Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

HöBAt – eine Achtsamkeits- und Tranceinduktionsmethode für Alltag und Therapie
„HöBAt“… bitte was? Diese merkwürdige Bezeichnung wurde vor vielen Jahren einmal scherzhaft von einem meiner Weiterbildungsteilnehmer als Abkürzung für drei wiederkehrende Schritte einer Entspannungsübung geprägt. Im Laufe der Jahre hat es sich als feststehender Begriff eingebürgert für: Hören / Boden / Atem. Wiederkehrend, immer in der gleichen Reihenfolge. Lassen Sie sich heute von mir mitnehmen auf den Weg zu einer sanften, sehr alltagstauglichen Achtsamkeits-, Selbstberuhigungs- und Selbstfürsorgemethode.
Dabei ist der Zeitbedarf sehr unterschiedlich: für den ersten Schritt benötigen Sie nur eine halbe Minute, er ist jederzeit mitten im Alltag und während jeglicher Tätigkeit durchführbar. Für den gesamten Ablauf in 7 Schritten sollten Sie sich etwa 15–20 Minuten gönnen. Wählen Sie dazu einen angenehmen Ort und eine entspannt aufrechte Sitzposition.
1. Ankommen im Jetzt: Registrieren Sie, was jetzt unmittelbar wahrnehmbar ist, ohne es zu bewerten:
–– Hören Sie auf die Geräusche im Außen.
–– Spüren Sie den Bodenkontakt.
–– Nehmen Sie Ihren Atem wahr.
Wiederholen Sie diese drei Wahrnehmungsschritte ein paarmal in genau dieser Reihenfolge. Dabei sind Sie vollkommen präsent, hellwach und gleichzeitig gelassen und entspannt. Die Augen können gerne geöffnet bleiben.
2. Loslassen:
–– Das Hören wandelt sich nun zum Lauschen. Erkunden Sie lauschend das „Dazwischen“ zwischen den momentan für Sie wahrnehmbaren
Geräuschen, von denen Sie nah oder fern umgeben sind. „Gehen Sie mit ihren Ohren spazieren“ in diesen verschiedenen Geräuschen.
–– Vertiefen Sie den Kontakt zum Boden, nehmen Sie das Getragensein wahr, vertrauen Sie sich dem Gehaltensein an.
–– Verlängern Sie ganz bewusst den Ausatem. Lassen Sie die Gedanken mit dem Ausatem ziehen, geben Sie an den Ausatem ab, was jetzt zu viel ist.
3. Vertiefen:
–– Lauschen Sie nun nach innen, in Ihren Körper hinein. Dort gibt es eine Vielzahl an Geräuschen, Rhythmen, Klängen, Gluckern, auch pulsierendes Rauschen… zu entdecken, vielleicht konkret wahrnehmbar, vielleicht als Ahnung mit Ihren „inneren Ohren“ hörbar. Stellen Sie sich vor: Jede Ihrer -zig Billionen Körperzellen produziert in diesem Augenblick einen sehr leisen Ton auf einer Frequenz, die unser Gehör durchaus wahrnehmen könnte. Mit Nano-Mikrophonen ist es gelungen, diese Zell-Klänge hörbar zu machen. Vergegenwärtigen Sie sich staunend dieses
innere Lebens-Klang-Konzert Ihres Körpers und erkunden Sie es im Lauschen nach Innen.
–– Geben Sie Gewicht ab an die Erde unter Ihnen, lassen Sie irgendetwas tief hinunter in die Erde abfließen, hineinsickern, was es auch sein
mag, die Erde nimmt bereitwillig alles auf und transformiert es.
–– Verlängern Sie den Ausatem hörbar mit einem leisen Geräusch und geben Sie ihm etwas mit, das entweichen darf: mag es eine Spannung
sein, ein belastender Gedanke oder …
Die Augen haben sich vermutlich mittlerweile schon ganz von alleine geschlossen.
4. Den Herzraum summend erkunden: Nun legen Sie eine Hand beruhigend auf die Mitte Ihrer Brust und lassen einen Summton im Innern Ihres Herzraumes entspringen. Indem Sie den Summ-Klang sich mehr und mehr entfalten lassen, gehen Sie dort summend mit Ihrer Aufmerksamkeit spazieren, schauen Sie sich um. Wie sieht es dort aus? Welche Atmosphäre nehmen Sie wahr? Wie hell oder dunkel, weit oder eng, warm oder kühl… erscheint ihnen dieser innere Raum jetzt? Stellen Sie sich vor, wie Sie mit den Vibrationen des Summens Ihren Herzraum von innen her streicheln. Kleiden Sie diesen metaphorischen Raum mit Ihrem Summen aus, malen Sie ihn mit imaginiertem farbigem, tönendem Licht an. Schicken Sie Ihr Summen behutsam auch in dunkle Ecken, Winkel und Verstecke dieses Raumes hinein, sollte es sie geben.
5. Summend ein Anliegen klären: Nun lassen Sie sich summend zu einem Anliegen hinführen, zu einem Thema, für das Sie diesen intuitiven, entspannten Wachzustand nutzen möchten. Dieses Anliegen, diese Frage darf sich nun zeigen: ob als bildhafte Vorstellung, als Gedanke, als Körperempfinden… lassen Sie sich überraschen. Erlauben Sie, dass es sich jetzt mit dem nächsten Ausatem ausdrücken darf, hörbar werden darf in Geräuschen, Lauten, Tönen, Gesten, Bewegungen, gesungenen Worten… so lange, bis es genug ist, bis es von alleine verklingt.
6. Zwei heilsame Begriffe: In der Stille danach lassen Sie zwei heilsame Begriffe auftauchen, die intuitiv aus der Tiefe Ihres Herzens aufsteigen.
Flüstern Sie diese zwei wohltuenden Worte hörbar, je eines auf den Ein- und den Ausatem. Gleichzeitig entstehen dazu vielleicht ein inneres Bild und ein angenehmes Körpergefühl, z.B.:
Einatem: - Ausatem:
„Sonne“ - „Wärme“
„Liebe“ - „Geborgenheit“
„gesund“ - „freudig“
… - …
7. Nachspüren: Wenn es genug ist – Sie werden den richtigen Zeitpunkt erspüren – nehmen Sie die Veränderungen wahr. Was ist jetzt anders als am Beginn dieser achtsamen Erkundung? Wie hat sich Ihre Stimmung verändert? Wie Ihre Körperwahrnehmung? Wie Ihr Raumgefühl? Wie der Kontakt zwischen dem Innen und dem Außen? Was hat sich mit Ihren Gedanken verändert?
Wenn Sie diese Wandlung Ihrer Befindlichkeit registriert haben, genießen Sie die „Ernte“ und gönnen Sie sich dann ein genüssliches Räkeln (wichtig: mit weit geöffneten Händen und Füßen), Gähnen, Strecken… und kehren Sie mit Ihrer gesammelten Aufmerksamkeit wieder in den Raum zurück, in dem Sie sich befinden.

Methodische Hinweise für Musiktherapeut*innen
Es handelt sich bei dieser Folge von 7 Schritten um einen spiralförmigen Prozess der Induktion einer trophotropen, hypnoiden Trance. Ausgehend vom Fernsinn, dem Hören, mit dem man die Geräusche im Außen „abtastet“ und auf ihre Bedeutsamkeit für einen selbst hin überprüft – geht es weiter zur Wahrnehmung des Bodenkontakts, der Sicherheit verschafft, Ruhe gibt, Erdung vermittelt und Schutz – um dann schließlich zum intimen, körpernahen Atem, der Außen und Innen permanent verbindet, zu gelangen. In der Wiederholung dieser drei Wahrnehmungsschritte
kann ein durchaus erwünschter Ermüdungsprozess im Denken einsetzen.
Mit Schritt 1 + 7 wird der Vorher-Nachher-Vergleich angeregt: die Wirkungen, die subtilen Veränderungen können wahrgenommen werden.
Dabei dient Schritt 7 der Integration, der Speicherung dieser Erfahrung im Körpergedächtnis, fördert das Embodiment.
Zu Schritt 1: Hier dient „HöBAt“ als Irritation, als Aufweck-Moment mitten in der gewohnheitsmäßigen Alltags-Stress-Trance und benötigt nur wenige Sekunden. Eckhard Tolle nennt diesen achtsamen Zustand vollkommener Präsenz „Gegenwärtigkeit“.
In Schritt 2 + 3 dient „HöBAt“ als sanfte Tranceinduktionsmethode, spiralförmig vertiefend, von der Außenwahrnehmung immer mehr zur Körperinnenwahrnehmung hin leitend. Auf der Ebene der Hirnwellen ließe sich mit dem bildgebenden Verfahren des Brainmapping vermutlich eine „hellwache Entspanntheit“ abbilden, ein scheinbar paradoxer, jedoch sehr heilsamer, regenerierender Bewusstseinszustand, den wir im Alltag in der Regel nicht kennen.
Bei Schritt 4–6 handelt es sich um eine emotionale Besänftigung, um Selbstfürsorge, um die Stimulation des Vagus-Nervs, was wiederum den Zugang zu unbewussten Ressourcen für eine kreative, intuitive Lösungsfindung erleichtert. Der Herzraum steht hier als Metapher für positiven SELBSTKontakt.

