen. Eltern können sich an uns wenden, deren Kinder unter Entwicklungsproblemen oder Bindungsstörungen leiden; ebenso Kinder, Jugendliche, Erwachsene mit Verhaltensstörungen in der Interaktion und Kommunikation, mit seelischer, körperlicher oder geistiger Behinderung. Wir sind auch für Klienten mit Stresssymptomen und Ängsten, chronischen Schmerzen und Tinnitus da. Klienten mit progressiven, chronischen und neurologischen Erkrankungen können sich gerne an uns wenden, allerdings ist der Zugang zur Praxis leider nicht barrierefrei. Wir bieten Therapien im Einzelsetting an und bei Bedarf machen wir auch musiktherapeutische Hausbesuche. Gerne leiten wir PatientInnen, denen unsere Praxis zu weit entfernt ist, an Kollegen weiter.


7. Was hilft in Ihrer Therapie? Nach welchem Konzept arbeiten Sie?
Uns allen ist gemeinsam, dass wir tiefenpsychologisch ausgebildet sind und ressourcenstärkend und prozessorientiert arbeiten. Eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung steht in unserer Arbeit an erster Stelle.
UW: in meiner Therapie spielt die Arbeit mit und an der Stimme eine große Rolle. Für mich ist die Stimme das direkteste und ehrlichste Instrument, das es gibt. Mit meinen Patientenchören und Gruppen arbeiten wir immer wieder auf Konzerte und Auftritte hin. Das gemeinschaftliche Erleben, die Freude über den musikalischen Erfolg und die zusammen gemeisterte Herausforderung setzen viele heilsame Kräfte frei.

MH: KlientInnen dabei zu unterstützen ihre Ressourcen und Potentiale zu entdecken, zu stärken und hörbar zu machen, ist mir besonders wertvoll. Gerne nehme ich die Musik meiner Klientinnen auf und stelle für sie eine CD zum Mitnehmen zusammen, nicht selten in der Funktion eines „Übergangsobjektes“. Musik und Stille mit allen Sinnen wahrzunehmen ist mir wichtig. Mir gefällt und hilft oft ein afrikanisches Sprichwort: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man da­ran zieht“.

HR: Mein Ansatz ist tiefenpsychologisch und humanistisch. Ich achte sehr auf die gespielte Musik, auf Rhythmus, Klang, Melodie, Dynamik und Form und auf die Atmosphäre in der Stunde. Insbesondere verbinde ich die Musik gerne mit Malen, Bewegung, Atmen und Geschichten erzählen. Um welchen kreativen Bereich ich die Musiktherapie erweitere, hängt vom Klienten ab. Aus der Erfahrung meiner Therapiestunden möchte ich sagen: Humor ist wichtig. Im gemeinsamen Lachen über z.B. eine Melodie oder einen Ton liegt sehr viel Kraft.
8. Wie klingt die Musik, die Sie mit Patientinnen machen oder die Sie ihnen vorspielen?
UW: Immer wieder neu und anders. Die Vielfalt der Klänge überrascht mich immer wieder und macht die Arbeit jeden Tag aufs Neue spannend.

MH: Emotional, von aggressiv über beschwingt, gelangweilt, witzig, bis zaudernd, gemeinsam zweisam oder einsam, auf jeden Fall wertvoll, einzigartig, manchmal schräg, eher einfach.

HR: Leise, laut, rhythmisch, melodisch, traurig, fröhlich, jedes Mal anders. Die gespielte Musik entsteht aus dem Moment heraus. Die Antwort ist: Die Musik klingt jedes Mal anders, man spielt sie gezielt, lässt sich treiben und wird immer wieder von ihr überrascht. Das Angebot, gemeinsam auf dem Klavier Blödsinn zu machen, hilft vielen Klienten, sich ohne Ansprüche auf eine Improvisation einzulassen. Dabei wird viel gelacht und häufig ist das Erstaunen groß, wie gut es geklungen hat.


9. Schildern Sie bitte eine typische Situation aus Ihrem Berufsalltag.
Typisch und uns allen gemeinsam ist, dass wir viel unterwegs sind, weil wir in der Praxis und an vielen anderen Orten arbeiten: Wir haben immer einen Rucksack voller Instrumenten dabei.


