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Musiktherapeutisches im Alltag

Von Selma Suzan Emiroglu

 

Musikfocusing
„Musik und Sprachförderung“ lautet das Titelthema dieses Heftes. Wohin möchte Sprache gefördert werden? Zunächst natürlich hin zum verständlichen Ausdruck. Danach orientiert sich einer in Richtung einer wissenschaftlichen Fachsprache, ein anderer bevorzugt eine ästhetische Wortwahl, der dritte strebt eine musikalische Pro­sodie an. Manchen ist es wichtig, klar und selbstsicher zu sprechen. Andere suchen beim Sprechen tastend nach der authentischen Wahrheit des Augenblicks, fördern dazu die Sprache aus dem Körper empor – ein Prozess, den Eugene Gendlin im Zusammenhang mit Focusing beschrieb. Diesem letzten Aspekt der Sprachförderung widmet sich die folgende Praxis.
Focusing ist „eine Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme“ (Gendlin 1981). Ich lade Sie ein, Focusing jetzt kennenzulernen und mit Musik(therapie) zu verbinden. Machen Sie es sich in aufrechter Haltung bequem! Spüren Sie in die Kontaktstellen mit der Unterlage, unter den Fußsohlen und unter dem Gesäß: Wo berühren sie den Boden, eher an der Fußinnenkante oder an der Außenkante? Spüren Sie mehr Kontakt an den Fersen oder an den Ballen? Spüren Sie Druck unter Ihren Sitzhöckern, Oberschenkeln oder Pobacken? Wo berühren Sie die Lehne, und welche Stellen ihrer Wirbelsäule haben Abstand zur Lehne?
Nun wandern Sie mit einem warmen inneren Blick durch Ihren Körper auf der Suche nach einem „guten Ort“. Wo im Körper fühlt es sich jetzt in diesem Augenblick angenehm an? Das kann im unteren Bauch, in der rechten Halsseite oder auch an einer ganz kleinen Stelle wie im linken kleinen Zeh sein. Wenn Sie eine Stelle gefunden haben, wo Sie gerade gut bei sich sein können, verweilen Sie dort wie in einer Hängematte. Wie spürt der gute Ort sich an, weich, warm, weit oder… ? Und wie klingt er, wie ein dunkler Celloklang oder eher wie ein klarer Klavierklang, wie ein „uuu“ oder eher wie ein „fff“? Je nach Möglichkeit suchen Sie sich nun ein Instrument, einen Gegenstand oder Ihre Stimme, das dem gespürten Ort entspricht und lassen ihn erklingen. Stimmen Sie den Klang möglichst genau mit der Qualität des Ortes ab, bis Sie zufrieden sind. Genießen Sie den Klang. Lassen Sie zu, dass sich das Gespürte und das Gehörte in Ihrer Aufmerksamkeit ausbreiten…
Während Sie absichtslos bei Empfindung oder Klang verweilen, mit Ihrer Aufmerksamkeit zwischen beiden hin und her pendeln, kann eine entsprechende Bedeutung aus Ihrer aktuellen Lebenssituation auftauchen. Vielleicht kommt Ihnen eine Erkenntnis in den Sinn, oder die Lösung zu einer Frage. Spüren Sie beispielsweise etwas Ruhiges, Festes im Unterbauch und lassen das entsprechende „nnn“ erklingen, merken Sie möglicherweise Ihr Bedürfnis nach Sicherheit für einen bevorstehenden Vortrag. Durch den Zusammenhang von „Gespürtem“ und persönlicher „Bedeutung“ nannte Gendlin die bedeutungstragende Empfindung felt sense (engl. „gespürte Bedeutung“ bzw. „gefühlte Empfindung“). Darüber wird im Focusing auf die Weisheit des Körpers zugegriffen.
Ob mit oder ohne aufgespürter „Bedeutung“ können Sie an dieser Stelle das Musikfocusing beenden. Kehren Sie im Tagesverlauf immer wieder zu Ihrem guten Klang, Stimmlaut und felt sense zurück und verbinden Sie sich darüber immer wieder in angenehmer Weise mit sich selbst. Wenn Sie – wie im o.g. Beispiel – einen aufregenden Vortrag halten, können Sie sich vor Ihren Zuhörern mit der gespürten Sicherheit im Unterbauch verbinden oder innerlich immer mal wieder „nnn“ zum klingen bringen.
Liegt eine Entscheidung an oder dominiert ein unangenehmes Gefühl, können sie sich diesen in respektvollem Abstand vom „guten Ort“ aus widmen. Benennen Sie zunächst das Thema oder das diffuse Unwohlsein mit einem Griff – das kann ein Wort, eine Frage oder ein Bild sein. Dann kehren Sie an die Stelle zurück, an der Sie die obige Praxis beendeten: verweilen Sie in der Empfindung des guten Ortes. Von dort aus spüren Sie in Ihren Bauch-Brust-Hals-Raum. Lassen Sie dort den felt sense, das Gespürte zu Ihrem Thema auftauchen. Meist dauert das eine halbe Minute bis Minute. Durch den vorher benannten Griff können Sie sich immer wieder fokussieren. Bleiben Sie stets gelassen und absichtslos: als Beobachter wahren Sie einen respektvollen Abstand zum felt sense und können immer wieder zu Ihrer Hängematte im guten Ort pendeln. Wie spürt sich der felt sense Ihres Themas an, ist er eckig, rund, lang,…? Und wie klingt er? Klingt er wie eine scheppernde Rassel, wie eine glucksende Wasserflasche, wie ein tiefes „grrrr“ oder eher wie ein hohes „ksch“? Suchen Sie sich ein stimmiges Instrument und lassen es nun erklingen!
Während Sie so zwischen felt sense und Klang hin und her pendeln, stimmen Sie den Klang immer feiner ab… Schließlich spüren und lauschen Sie der Bedeutung nach. Welche Antworten tauchen aus dem felt sense und Klang auf? Wenn die passende Bedeutung erscheint, stellt sich ein körperliches Gefühl der Erleichterung ein, „Ja, das ist es!“ Gleichzeitig verändert sich der felt sense, wandelt seine Form oder kommt ins Fließen. Auch wenn nichts Stimmiges auftaucht, hat das Verweilen mit dem felt sense und Klang eine heilende Wirkung; der Prozess kommt in den Fluss. Vielleicht stellen sich im Lauf der nächsten Tage konkrete Entscheidungen ein. Bewahren Sie alles, was aus dem Musikfocusing auftaucht; schützen Sie das zarte Neue vor allem vor kritischen Gedanken! Und nehmen Sie den guten Ort und Klang mit in Ihren Tageslauf – als lebendige Mini­urlaube auf Ihren persönlichen Inseln!

 

Die Autorin:

Selma Suzan Emiroglu
Geb. 1976. Musiktherapeutin, Physikerin mit Promotion im Bereich Psychoakustik, Folkmusikerin. Derzeit musiktherapeutisch tätig mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung, Seminaren zur Burnout-Prophylaxe und begleitendem Einzelmusikcoaching.
musikgiraffe(at)gmx.de