Die Autorin:
Sabine Rittner ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und körperorientierter Therapie. Sie ist tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Musiktherapieforschung), sowie in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching). Seit mehr als 40 Jahren leitet sie Seminare, bildet aus und hält Vorträge weltweit. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie. Weitere Informationen: www.SabineRittner.de

Literaturtipps und Infos
Rittner, S. (2021). Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme: Das Summen in besonderen Zeiten. In: Musik und Gesundsein 40 (2021), 42–43.
Tolle, E. (2010). Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. Bielefeld: Verlag J. Kamphausen.
Thich Nhat Hanh (2002). Das Wunder der Achtsamkeit. Bielefeld: Theseus Verlag.
Kabat-Zinn, J. (1998). Im Alltag Ruhe finden. Das umfassende praktische Meditationsprogramm. Freiburg i. Br.: Herder Verlag.
Sonneborn, U. et al. (2021). SELBST-geführte Psychotherapie: Neue Wege der Integrativen Psychotherapie Innerer Systeme und der professionellen Selbstfürsorge. Freiburg i. Br.: Arbor Verlag.
In Zusammenarbeit von Wissenschaftlern der UCLA in Los Angeles und Künstlern wurden bereits in den neunziger Jahren Körperzell-Klänge mit Hilfe von Nano-Mikrophonen hörbar und in Form von einer Rauminstallation erfahrbar gemacht: www.darksideofcell.info
Unter www.sabinerittner.de finden Sie mehrere Videos mit von Sabine Rittner angeleiteten, tönenden Meditationen und einer Klangtrance-Reise kostenlos zum Mitmachen.

Schwerpunktthema I

Innovation am Ende der Talsohle? Erfahrungen aus einer musiktherapeutischen Studie in Pandemiezeiten

Von Laura Blauth, Carina Petrowitz, Thomas Wosch

Wenn über eine große Forschungsstudie berichtet wird, stehen vor allem Zahlen und Daten im Vordergrund. Hinter diesen Zahlen verbergen sich jedoch viele ganz persönliche Erfahrungen und Erlebnisse aller Beteiligten, die für die Planung und Durchführung zukünftiger Projekte von großer Bedeutung sind. An dieser Stelle wollen deshalb drei Mitarbeiter*innen der Forschungsstudie HOMESIDE einen Einblick hinter die Zahlen ermöglichen.
Die internationale Forschungsstudie HOMESIDE wird parallel in fünf Ländern (Australien, Deutschland, Großbritannien, Norwegen, Polen) durchgeführt und untersucht die Wirkung musiktherapeutischer und lesetherapeutischer Angebote für Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen. In Deutschland wird das Projekt von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, kurz FHWS, betreut und umgesetzt. HOMESIDE ist eine dreiarmige kontrolliert randomisierte Studie (RCT), die von der Europäischen Union unterstützt und in Deutschland vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell gefördert wird. In jedem der fünf teilnehmenden Länder sollen 99 (also insgesamt 495) Paare an der Studie teilnehmen. Die Bezeichnung Teilnehmerpaar bezieht sich hier auf einen Menschen mit Demenz und einen, im gleichen Haushalt lebenden, pflegenden Angehörigen. Teilnehmende Paare werden zufällig der Musikintervention, der Leseintervention oder der Kontrollgruppe zugeteilt. Die Paare in der Musik- und der Leseintervention werden von Therapeut*innen dabei unterstützt, Musik- bzw. Leseaktivitäten im Alltag und in der häuslichen Pflege einzusetzen. Diese gemeinsamen Aktivitäten sollen dabei helfen, Symptome der Demenz (z.B. Unruhe oder Niedergeschlagenheit) zu regulieren, Erinnerungen zu wecken, Gemeinsamkeit zu erzeugen und das Wohlbefinden aller Beteiligten zu verbessern. Jede Einbeziehung der Teilnehmenden findet direkt bei ihnen in ihrem Zuhause, und damit in ihrem gewohnten Umfeld, statt.
Die Durchführung der Studie wurde von den Veränderungen und Kontaktbeschränkungen durch die Corona-Pandemie stark beeinträchtigt. Nach einem guten Start im Jahr 2019, konnte das Projekt ab März 2020 plötzlich nicht mehr wie geplant fortgeführt werden. Nur durch große Umstrukturierungen war es möglich, die Ziele der Forschungsstudie zu erreichen und den teilnehmenden Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen ein therapeutisches Angebot zu machen. In den folgenden Beiträgen möchten wir auf diese Veränderungen eingehen und aus drei individuellen Sichtweisen betrachten. Eine Musiktherapeutin, die klinische Studienleiterin und der Projektleiter von HOMESIDE in Deutschland erzählen, ob und wie sie das „Hinein in die Talsohle – und hinaus aus ihr“ durch die Corona-Pandemie erlebt haben.

Teil 1: Carina Petrowitz
Musiktherapie aus dem Homeoffice – musiktherapeutische Arbeit in Zeiten von Kontaktbeschränkungen
Nach einiger Zeit der klinischen Arbeit als Musiktherapeutin in einer Akutpsychiatrie beginnt für mich im November 2019 eine neue berufliche Herausforderung und Tätigkeit: die Durchführung der musiktherapeutischen Interventionen im Rahmen der internationalen Studie HOMESIDE. Die Studie HOMESIDE ist zu diesem Zeitpunkt nicht nur die weltweit größte Studie im Bereich der Demenz, sondern die untersuchte
musiktherapeutische Intervention bringt auch besondere Neuerungen und Bedingungen mit sich.

Besonderheiten des musiktherapeutischen Angebots
Als ambulantes, häusliches Angebot findet die HOMESIDE Musiktherapie im häuslichen Umfeld der Studienteilnehmer*innen statt. Die Demenzbetroffenen und ihre Angehörigen nehmen gemeinsam an den von Musiktherapeut*innen geleiteten, therapeutischen Interventionen teil. Zu dritt entdecken und erleben Therapeut*in und das teilnehmende Paar Musik, die zum Beispiel das Wohlbefinden steigern, gemeinsame Erinnerungen ermöglichen oder die Beziehung der Teilnehmenden stärken kann. Gemeinsames Singen, Hören von Musik, Tanzen oder Instrumentalspiel werden als musikalische Aktivitäten vorgestellt und ausprobiert. Orientiert an individuellen Vorlieben und Interessen der Teilnehmer*innen können durch die gemeinsamen Musikaktivitäten positive Erlebnisse angeregt, fokussiert und verstärkt werden. Diese gemeinsam entdeckten, musikalischen Aktivitäten sollen über die therapeutische Intervention hinaus auch im Alltag und ganz ohne die Therapeutin genutzt und eingesetzt werden.