10. An welche besonders schwierige, lustige oder glückliche Situation können Sie sich erinnern?
UW: Ich habe im Dezember 2013 ein großes Weihnachtskonzert mit all den Chören gemacht, die ich leite. Es war ein Experiment und eine große He­rausforderung für alle Beteiligten, verbunden mit viel Arbeit und Aufregung. Aber am Ende haben die drei Chöre gemeinsam vor und mit 400 Besuchern gesungen. Vorher dachte ich, dass es vor allem ein besonderes Erlebnis für die „Aphasingers“ sein wird. Aber alle Chöre waren nach dem Konzert von dem intensiven Gemeinschaftserlebnis beglückt. Das ist gelebte Inklusion.

MH: Besonders berührt hat mich, als eine Jugendliche ihre Familie mit Instrumenten aufgestellt hat und dabei zum ersten Mal ihr bei der Geburt verstorbener Zwillingsbruder sichtbar und dann auch hörbar wurde. Bei einem Jungen mit Waschzwang haben wir „Wassermusik“ komponiert. In einer großen mit Wasser gefüllten Schüssel haben wir mit langen Strohhalmen Melodien geblubbert, einzelne Worte dazu gesprochen oder mit dem Kazoo dazu gespielt und das Ganze mit dem Mikrofon verstärkt und verzerrt.

HR: Vorab muss ich sagen, dass unsere Praxis im Souterrain liegt, sehr hell ist und eine breite Fensterbank besitzt, in der Platz zum Schlafen ist, wenn man nicht größer als 1,20 ist und die Füße anzieht. Ein 8jähriger Junge hat sich dort mit Kissen und Decken hingelegt, mit Blick nach draußen in die Bäume und ist bei leisem Spiel auf dem Klavier dort eingeschlafen.
11. Welche Idee im Bereich der Musiktherapie würden Sie gerne verwirklichen, wenn Sie ausreichend Zeit und Mittel hätten?
Wir würden gerne einen Verein gründen, der es sich zur Aufgabe macht Spender und Stiftungen zu akquirieren, durch deren finanzielle Unterstützung es möglich wird, dass sich auch Menschen ohne finanzielle Möglichkeiten Musiktherapie leisten können. Musiktherapeutische Gruppenangebote und Musiktherapie im Einzelsetting werden häufig angefragt. Jedoch scheitert es an der Finanzierung. Auf dieser Basis könnte man viele Projekte verwirklichen: z.B. musiktherapeutische Einzelstunden und musiktherapeutische Gewaltpräventionsprojekte für Kinder und Jugendliche an Schulen, musiktherapeutische Angebote in Seniorenheimen und für verschiedene KlientInnen (Demenzpatienten, Kinder mit degenerativen Erkrankungen …), für Zuhause, Musiktherapie für Flüchtlinge, für verschiedene Therapiezentren etc. …

Praxisteam Gravelotte
Musiktherapie München
Ulrike Wanetschek, Marion Histermann, Henrike Roisch (v.l.n.r.)
www.musiktherapie.muenchen.de

Heft 30 (2016) ist erschienen!

Musiktherapie und Psychotraumatologie


Das Wissen um die Traumata der Psyche, um die Verletzungen der Seelenlandschaft und deren musiktherapeutische Begleitung thematisieren die Schwerpunktbeiträge in der nächsten MuG.
„Psychotraumatologie“ erschien in den 90er Jahren weder in Pschyrembels Klinischem Wörterbuch, noch im Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, auch nicht im Klinik­leitfaden Medizinische Rehabilitation 2011 und leider auch nur als unerklärtes Stichwort in unserem „Lexikon Musiktherapie“ von 2009.
Erst peripher, heute häufiger steht das Wort als Oberbegriff für die Entstehungsgründe und den natürlichen bzw. psychotherapeutisch begleiteten Heilungsverlauf seelischer Verletzungen – ein „Delta-Begriff“, der viele Verschiedenheiten sammelt.
Musiktherapeutische Begleitung setzt aus der Praxis heraus in diesem „weiten Feld“ immer wichtiger werdende Akzente. Die nächste MuG will diese Akzente in Fallbeispielen näherbringen und in einem Begleitaufsatz eines Psychiaters und Psychotherapeuten sowie eines Musiktherapeuten Klärungen aus diesen Praxisbeispielen ableiten.