Neue musiktherapeutische Chancen und Herausforderungen
Im Vergleich zu meiner bisherigen Tätigkeit im klinischen Umfeld bewege ich mich heraus aus meinem voll ausgestatteten Musiktherapieraum, hinein in das Zuhause der Menschen und nutze das, was ich jeweils vor Ort vorfinde. Darüber hinaus muss ich immer im Kopf haben, dass alle musikalischen Aktivitäten auch ohne mich nutzbar sein sollten und die Teilnehmenden darin anzuleiten, dies in ihren Alltag zu integrieren.
Im Januar 2020 ist es dann soweit, das erste Paar wird der Musikgruppe zugeteilt und ich kann die Arbeit mit ihnen beginnen. Ich besuche die Teilnehmenden zu Hause, bin Gast in ihrem Wohnzimmer und gleichzeitig Therapeutin einer Forschungsstudie, die Musik mit ins Haus bringt oder die Musik im Haus wieder erklingen lässt. Die Atmosphäre im ersten Termin scheint zunächst verhalten. Gemeinsam gestalten wir einen intensiven ersten Termin und legen schnell unsere Nervosität ab. Schließlich ist bereits dieser Termin geprägt von einem regen Gesprächsaustausch, aber auch viel Musik. Wir freuen uns miteinander über positive Reaktionen, wie beispielsweise ein Wippen mit dem Fuß, Klatschen oder leises Mitsingen. Wir blättern gemeinsam in Fotoalben, weil uns bei einem Lied etwas eingefallen ist oder uns zu einem älteren Foto auch ein neues, passendes Lied einfällt. Wir überlegen, wann und wie die Musik einen Platz im Alltag finden kann, um jederzeit an die positiven Erlebnisse anknüpfen zu können. Zum Abschluss verabreden wir uns für ein kurzes Telefonat in der folgenden Woche. Eine telefonische Begleitung findet über den gesamten Zeitraum der gemeinsamen Musikaktivitäten statt.
Auch wenn ich zu Beginn meiner Tätigkeit nur eine annähernde Vorstellung dieses neuen musiktherapeutischen Arbeitsfeldes habe, merke ich schnell, wie mich diese wertvolle Arbeit begeistert. Kurz darauf beginne ich die Begleitung eines weiteren Paares. Zusammen gelingt es uns, den Alltag mit Musik zu bereichern und das Leben mit sowie das Erleben der Demenz so zu verändern, dass die Fokussierung auf das Positive im Mittelpunkt steht. Natürlich können die Symptome der Demenz dadurch nicht genommen werden, aber wir können den Blick darauf und den Umgang damit verändern.

Bedarf und Bedürfnisse
Zu diesem Zeitpunkt ist Corona noch ein entferntes Thema. Wie sehr jedoch die bevorstehende Pandemie die Arbeit in wenigen Wochen beeinflussen und zeitweise sogar unmöglich machen wird, ist noch nicht absehbar. Noch genieße ich die Termine und den Kontakt mit den Teilnehmer*innen – vor allem die sehr individuelle und kreative dyadische Arbeit. Ich bin überrascht und erfreut, wie schnell ich zu einer Vertrauten werde, die eine enge Begleiterin und Beraterin im Alltag mit Demenz ist. Ich bin aber auch überrascht und erschrocken darüber, wie wenig kontinuierliche Unterstützung die Demenzbetroffenen und ihre Angehörigen im häuslichen Umfeld erhalten und erfahren. Neben den unter Umständen notwendigen pflegerischen Tätigkeiten muss auch jede weitere Unterstützung aktiv und selbstständig organisiert werden.

Und plötzlich ist alles anders
Bald ist absehbar, dass auch in Deutschland einige Maßnahmen und Einschränkungen eingeführt werden, um die Ausbreitung des Corona-Virus einzuschränken. Ab Mitte März gelten strenge Kontaktbeschränkungen und selbstverständlich muss ganz besonders die vulnerable Teilnehmergruppe geschützt werden. Dadurch wird jedoch ganz abrupt ein Besuch im Zuhause der Teilnehmenden und somit die Grundlage der therapeutischen Arbeit sowie der Forschungsstudie unmöglich.

In der Talsohle….
Es war ganz plötzlich nur noch möglich, telefonisch mit Teilnehmer*innen oder Interessenten in Kontakt zu kommen. Alle persönlichen Direktkontakte müssen pausieren, Termine werden verschoben oder abgesagt. Aber wie kann weitergeplant werden? Wie lange würde diese Pause dauern? Meine Gedanken sind vor allem bei den vielen Angehörigen, die nun auf sich allein gestellt sind und, von vielen Unterstützungsangeboten isoliert, ihren Alltag zu organisieren haben. Kurz nachdem ich mich in die neue Arbeit eingefunden habe und erleben durfte, wie das durchgeführte musiktherapeutische Angebot ein Halt für die Angehörigen sowie eine Stärkung der Beziehung zwischen Demenzbetroffenen und ihren Angehörigen sein kann, wird also die weitere Durchführung scheinbar unmöglich. Es ist auch bald klar, dass aus der Pause ein vorläufiger Dauerzustand werden würde und wir zum Umdenken im Rahmen der Studiendurchführung gezwungen sind. Welche Möglichkeiten gibt es also noch?
Musiktherapie lebt vom Zusammensein und basiert auf dem gemeinsamen Musikerleben. Ganz besonders in der Arbeit mit Demenzbetroffenen, wenn Interaktionsmöglichkeiten erschwert und mehr oder weniger eingeschränkt sind, kann eine gewisse körperliche Nähe und Präsenz notwendig sein. Zwar kann die Musik Einschränkungen in der Kommunikation teilweise kompensieren oder ausgleichen, aber wie soll das funktionieren, wenn wir uns nicht gemeinsam in einem Raum aufhalten können? Sitze ich mit Infektionsschutz wie beispielsweise einer medizinischen Gesichtsmaske weit entfernt? Ist vielleicht eine Durchführung im Freien möglich?

…und ein Weg hinaus?!
Die Lösung des Problems und der mögliche Weg hinaus aus der Talsohle kommt dann genauso schnell wie unerwartet und ist mir bis dahin nie als Alternative bewusst – die Online-Durchführung der Studie. Die Realisierung der gemeinsamen Musiktermine per Videokonferenz bedeutet, dass die Teilnehmenden mit mir per Computer über ein Videokonferenzsystem in Kontakt kommen. Jeder sitzt in seinem Zuhause und wir sehen und hören uns über den Bildschirm. Meine erste Reaktion dazu – das ist unmöglich. Musiktherapie per Computer in der Arbeit mit Demenzbetroffenen und Angehörigen als Angebot im eigenen Zuhause – das geht nicht!
Videokonferenzen und Online-Meetings sind zu dem Zeitpunkt für mich selbst ein noch wenig bekanntes Medium. Würden sich die Menschen darauf einlassen? Wie kann die Umsetzung mit den Studienteilnehmer*innen realisiert werden? Wie kann ich über den Bildschirm mit ihnen in Interaktion kommen? Unzählbar viele Fragen kommen auf, die Zweifel sind enorm. Allerdings scheint es keine anderen Alternativen zu geben, um eine Fortsetzung der Studie zu ermöglichen. Mutig geht es an die Arbeit, die Idee in die Tat umzusetzen. Es ist einige Zeit der Umstellung und Anpassungen notwendig, bevor die Durchführung der Studie auf dem neuen Weg fortgesetzt werden kann. Ich selbst muss lernen, eigene Online-Konferenzräume zu erstellen und alle Funktionen des Programms zu kennen und auch sinnvoll nutzen zu können. Darüber hinaus beginne ich bald, die Teilnehmenden dabei zu unterstützen, mit mir online in Kontakt zu kommen.

Neue musiktherapeutische Wege und die Bedeutung für die eigene Arbeit
Zunächst sind viele Gespräche und Telefonate notwendig, um manchen Teilnehmer*innen die neue Verfahrensweise zu erklären und bei der Einrichtung so gut es eben geht, zu unterstützen. Wenn dann alles eingerichtet ist, versende ich eine E-Mail mit dem entsprechenden Link zu einem Meeting-Raum, den ich speziell für jedes Paar eröffne. So hat jedes teilnehmende Paar einen ganz „individuellen“ Treffpunkt mit mir, den nur wir gemeinsam nutzen. Wenn nötig, werden Kinder, Nachbarn oder Freunde um (technische) Hilfe gebeten. Der Wunsch der Menschen, das musiktherapeutische Angebot zu nutzen, ist groß. Es ist spürbar, dass die Zeit der Isolation durch die Kontaktbeschränkungen den Bedarf an Unterstützungsangeboten, die im häuslichen Umfeld stattfinden können, gesteigert hat.
Es ist schließlich ein wunderbarer Moment, wenn die virtuelle Verbindung online zustande kommt und wir uns zum ersten Mal sehen. Es ist den Teilnehmer*innen möglich, ein therapeutisches Angebot wahrzunehmen, ohne dabei beschwerliche Wege auf sich nehmen zu müssen. Außerdem erfüllt es auch mit Stolz, den Mut gefasst und die Hürde der Online–Durchführung genommen zu haben, das ist bis auf die andere Seite des Bildschirms spürbar.
Ich selbst taste mich langsam an die Möglichkeiten der Musiktherapie im Online-Format heran. Ich kann die Sitzungen gut vorbereiten, indem ich musikalische Vorlieben erfrage und bereits Musik recherchiere. Ich kann den Bildschirm teilen, sodass wir ein Lied gemeinsam hören, manchmal auch Bilder oder Videos dazu sehen, um so die Interaktion anzuregen.

Veränderungen…
Immer mehr Paare entscheiden sich für eine Studienteilnahme und werden in den online stattfinden Musikinterventionen begleitet sowie zu gemeinsamen Musikaktivitäten angeregt. Dabei sollen insbesondere die gemeinsamen virtuellen Termine, aber auch die Nutzung und Integration der Musikaktivitäten in den Alltag nicht als Belastung, sondern als Bereicherung erlebt werden. Dies macht einen engen, vertrauensvollen Kontakt zum Paar sowie das sensible Anleiten der pflegenden Angehörigen unentbehrlich.
Von mir als Therapeutin wird gefordert, dass ich mit großer Aufmerksamkeit genau beobachte, was auf der anderen Seite des Bildschirms passiert, um jede Reaktion erkennen und aufgreifen zu können. Dabei sehe ich meist nur einen Ausschnitt meiner Gegenüber und muss das Fehlen der Leibhaftigkeit kompensieren. Das Wippen mit dem Fuß kann mir so verborgen bleiben. Teile ich Musik über den Computer, kann ich nur sehen, dass meine Gegenüber miteinander sprechen, aber nicht hören, was sie sprechen. Außerdem muss ich mehr als im persönlichen Gespräch die Reaktionen meiner Gesprächspartner abwarten, da die Gefahr, sich gegenseitig ins Wort zu fallen, aufgrund der akustischen Verzögerung groß ist.

…für mich als Therapeutin
Für mich als Therapeutin bedeutet die Veränderung, dass ich wie gebannt und sehr nah vor dem Bildschirm sitze, um gut erkennbar und sichtbar zu sein und außerdem keine Regung oder Reaktion auf der anderen Seite zu verpassen. Ich lerne im Laufe der Zeit spielerisch damit umzugehen, in dem ich beispielsweise Aktivitäten oder Situationen unterstelle, die ich gar nicht sehen kann: „Sehe ich da Ihren Fuß unter dem Tische mitwippen?“ Wir lachen und mir ist es in diesem Moment gelungen, den Fokus auf mögliche Reaktionen zur Musik zu lenken. In anderen Situationen muss ich spontan entscheiden, ob ich die Inhalte des mir verborgenen Gesprächs während des Musikhörens erfrage oder als persönlichen Moment stehen lasse. Ich muss die Situation durch den Bildschirm erspüren und meiner therapeutischen Intuition vertrauen, um angemessen darauf reagieren und eine angenehme Atmosphäre schaffen zu können.

…für die musikalischen Aktivitäten
Das virtuelle Beisammensein hat aber auch direkten Einfluss auf das Durchführen und Anregen der musikalischen Aktivitäten. Aufgrund der akustischen Verzögerung ist gemeinsames Singen oder Musizieren nicht möglich. Ich kann ein Lied nur anstimmen, beginnt das Paar mitzusingen, kommt dies zeitverzögert bei mir an und ich muss entweder meinen Ton ausstellen oder nur noch die Lippen bewegen. Ich kann eine Bewegung zur Musik nicht aufgreifen, indem ich mich einhake und wir gemeinsam schunkeln. Ich kann dies zwar vormachen, muss aber ganz gezielt ansprechen: „Haken Sie sich doch ein und schunkeln gemeinsam.“ Um die gemeinsamen Sitzungen musikalisch zu gestalten, ist ein abwartendes sowie aufmerksames Vorgehen notwendig, bei dem viele Aktivitäten anstatt beiläufig aufgegriffen, direkt angesprochen werden müssen.

Es geht aber doch!
Trotz all der Einschränkungen gelingt es allen Beteiligten fast immer, sich auf die veränderte Situation einzulassen. Ich erlebe viele unbeschwerte Stunden mit den unterschiedlichsten gemeinsamen Musikaktivitäten. Es werden Tische beiseite geschoben und es wird getanzt. Es wird gesungen, dazu geklatscht oder über Lieder und Erinnerungen gesprochen. Alte Instrumente werden ausgepackt und manchmal auch wieder regelmäßig geübt. In den Terminen herrscht oft eine leichte, entspannte oder sogar fröhliche Stimmung. Häufig sind wir erstaunt, wie schnell die Zeit vergeht in den gemeinsamen Terminen. Besonders beeindruckt mich dabei, mit welcher Kreativität die Teilnehmenden die Musik in ihren Alltag integrieren und weiterentwickeln. Ist zu Beginn der gemeinsamen Arbeit Singen eine noch ausgeschlossene Aktivität, werden plötzlich beim Spaziergang Wanderlieder angestimmt.
Die Online-Durchführung des musiktherapeutischen Angebotes fordert von mir als Therapeutin im Gegensatz zum Präsenztermin eine besondere Aufmerksamkeit, dies ist aber möglich und kann ganz besonders in Zeiten sozialer Isolation und Einschränkungen eine deutliche Stütze für die Betroffenen werden. Viele der zu Beginn des Textes benannten positiven Aspekte und Erfahrungen der im häuslichen Umfeld durchgeführten Musiktherapie, kann ich ebenfalls in den virtuellen Terminen wiedererkennen. Nach zunächst notwendig gewordener Pause gelingt es nun wieder, den Alltag der Teilnehmenden mit Musik zu bereichern und als unterstützenden Bestandteil zu integrieren.

Resümee
Ist das Beschriebene nun tatsächlich ein Weg hinaus aus der Talsohle oder eher eine Möglichkeit, die Talsohle angenehm zu gestalten? Ein unbeschwerter Umgang miteinander und die Durchführung der musiktherapeutischen Intervention als häusliches Angebot wie ursprünglich geplant und begonnen, ist aktuell noch nicht wieder möglich. Die dargestellte Lösung entwickelte sich für die Teilnehmenden jedoch zu einer wichtigen Stütze in Zeiten sozialer Isolation. Aber ist dies eine echte Alternative zur Durchführung vor Ort? Aktuell kann die Durchführung der Musikintervention noch nicht wieder in Präsenz stattfinden, sodass ein direkter Vergleich der beiden Varianten und eine Aussage über den vielversprechenderen Weg nicht getroffen werden kann.
Grundsätzlich bleibt zu bedenken, dass eine virtuelle Durchführung und Teilnahme am musiktherapeutischen Angebot aufgrund technischer Ausstattung und Kenntnisse nicht für alle Interessierten oder potentiellen Empfänger möglich ist. Demgegenüber werden durch die Umstellung jedoch auch Teilnehmende angesprochen, die einer Präsenzdurchführung in ihrem häuslichen Umfeld nicht zugestimmt hätten. Für mich könnte ein wirklicher Gewinn des Überwindens der Talsohle dadurch entstehen, dass es gelingt, beide dargestellten Varianten als therapeutisches Angebot zu etablieren und möglichst vielen Betroffenen im häuslichen Umfeld zugänglich zu machen.