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

LVR-Klinikum Essen

Von Gesine Grundmann, Katrin Steudemann und Beatrix Evers-Grewe

Wir laden ein zu einem Spaziergang in die Musiktherapie des LVR-Klinikums Essen!
Da arbeiten wir zu dritt als Musiktherapeutinnen. Aber bevor wir zu unserer Arbeit kommen, möchten wir etwas über die Umgebung unserer Klinik erzählen, zuerst über die Stadt Essen im Zentrum des Ruhrgebiets bzw. der Metropolregion Ruhr. Sie repräsentiert mit etwas unter 590.000 Einwohnern den Wandel der Region und beheimatet Relikte der Zeit der Zechen und Stahlwerke, wie z.B. die Zeche Zollverein (heute eine Kultureinrichtung), ist Sitz eines Bischofs und traditionsreicher kultureller Institutionen wie z.B. der Folkwang Universität der Künste, der Philharmonie, des Aalto-Theaters und des Folkwang Museums. Die Geschichte der Stadt reicht bis in das Jahr 1003 zurück, in dem Essen bereits als Stadt urkundlich erwähnt wurde.
Der Hauptstandort des LVR-Klinikums Essen als Bestandteil der ‚Kliniken und Institut der Universität Duisburg-Essen‘ befindet sich in der Virchowstraße auf dem Gelände des Universitätsklinikums in Essen-Holsterhausen. Die Kliniken liegen hier gut erreichbar zwischen dem Grugapark, der Margaretenhöhe und dem beliebten Essener Stadtteil Holsterhausen südwestlich der Innenstadt. Auf dem mit rund 60 Gebäuden, insgesamt 27 Kliniken mit 1.300 Betten und 24 Instituten dicht bebauten Areal werden von etwa 6250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pro Jahr ca. 50.000 Pa­tientinnen und Patienten stationär und ca. 19.500 ambulant behandelt.
Das LVR-Klinikum wurde in den 70er Jahren gebaut und gehört zu den 10 Kliniken (eine orthopädische und neun psychiatrische) in Trägerschaft des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Insgesamt sind in den Kliniken des LVR über 65 Kreativtherapeutinnen und -therapeuten beschäftigt. Durch regelmäßigen Austausch halten sie sich über die Entwicklungen im Bereich der Künstlerischen Therapien auf dem Laufenden. Alle zwei Jahre veranstalten sie dazu eine Tagung, die ‚KreativtherapieTage‘, die 2015 in Essen ausgerichtet wurden.
Mitglieder des sozialpsychiatrischen Förderkreises des LVR-Klinikums Essen sorgen u.a. für kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte und Ausstellungen in der Virchowstrasse. Das kulturelle Leben der Klinik wird mit weiteren Veranstaltungen mit aktiver Beteiligung von Patientinnen und Patienten, deren Angehörigen und Freunden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und weiteren Interessierten aus dem Umfeld erweitert, in denen z.B. gesungen und gemalt wird.
Am Hauptstandort und verschiedenen weiteren Standorten finden sich fünf Abteilungen der Klinik und das Institut für Forensische Psychiatrie:

  1. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
  2. Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
  3. Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
  4. Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
  5. Klinik für Forensische Psychiatrie
  6. Institut für Forensische Psychiatrie

Am LVR-Klinikum Essen sind vier Kunsttherapeutinnen bzw. Kunsttherapeuten und drei Musiktherapeutinnen tätig. Tanz- und Theatertherapie sind nicht vertreten, im Bereich Bewegungstherapie sind aber zwei Kolleginnen mit Ausbildungen in Konzentrativer und eine in Integrativer Bewegungstherapie tätig. Eine Ergotherapeutin mit umfangreichen entsprechenden Fortbildungen ist in der Allgemeinpsychiatrie neben ergotherapeutischer Arbeit auch gestaltungstherapeutisch tätig.
Entsprechend den verschiedenen Einsatzgebieten sind die Herangehensweisen der Musiktherapeutinnen auf die jeweiligen Rahmenbedingungen und den Gesamtbehandlungsplan unserer Patientinnen und Patienten ausgerichtet. Unsere Arbeit besteht überwiegend aus Gruppenmusiktherapien. Bei entsprechender Indikation und Konzeption des Settings werden aber auch regelmäßig Einzeltherapien durchgeführt.


Psychosomatik
In der Psychosomatik nehmen die Patientinnen und Patienten im Rahmen des Gruppensettings nach einem Erstkontakt an der Musiktherapie, wie bei allen anderen Gruppenangeboten ihrer Behandlung, gemeinsam teil. Musiktherapie-Gruppen finden zweimal wöchentlich statt. Der Aufenthalt dauert hier in der Regel acht bis zwölf Wochen. Neben der Musiktherapie findet auch Kunsttherapie und Konzentrative Bewegungstherapie statt sowie ein breites Spektrum weiterer der in der Psychosomatik üblichen Therapieformen wie z.B. Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Psychoedukation, Ressourcengruppen, pflegerische Einzelkontakte. Zum Behandlungsteam gehören außerdem Ärztinnen und Ärzte, eine Sozialarbeiterin und Krankenschwestern. Das Team tauscht sich einmal wöchentlich aus und hat ca. einmal pro Monat eine gemeinsame Supervision.
Patientenbezogen werden unterschiedliche Schwerpunkte in der Musiktherapiegruppe gesetzt; die Interaktion und der gruppendynamische Aspekt sind regelmäßig im Fokus. Darüber hinaus ist Gelegenheit, mit einzelnen Patientinnen und Patienten anhand von Situationen, die sich in der Musiktherapie entwickeln, an Ursachen und Entwicklung neuer Lösungsmöglichkeiten zu arbeiten. Auch an Ressourcen lässt sich immer wieder gut anknüpfen, besonders wenn bereits positive Erfahrungen mit Musik vorliegen. So entdeckte z.B. eine Patientin, die in Behandlung kam, weil sie körperlich und seelisch krank und völlig erschöpft war und keine erfreulichen Erlebnisse mehr wahrnehmen konnte, in der Musiktherapie ihre früher ausgeprägte Freude am Tanzen wieder. Sie fand so wieder Zugang zu ihren Ressourcen und konnte in der Folge sowohl ihre leichte Seite als auch die mit Ängsten, Konflikten und schweren Enttäuschungen beladene Seite einbringen. Sowohl für sie als auch für die anderen Mitglieder ihrer Gruppe waren diese Erfahrungen wichtige Schritte auf dem gemeinsamen Weg einer erfolgreichen Gruppenpsychotherapie.


Allgemeinpsychiatrie
Im Bereich Allgemeinpsychiatrie werden Patientinnen und Patienten entweder über das elektronische Dokumentationssystem angemeldet oder bei Teambesprechungen der Station der Gruppen- oder bei Bedarf der Einzelmusiktherapie zugeordnet.
Die Musiktherapie findet in einem kleinen, eigenen Raum in kleinen Gruppen und in Einzeltherapien statt. Die Therapieatmosphäre ist persönlich, die psychotherapeutische Ebene ist intensiv und der therapeutische Schutzraum wird gut angenommen.
Aktive und rezeptive musiktherapeutische Methoden kommen zur Anwendung. Die Musik, das Gespräch, das Malen und Schreiben bringen gedankliche und seelische Inhalte in der Musiktherapie zum Ausdruck, die verbal reflektiert und aufgearbeitet werden. Die Patentinnen und Patienten bringen eigene Instrumente mit, auch Lieder und Texte sowie persönliche Musik zum Hören, mit der sie sich identifizieren können. Das fördert die therapeutischen Ziele, die sie in der Therapie für sich selbst erreichen möchten.
In der Musiktherapie richten wir die Aufmerksamkeit auf den ganzen Menschen: der Mensch „als Musikinstrument“. In rhythmischen Übungen mit dem Körper machen die Patientinnen und Patienten heilsame Erfahrungen. Die menschliche Stimme in Verbindung mit unserem Atemrhythmus bringt die Seele und den Geist zum Klingen. Gedankliche Inhalte werden mitgeteilt in einer Sprachmelodie, die in ihrer eigenen Klangfarbe schwingt. Die innere Stimme als Zentrum unserer inneren Heimat beschützt den Ich-Kern. Die akustische Klangmeditation in der Gruppenmusiktherapie bringt Patientinnen und Patienten zur inneren Konzentration und Besinnung auf die eigene Lebensenergie; die innere Mitte, in der sie Ruhe und Sicherheit finden. Die rhythmische Bewegung mit Musik und das Singen wird oft als innere Befreiung erlebt. Die musikalische, instrumentale, gruppendynamische Improvisation fördert die konstruktive Gestaltung der Gruppe in der Auseinandersetzung und im Zusammenfinden in der musikalischen Harmonie.
Die internationale Geschichte des Ruhrgebietes bringt Menschen aus allen Kulturen und Ländern zu uns. Die Musik als internationale, nonverbale Sprache bietet eine einmalige Gelegenheit, alle Menschen akustisch, mental, seelisch zu erreichen und aktiv im Erleben miteinander spielerisch, singend, bewegend, hörend zu verbinden.