Teil 2: Laura Blauth
Können wir ein musiktherapeutisches Forschungsprojekt in Zeiten von Corona sinnvoll durchführen? Die Perspektive einer klinischen Studienleiterin
Im Mai 2019 habe ich meine Stelle als Clinical Trial Manager für die internationale Forschungsstudie HOMESIDE am Standort Deutschland begonnen. In den ersten Monaten waren wir damit beschäftigt, den Ethikantrag zu stellen, neue Mitarbeiter*innen zu schulen, Unterlagen und Dokumente ins Deutsche zu übersetzen, Lizenzen für Fragebögen zu beantragen und die praktische Durchführung der Interventionen und Untersuchungen vorzubereiten. In meinen Aufgabenbereich als klinische Studienleiterin fielen außerdem die Rekrutierung der Teilnehmer*innen, das Führen von Erst- und Aufnahmegespräche, die Begleitung unserer Teilnehmerpaare durch die verschiedenen Phasen in der Studie und die Kommunikation mit den lokalen und internationalen Teammitgliedern. Alle diese Bereiche wurden auf verschiedene Art von der Corona-Pandemie berührt. Teilweise erlebten wir die notwendigen Veränderungen im Frühjahr 2020 tatsächlich als Fall in eine ziemlich tiefe Talsohle. Im Nachhinein betrachtet hat uns diese Talsohle aber auch neue Perspektiven aufgezeigt und uns ungeplante, aber durchaus lohnenswerte Wege gehen lassen.

Rekrutierung von Teilnehmer*innen
In jedem der fünf teilnehmenden Länder, sollten 99 Teilnehmerpaare in die Studie aufgenommen werden. Die Aufgabe, 99 Paare im Raum Würzburg für die Studie zu gewinnen, erschien mir zu Beginn als die größte Herausforderung in meinem Aufgabenbereich. Da wir Menschen ansprechen wollten, die mit einer Demenz in ihrem Zuhause von pflegenden Angehörigen betreut werden, konnten wir nicht auf Einrichtungen wie Pflegeheime zurückgreifen, wo wir viele Menschen an einem Ort getroffen hätten. Unsere Zielgruppe war weit verstreut und nicht unbedingt miteinander vernetzt. Um sie dennoch zu erreichen, gingen wir zu möglichst vielen Veranstaltungen, wie z.B. Demenzkonzerten, Singnachmittagen, Tanzcafés, Seniorenführungen im Museum, Angehörigenkurse und Informationsveranstaltungen und berichteten dort von der Studie. Unsere Flyer und Poster haben wir auch in Arztpraxen und Apotheken verteilt. Diese Vorgehensweise war sehr zeitintensiv und zeigte nur spärliche Erfolge. Auch über eine Internetseite und die lokale Presse haben wir versucht, auf die Forschungsstudie aufmerksam zu machen. Erste Interessierte meldeten sich im Herbst 2019 und brachten dann auch über Mund-zu-Mund-Werbung weitere potentielle Teilnehmer*innen in Kontakt mit uns.
Als besonders wichtig erwies sich in dieser ersten Phase die Zusammenarbeit mit regionalen Partnern, die als Multiplikatoren wirken konnten. Darunter fielen z.B. der Trägerverein HALMA e.V. (Hilfen für alte Menschen im Alltag), der als Beratungs-, Unterstützungs- und Vernetzungsstelle im Landkreis Würzburg aktiv ist. Ebenfalls von großer Bedeutung war die Kooperation mit der neurogerontopsychiatrischen Tagesklinik, in der ich seit Herbst 2019 wöchentliche Musiktherapiesitzungen angeboten habe. Meine regelmäßige Anwesenheit und die Unterstützung durch eine sehr engagierte Mitarbeiterin ermöglichte es uns, viele Menschen anzusprechen
und Vertrauen aufzubauen. Diese Kooperation im Zusammenhang mit den anderen weiter verfolgten Maßnahmen führte dazu, dass wir ab Januar 2020 ungefähr ein Paar pro Woche in die Studie aufnehmen konnten. Dieser Schnitt hätte es uns ermöglicht, 99 Paare in unserem vorgegebenen Zeitplan zu gewinnen. Der Kontakt mit den interessierten Paaren war aufregend und sehr ermutigend. Wir bekamen schnell den Eindruck, dass unser Angebot eine wichtige Unterstützung für Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen ist. Unser Team war zu dem Zeitpunkt vollständig eingearbeitet und hoch motiviert, mit den Menschen in der Studie zu arbeiten. Gerade also als unsere Rekrutierungsstrategien Erfolge zeigten, uns kontinuierlich neue Interessenten brachten und wir begeisterte Rückmeldungen zu den ersten Interventionen erhielten, kam Corona nach Deutschland und zwang uns, alles innerhalb kürzester Zeit zu stoppen. Es fühlte sich an, als wären wir mitten in schneller Fahrt ausgebremst worden, gerade nachdem wir mit viel Energieaufwand beschleunigt hatten. Um im Bild der Talsohle zu sprechen: Der Weg nach unten war ziemlich steil und brachte uns ordentlich ins Straucheln. Der Weg nach oben, hinaus aus der Talsohle, war anfangs nirgendwo in Sicht, das Ende der Pandemie nicht absehbar.
Für unser Team und auch für mich war es ein schwieriger Prozess, die veränderte Situation zu akzeptieren und uns auf ganz andere Denkweisen einzulassen. Dabei haben uns vor allem die Kolleg*innen aus dem internationalen Team geholfen, die aufgrund anderer kultureller oder soziodemografischer Prägung in ihrem Land aufgeschlossener gegenüber digitalen Formaten waren. Irgendwann war klar, dass wir die Studie auf unbestimmte Zeit aussetzen bzw. sogar abbrechen müssen, wenn wir nicht versuchen, sie auf ein Online-Format umzustellen. Als wir diese Tatsache angenommen hatten, eröffneten sich schnell neue Möglichkeiten und wir erkannten die große Chance, die eine komplette Umstellung der Studie mit sich bringen würde. Wir konnten nun Teilnehmende aus ganz Deutschland rekrutieren, womit uns viele neue Optionen zur Verfügung standen. Wir nahmen Kontakt zu Alzheimer Gesellschaften und Vereinen in allen Bundesländern auf und fanden z. B. mit dem Kompetenzzentrum Demenz in Schleswig-Holstein oder dem Online-Hilfeportal Pflege durch Angehörige sehr gute Unterstützung. Besonders wichtig war die Kooperation mit dem globalen Studienportal ClinLife, das potenzielle Studienteilnehmer*innen und Studienzentren miteinander in Verbindung bringt. Über ClinLife sind 60 Interessent*innen auf uns aufmerksam geworden, von denen wir 21 Paare in die Studie aufnehmen konnten. Webinare, Beiträge in Podcasts und Präsenz in den sozialen Medien führten immer wieder zu Anfragen von Demenzbetroffenen und ihren Angehörigen. Den größten Erfolg zeigte allerdings eine Veröffentlichung im kostenfrei verfügbaren, überregionalen Drogeriemagazin alverde. Aufgrund des Artikels meldeten sich 65 Menschen bei uns, von denen 38 Paare alle Einschlusskriterien erfüllten und in die Studie aufgenommen werden konnten. Auch andere Veröffentlichungen in überregionalen Printmedien zeigten Wirkung, so dass insgesamt 46 teilnehmende Paare über Printmedien erreicht wurden. Motivierend für uns war, dass uns die überregionalen Kooperationspartner mit so positiver Resonanz zum Projekt begegneten. Es hat uns Mut gemacht und in unseren Bemühungen bestärkt, dass so viele Menschen von der Idee der Studie begeistert waren.
Die Pandemie hat uns bei der Rekrutierung zum Umdenken gezwungen. Zuerst haben wir Zeit verloren, um gerade gut etablierte Maßnahmen loszulassen und komplett neu zu planen. Dann allerdings konnten wir von der veränderten Situation sogar profitieren und unsere Anstrengungen auf weniger Maßnahmen mit größerer Reichweite konzentrieren. Mit den neuen Strategien konnte die ursprünglich angestrebte Teilnehmerzahl von 99 Paaren nicht nur erreicht, sondern übertroffen werden. Als Team haben wir gemeinsam beschlossen, die Aufnahme von neuen Teilnehmenden trotz weiterer Interessenbekundungen zu stoppen, da unsere personellen und finanziellen Grenzen erreicht waren.

Erstgespräche und Aufnahme von Teilnehmer*innen in die Studie
Als klinische Studienleiterin führte ich die ersten Gespräche mit potentiellen Teilnehmer*innen am Telefon, klärte sie dort über die Studie auf, erfragte die Einschlusskriterien und besprach alle aufkommenden Fragen. Im Frühjahr und Sommer 2020 gab es aufgrund der fehlenden Interessent*innen wenig bis keine Screenings. Als die neuen, überregionalen Maßnahmen Erfolge zeigten, nahm der Anteil dieser Aufnahmegespräche dagegen sprunghaft zu und überforderte zeitweise unsere Kapazitäten, so dass lange Wartelisten entstanden. Die Themen und der Ablauf der Erstgespräche dagegen blieben vor und während der Pandemie weitestgehend gleich. Durch die komplette Umstellung auf ein Online-Angebot in unserer Studie kamen allerdings Fragen und Problemgespräche zu technischen Herausforderungen und Equipment hinzu. Den allermeisten Teilnehmenden konnten wir aber aufkommende Sorgen nehmen und gemeinsam gute Lösungen finden. Der Wille der Menschen, sich in die neue Technik einzuarbeiten, um das Angebot nutzen zu können, war inspirierend. Von unseren Interessent*innen konnten nur 4 potentielle Teilnehmerpaare wegen fehlender technischer Voraussetzungen (z.B. kein Internetanschluss) nicht in die Studie aufgenommen werden.
Da wir in allen Artikeln, Beiträgen und auf allen Werbematerialien schon auf das Online-Format der Studie hingewiesen haben, ist davon auszugehen, dass die Gruppe der Interessent*innen insgesamt technikaffiner oder zumindest offener gegenüber digitalen Medien war, als der Durchschnitt der teilnahmeberechtigten Paare in Deutschland. Die Demenzbetroffenen und ihre Angehörigen, die Schwierigkeiten mit Computern oder keinen Zugang zum Internet haben, wurden sehr wahrscheinlich direkt von einer Teilnahme abgeschreckt und haben sich gar nicht erst bei uns gemeldet. Auch die gewählten Rekrutierungsmaßnahmen sprachen nach der Umstellung ein eher jüngeres und digital versiertes Publikum an. So ist beispielsweise die Zielgruppe des alverde-Magazins laut einer Mitarbeiterin 30 bis 60 Jahre alt und das Portal ClinLife kommuniziert mit
potentiellen Studienteilnehmer*innen vorrangig über soziale Medien und die eigene Internetseite. Über die Hälfte der Angehörigen, die in Deutschland in die Studie aufgenommenen wurden, waren Kinder, Schwiegerkinder oder Enkelkinder von Demenzbetroffenen. Ihre Altersspanne betrug 33–89 Jahre mit einem Mittelwert von 62 Jahren. Auch die in der Studie teilnehmenden Menschen mit Demenz waren mit einer
Altersspanne von 48–94 und einem Mittelwert von 78 Jahren häufig verhältnismäßig jung.
Wenn es also um die Erstgespräche und die Aufnahme neuer Teilnehmer*innen in die Studie geht, passt das Bild der Talsohle und das Wiederherauskommen aus ihr nicht wirklich. Die Corona-Pandemie hat uns hier die Studiendurchführung nicht erschwert und uns keine grundlegenden Umstellungen abverlangt. Sie hat aber dazu geführt, dass eine bestimmte Untergruppe von teilnahmeberechtigten Paaren überrepräsentiert war (jung, gut ausgebildet, technikaffin) und andere potentielle Teilnehmer*innen aufgrund der veränderten Bedingungen
ausgeschlossen wurden.

Begleitung der Teilnehmer*innen durch die Studie
In die Studie aufgenommene Paare wurden in eine von drei Gruppen randomisiert: die Musikintervention, die Leseintervention oder die Kontrollgruppe. Abhängig von ihrer Gruppenzuteilung, durchliefen sie dann verschiedene Angebote mit individuell vereinbarten Telefon- und Zoom-Terminen und Anregungen für die eigenständige Umsetzung von Musik- oder Leseaktivitäten im häuslichen Alltag. Als klinische Studienleiterin war ich dafür verantwortlich, den Paaren ihre Gruppenzulosung mitzuteilen und alle weiteren Schritte zu erläutern. Innerhalb unseres Teams habe ich koordiniert, welche*r Psycholog*in und gegebenenfalls welche Lese- oder Musikinterventionistin mit welchem Paar arbeitet und den Kontakt hergestellt. Auch wenn jedes Paar also mit mindestens einem weiteren Teammitglied in Verbindung kam, blieb ich die bereits vertraute Ansprechpartnerin, um eventuelle Rückfragen oder Probleme zu besprechen und um Termine im Rahmen der Studie zu vereinbaren. Diese kontinuierliche Begleitung der Paare über ihren Teilnahmezeitraum von sechs Monaten hinweg, bekam zu Corona-Zeiten eine vielleicht noch größere Wichtigkeit. Zwar konnten sich die Beziehungen der Teilnehmer*innen zu den Interventionistinnen und Psycholog*innen trotz Online-Format meist gut entwickeln, dennoch ist dies nicht mit der Dynamik und Präsenz eines Vor-Ort-Termins vergleichbar. So schien der regelmäßige Kontakt der klinischen Studienleiterin zu den Paaren eine besonders wichtige Konstante zu sein.
Vor allem aber schien diese Konstante oft wie ein Rettungsanker in der sich ansonsten rasant verändernden Außenwelt und den reduzierten oder ganz weggefallenen sozialen Kontakten unserer Teilnehmer*innen. Die Talsohle, in der sie sich aufgrund der Corona-Pandemie befanden, war natürlich weitaus existentieller und prägender als die, aus der wir uns als Studienteam herausarbeiten mussten. Für einige Teilnehmenden waren wir über Monate hinweg die einzigen regelmäßigen Ansprechpartner, die sich nicht ausschließlich um die Medikation und Pflege kümmerten, sondern die sich Zeit nehmen konnten, zuhörten und nachfragten, Verständnis zeigten und teilweise auch das Weinen und die Verzweiflung der Betroffenen aushielten. Bei Bedarf konnte ich Hilfestellungen geben oder an weitere Unterstützungsangebote und Einrichtungen verweisen. Die
große Rolle, die ich als konstante Kontaktperson für einige Teilnehmer*innen bekam, wurde nicht nur durch die Gesprächsinhalte, sondern auch durch die Gesprächsdauer deutlich, die häufig die im Protokoll vorgesehene Zeit deutlich überschritt. Darüber hinaus schrieben viele Paare zusätzliche E-Mails und meldeten sich auch nach ihrer Studienteilnahme, um von den neuesten Entwicklungen zu erzählen oder um konkrete Fragen zu besprechen.
Es ist schwierig zu sagen, wie intensiv der Kontakt gewesen wäre, wenn es keine Pandemie, keinen Lockdown und keine Kontaktbeschränkungen gegeben hätte. Ich bin aber wahnsinnig dankbar, dass wir unseren Teilnehmer*innen gerade in dieser schwierigen Zeit ein sinnvolles Angebot machen konnten, dass die Forschungsstudie menschliche (und infektionstechnisch gesehen ungefährliche) Nähe ermöglichte und damit Unterstützung zu den Menschen brachte, die besonders von Einsamkeit und sozialer Isolation bedroht waren.