Psychiatrie, Psychotherapie, Suchtmedizin
Die stationär oder ambulant betreuten Patientinnen und Patienten profitieren vom breiten Spektrum der Musiktherapie. Auch die fach- und stationsübergreifend angebotenen und gemeinsam mit einer Bewegungstherapeutin geleiteten Gruppen mit Musik und Bewegung (bzw. Aktivität und Ruhe) werden sehr gut angenommen. Trotz oft starker Beeinträchtigung durch Nebenwirkungen der Medikamente nehmen die Patienten eine Bewusstmachung und Erweiterung ihrer elementar koordinatorischen Bewegungen als hilfreich wahr. Die unmittelbar auf die Patienten abgestimmte, live gespielte Musik unterstützt nicht nur den Spaß an der Bewegung, sondern vor allem die Vitalitätsaffekte. Sie verhilft dazu, den Körper zu spüren und stärkt das Erleben von Entspannung und Erholung.
Im stationären Setting gestalten sich die Therapiestunden, wie es die Regieführung der Patienten verlangt. Aus einem Eingangsgespräch heraus wird entschieden, was „dran“ ist: Die gemeinsame Improvisation ermöglicht eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben und Verhalten. Individuelle musikalische Werke entstehen, welche die seelische Bewegung, deren Blockierungen, aber auch deren Resilienzen spürbar machen. Im musikalischen Spiel kann Unsagbares bewusst werden und das handlungsorientierte Miteinander sucht danach, Festgefahrenes wieder in Fluss zu bringen. Mit dem Entdecken von eigenem kreativen Potenzial wachsen Kräfte für die Krankheitsbewältigung – sie tragen zur Fähigkeit von psychisch erkrankten Menschen bei, innerhalb ihrer individuellen Problematik neue Lösungsformen zu finden. Zudem machen die Teilnehmenden die Erfahrung, „etwas zu können“, soziale Kontakte zu knüpfen und ein oftmals verloren gegangenes Gemeinschaftsgefühl (wieder) zu finden. Musikalische Rollenspiele, das musikalische Porträt, Familienaufstellungen mit Instrumenten oder auch ein „musikalisches Geschenk“ wirken erfahrungsgemäß sehr stark in den Alltag der Patienten hinein. Atemübungen, Stimmgebung und Singen regen Vigilanz, Vitalfunktionen sowie Mimik und Gestik an. Das Singen von Liedern bietet nicht nur Selbstresonanz und Struktur, sondern auch Unterstützung bei der Suche nach persönlicher Identitätsfindung. Insbesondere wird die Aussagekraft des Textes oft genutzt, um an Themen des Patienten zu gelangen, die bearbeitet werden wollen. Das Hören von bevorzugter Musik mit anschließendem Gespräch ist ein weiterer Bestandteil der Therapie. Des Weiteren wird das Musikhören angewandt entweder zur Untermalung für eine geführte Phantasiereise oder zum bewussten Lauschen oder Genießen. Rhythmische Interventionen dienen der Kanalisierung von „unorganisierter Energie“ in eine strukturierende Gestaltung. Dabei werden Konzentrationsfähigkeit, Körpergefühl, Affekt- und Spannungsregulierung gefördert. Musik als Selbstresonanz, als Selbstbehandlung und Resilienzförderung gewinnt immer mehr an Bedeutung – bei zunehmend kürzeren Klinikaufenthalten.

Rückmeldungen von Patientinnen und Patienten:
„Man bekommt von den Instrumenten sofort ein Feedback“; „… entwickelt viel unbewusst“; „es ist ein Stück weit Arbeit und man ist froh, wenn die Stunde vorbei ist“; „es macht Sinn, davor und danach zu sprechen“; „… man bleibt mit Kleinigkeiten zufrieden“; „den Unterschied merkt man schon“; „so frei, ganz ohne Beschwerden…“; „ich hab mal ausprobiert, mich gegenüber meiner Schwiegermutter hörbar zu machen, es hat funktioniert“; „man muss sich konzentrieren und hat doch den Kopf frei …“.

Die Autorinnen:

Beatrix Evers-Grewe
Musiktherapeutin (DMtG), Dipl. Kulturwissenschaftlerin. Seit 2012 tätig am LVR-Klinikum Essen.

Gesine Grundmann
Diplom-Musiktherapeutin (DMtG), Diplom-Musikpädagogin (Violoncello). Seit 1980 tätig in Europa als Musiktherapeutin und -Pädagogin. Seit 2008 Musiktherapeutin im LVR-Klinikum Essen in der Allgemeinpsychia­trie.

Katrin Steudemann
Dipl.-Musiklehrerin Sek I/II, Dipl.-Musiktherapeutin. Seit 2005 selbstständige Musiktherapeutin. Seit 2012 Musiktherapeutin am LVR-Klinikum Essen. Lehrtätigkeit an der Schule für Logopädie am Uniklinikum Essen. Lehrkraft bei verschiedenen Weiterbildungen.

Weitere Beiträge...

  1. Editorial
  2. Inhaltsverzeichnis