Kommunikation im deutschen und internationalen Team
Als klinische Studienleiterin war ich auch darum bemüht, mit allen Kolleg*innen im engen Austausch zu stehen. Als die Pandemie uns zum radikalen Umdenken zwang, war es besonders wichtig, sie möglichst gut durch die neuen Herausforderungen zu begleiten. Viele Mitarbeitende im deutschen Team der HOMESIDE-Studie waren verunsichert und demotiviert, als wir kurz nach dem Start ausgebremst wurden. Beim Gedanken, die Untersuchungen und Interventionen online durchzuführen, überkamen uns nicht nur Zweifel, sondern auch viele Ängste. Kann ich das überhaupt? Wie soll ich den Teilnehmenden ein gutes Online-Angebot machen können, wenn ich vielleicht selbst noch nie ein Online-Meeting geleitet habe? Hier waren viele Gespräche nötig, um Möglichkeiten aufzuzeigen und Mut zu machen. Auch haben wir sehr viel Energie darin investiert, die Mitarbeiter*innen in die veränderten Interventionsbedingungen einzuarbeiten und Unterstützung bereitzustellen. Nichtsdestotrotz hat sich eine Kollegin gegen eine weitere Mitarbeit bei einer Online-Durchführung entschieden und wir haben einige Zeit gebraucht, um eine neue Interventionistin zu finden und mit der Studie vertraut zu machen.
Wie in allen internationalen Projekten standen wir auch auf einmal vor der Herausforderung, alle geplanten Treffen im internationalen Team nun online statt live vor Ort abzuhalten. Wir waren allerdings in der glücklichen Situation, dass unser Kick-off-Meeting im Dezember 2019 noch gemeinsam in Cambridge, Großbritannien, stattfinden konnte und sich dadurch der so wichtige Team-Spirit, das Wir-Gefühl, einstellen konnte. Die danach halbjährlich geplanten Konsortiumstreffen abwechselnd in allen fünf teilnehmenden Partnerhochschulen wurden zu gemeinsamen Zoom-Meetings umgewandelt. Dadurch konnten nicht nur Reisekosten, sondern auch Zeit und Ressourcen gespart werden. Vom Umweltgedanken her war diese Umstellung ein großes Glück. Auch konnten an den Treffen nun Team Mitglieder*innen teilnehmen, für die sonst kein Reisekostenbudget vorgesehen war. Allerdings vermissten wir alle den ungezwungenen und meist so gewinnbringenden Austausch zwischen den eigentlichen Sitzungspunkten, die Gespräche in den Kaffeepausen und an den Abenden, die für kreative Ideen, Vernetzung und Kooperation so entscheidend sind. Auch der intensive kulturelle Austausch und damit das tiefere Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen der Projektumsetzung in den Partnerländern fehlte. Insgesamt hat die Umstellung hier den Blick darauf gelenkt, welche Reisen in internationalen Forschungsprojekten auch in Zukunft vermeidbar und welche nötig sind. Wie auch bei Tagungen und Konferenzen, werden sich Hybridformate wohl auch in internationalen Forschungskooperationen weiter durchsetzen.
Insgesamt habe ich als klinische Studienleiterin den Eindruck, dass wir unseren Weg aus der Talsohle gefunden haben. Nun stehen wir an einem Punkt, von dem wir den Weg der letzten Jahre im Projekt gut überblicken können. Er hat mehrere Umwege und unerwartete Abzweigungen bereitgehalten und uns durch eine Talsohle geführt, die wir vorher auf keinem Plan gesehen hatten. Auch kamen wir an einem anderen Punkt und zu einer anderen Zeit heraus, als ursprünglich gedacht. Nichtsdestotrotz scheinen uns der Weg und das (Teil-)Ziel, an dem wir jetzt stehen, nicht weniger erstrebenswert.

Teil 3: Thomas Wosch
Herausforderungen und Lösungen eines Forschungsprojekts und seiner Administration in Zeiten der COVID-19-Pandemie
Der Bereich der Forschung mit öffentlichen Drittmitteln ist eine Wissenschaft für sich. Umfangreich sind die Vorbereitungen der Beantragung dieser Mittel. Die Erfolgsrate dieser Anträge liegt bei 5 bis 20%. Für die Musiktherapie spielt dieser Bereich der Forschung jedoch eine große Rolle. Zum Beispiel muss die vollständige Prüfung einer musiktherapeutischen Intervention nach den Kriterien des Gesundheitswesens durchgeführt werden (siehe Kasten 1), was einen mehrfachen Millionenbetrag benötigt. Als Kleines Fach kann das in den musiktherapeutischen Instituten der deutschen Universitäten und Hochschulen nicht mit hausinternen Mitteln geleistet werden. Hier sind die sogenannten Drittmittel der Schlüssel für die Umsetzung der Prüfung einer musiktherapeutischen Intervention.

 


 

Kasten 1: Prüfung einer musiktherapeutischen Intervention nach den Kriterien des Gesundheitswesens
Studien zur Prüfung der Wirkung von pharmakologischen und nicht-pharmakologischen Interventionen im Gesundheitswesen werden als Randomisiert Kontrollierte Studien (RCT, randomized controlled trial) durchgeführt. Dazu wird zuerst die notwendige Mindestteilnehmerzahl (sample size) auf der Grundlage der Teststärke (test power) berechnet. Diese Berechnung bezieht bereits vorliegende kleinere Studien mit der zu erwartenden Effektstärke (effect size), die Anzahl der Vergleichsbedingungen, die Anzahl der Messzeitpunkte und die zu erwartende Abbruchquote ein. Eine Vergleichsbedingung ist immer die Durchführung ohne die Intervention, um den Unterschied prüfen zu können, der mit der Intervention geleistet wird. Weitere Vergleichsbedingung kann eine andere Intervention sein. Wenn die repräsentative Mindestteilnehmerzahl
berechnet wurde, dann werden Teilnehmer*innen in der Höhe dieser Teilnehmerzahl aufgenommen und zu gleichen Teilen zufällig auf die Interventionsbedingung und ihre Vergleichsbedingung oder Vergleichsbedingungen verteilt. Damit kann zuverlässig ermittelt werden, ob die so geprüfte Intervention eine Wirkung hat oder nicht und wenn ja, in welcher Stärke im Vergleich zu den Vergleichsbedingungen dieser Prüfung.

Erfolgreich ist innerhalb der 5 bis 20% der Antragsteller*innen, wer sehr detailliert sein Vorhaben beschreiben kann. Das bedeutet unter anderem, dass die notwendigen Arbeitsschritte dieser Drei- bis Fünf-Jahresprojekte bereits im Antrag minutengenau beschrieben werden, inklusive der Phasen des Projekts, die jeweils mit einem sogenannten Meilenstein enden. Das bedeutet auch, dass die zu prüfenden Interventionen in ihrer Durchführung bereits im Antrag ebenso detailliert beschrieben werden, auch hinsichtlich ihres ganz genauen Stundenumfangs und Materialaufwands. Eine solche detaillierte Beschreibung benötigt in der Regel ein Jahr und ein Team von 15 Forschern.
Der Mittelabruf genehmigter Forschungsprojekte erfolgt jahresweise mit einem Jahresbericht. Völlig problemlos werden die genehmigten Mittel zugewiesen, wenn die detailliert beschriebenen Arbeitsschritte, Meilensteine, der Stunden- und Materialumfang der Interventionen dem Antrag genau entsprechen.
Was passiert aber, wenn eine Pandemie kommt und sowohl die Arbeitsschritte als auch die Intervention nicht so durchgeführt werden können, wie im Antrag geplant und genehmigt? Das ist im Endeffekt der Super Gau für hochbürokratische Verwaltungsprozesse (siehe Kasten 2). Zum Glück wurde vom öffentlichen Geldgeber die Sondersituation erkannt und pandemiebedingte Änderungsanträge generell unterstützt. Es wurde dazu umgehend eine entsprechende Verordnung erlassen.


 

Kasten 2: Administrative und finanzielle Herausforderungen bei Umstellungen im Projekt
Die Finanzierung unseres Drittmittelprojekts wurde über jährliche Mittelanforderungen umgesetzt. Mit dem genehmigten Antrag sind dazu Jahressummen ausgewiesen worden, die sich aus allen Arbeits- und Dienstleistungsverträgen, Reise- und Materialkosten für die Erfüllung der Aufgaben eines Jahres ergeben. Gegen Ende jeden Jahres sind alle diese entstandenen Kosten mit einer Mittelanforderung und ihrer genauen Zuordnung zu den genehmigten Verträgen und Kosten sowie zu den damit erreichten Zielen des genehmigten Arbeitsplans des Projekts einzureichen. Ein Beispiel dazu ist, dass das Manual für die Musik-Intervention unseres Projekts von einer Mitarbeiterin im genehmigten Arbeitsplan des Projekts von Monat 1 bis Monat 6 der Projektlaufzeit mit 50% ihrer Vollzeitstelle zusammen mit den vier internationalen Partnern erstellt wurde. Dazu gehörte auch, dass die Mitarbeiterin seine Machbarkeit prüft und damit das Manual verbessert sowie zusammen mit den vier internationalen Partnern die englischsprachige Endversion des Manuals zur Durchführung der Musikintervention in allen fünf Ländern erstellt. Weiterhin wird zum Erlernen des Manuals für die Musiktherapeut*innen im Projekt von dieser Mitarbeiterin ein Trainingsvideo und Tests (quizzies) für die Prüfung der erworbenen Kompetenzen erstellt. Diese müssen darüber hinaus mit allen eingesetzten Therapeut*innen des Projekts organisiert, durchgeführt und ausgewertet werden. Für die notwendige Qualifikation dieser Mitarbeiter*innen-Stelle im Projekt wurde eine Post-Doc-Musiktherapeut*in mit entsprechender TVÖD-Eingruppierung beantragt und genehmigt. Wenn alle zuvor genannten Ziele des Arbeitsplans bis Monat 6 des Projekts nachgewiesen und erreicht wurden, konnte die Mittelanforderung in der Höhe einer halben Stelle (50%) der genehmigten TVÖD-Eingruppierung eingereicht werden und wurde überwiesen. So detailliert sind alle Kosten des Projekts zu belegen und anzufordern. Wenn jedoch das Manual und die Qualifikation der Musiktherapeut*innen mit Trainingsvideo und erfolgreichem Test im ersten halben Jahr des Projekts fertiggestellt und abgeschlossen wurden und ab Monat 11 der Projektlaufzeit die COVID-19-Pandemie eine Durchführung im häuslichen Umfeld unmöglich macht, muss die konkrete Durchführung der Musikintervention nach dem Manual überarbeitet werden und müssen alle oben genannten Schritte noch einmal gegangen werden. Dafür gibt es aber im genehmigten Antrag keine eingeplante Zeit, keine Stellen und kein Geld. Somit müssen Änderungen entwickelt, beantragt und genehmigt werden. Die größte Herausforderung dabei ist,
dass das Budget des Projekts nicht überschritten werden darf. Das bedeutet, dass andere Arbeitsschritte gestrichen werden müssen. Das muss aber gewährleisten, dass trotzdem die Hauptziele des Projekts erreicht werden.


Dann ging es los. Im Gesamtkonsortium, bestehend aus fünf Ländern, wurde eine pandemiekonforme Anpassung der Intervention diskutiert und gemeinsam entwickelt. Diese Modifikation, für die Interventionen und Messungen Videokonferenzsysteme einzubeziehen, kann im entsprechenden weiteren Schwerpunktartikel ausführlicher nachgelesen werden. Mit dieser Umstellung konnte trotz der Pandemie ein Plan zur Prüfung dieser modifizierten musiktherapeutischen Intervention entwickelt werden. Diese Änderung hatte auch Auswirkungen auf die Gewinnung von betroffenen Teilnehmer*innen, auf das Training der die Intervention durchführenden Therapeut*innen, auf den Ethikantrag zur Durchführung der Studie, auf neue einzusetzende Videokonferenz-Software und die dafür notwendigen Datenschutzgenehmigungen. Mit allen diesen Änderungen entstanden neue Zeitschienen und Meilensteine, die, wie oben beschrieben, beim Geldgeber einzureichen waren und von
diesem zu genehmigen waren.

Dazu drei kurze Momentaufnahmen
Das besondere magische Moment bestand im Leisten des Unmöglichen. Alle pandemiebedingten Änderungen hatten eine hohe Wahrscheinlichkeit der Genehmigung. Die einzige Bedingung war eine kostenneutrale Änderung. Das scheint auf den ersten Blick unmöglich, da mit dem eben Beschriebenen weitere Arbeitsschritte einhergehen, die folgerichtig mehr Geld benötigen und nicht mit der gleichen Summe mehr Arbeit geleistet werden kann. Die einzige Lösung bietet hier das Streichen von Arbeitsschritten. Drei Arbeitspakete wurden in der Tat nicht als separate Leistung benötigt. Konkret wurden von einer Mitarbeiterin auch die Aufgaben zum Ethikantrag, zu den englischen Manualen, Publikationen und eines Fragebogens erfüllt, wofür im Antrag weitere Arbeitskräfte eingeplant waren. Ebenso lagen im Rahmen des HOMESIDE- Projekts die notwendigen Daten zur Demenz vor, sodass keine weiteren Messungen erhoben werden mussten. Damit konnten die Gelder „umgewidmet“ werden und die zuvor genannte Mehrarbeit sichern.
Das besondere ökonomische Moment bot mein Professorenkollege der Gesundheitsökonomie in unserer Studie.
Seine Kernaufgabe ist die Messung und Analyse der Kosteneffektivität der musiktherapeutischen Intervention.
Mit seinen Kompetenzen im Management und der Betriebswirtschaft konnte er jedoch auch wichtige Kernaufgaben der Projektverwaltung professionell leisten. Dazu gehörte die doppelte tabellarische Planung und Prüfung aller Einnahmen und Ausgaben des Projekts in einer unter seiner Leitung erstellten Tabelle, da die vorhandenen Dokumentationssysteme die kompletten Ausgaben nur unvollständig darstellen oder Ausgaben z. T. erst nach drei Monaten sichtbar machten, zum Beispiel bei Personalgeldern. Dazu gehörte ebenfalls die Vertragsgestaltung mit Dienstleistern für die Rekrutierung von Teilnehmer*innen für die Untersuchung als auch für den Datenschutz notwendiger Software für die Projektverwaltung. Die Kompetenz der Betriebswirtschaft insbesondere in Management und Ökonomie ist ein Segen und aus meiner Sicht unabdingbar für die erfolgreiche Durchführung von Anpassungen und Änderungen solcher Forschungsprojekte.
Das besondere leidenschaftliche Moment bot das gesamte Projektteam. Alle Veränderungen bedeuteten einen enormen Mehraufwand an Zeit und Energie, bedeuteten das sofortige Betreten von Neuland und viel Geduld bis zum Erreichen der Wirkung aller Anpassungen für die Durchführung der Untersuchung unter der Pandemie. Passion, Begeisterung und hohe innere Motivation für das Ziel der Untersuchung führten in allen Teilen des Projekts zu erfolgreichen Lösungen. Diese Erfolge wurden in ersten kleinen Schritten neun Monate nach Ausbruch der Pandemie sichtbar und im entscheidenden zweiten Schritt weitere fünf Monate später, der zur erfolgreichen Rekrutierung der notwendigen Teilnehmerzahl führte. Diese enorme Energie, Flexibilität und Ausdauer zum Erreichen der Ziele des Projekts basierte auf zwei Formen professioneller Leidenschaft. Die eine war die Leidenschaft für die Ziele der Untersuchung und der Intervention für die Klient*innen der Untersuchung. Die zweite Leidenschaft war die Begeisterung für die Online-Durchführung. Nach anfänglichen Vorbehalten zur Online-Durchführung der Interventionen und Messungen war es eine stetig wachsende Leidenschaft für die Online-Durchführung und damit eine sehr schnell optimierte Intervention, welche den Bedingungen der Pandemie entspricht und genau genommen eine neue Form der Intervention und Untersuchungsdurchführung für Menschen mit Demenz und ihre häuslich pflegenden Angehörigen bedeutet.

Erlebte Tiefpunkte und Johann Sebastian
Für mich persönlich waren alle diese Wechsel in der Projektadministration mit vielen Tiefen und Höhen verbunden. „Hinein in die Talsohle“ waren die Momente, in denen der genehmigte Projektablauf nicht mehr anwendbar war, alles umgestellt werden musste und sowohl die Machbarkeit der Umsetzung als auch die Genehmigung dieser Umstellungen sowie ihre Finanzierung mit den ursprünglichen Mitteln nicht geklärt waren. Ein weiterer Tiefpunkt war die Zeit von drei Monaten nach den Umstellungen und ihrer Genehmigung, als keine neuen Teilnehmer*innen gewonnen werden konnten. In manchen dieser Tage hätte Johann Sebastian Bachs „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ der beste Begleiter sein können. Als dann jedoch im ersten Schritt die Zahl der Teilnehmer*innen nach unzähligen und vielfältigen Aktivitäten zur Gewinnung neuer Teilnehmer*innen wuchs, konnten dann vor allem im zweiten Schritt bis zum Monat 20 der Pandemie die vollständige Zahl der Teilnehmer*innen gewonnen werden. Nun klang Johann Sebastian Bach gleich zweifach in meinen Ohren. Zum einen war es sein „Es ist vollbracht“ und zum anderen „Jauchzet, frohlocket, drauf preiset die Tage“. Das Erste stand für mich für seine Schwere, seinen endgültigen Abschied und seinen triumphalen Sieg und das Zweite (es war kurz vor Weihnachten) für seine riesige Freude und sein schier endloses Glück. Das war in der Tat das Hinaus aus der Talsohle und ist zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels gerade einmal zwei Monate jung.

Resümee aus der Perspektive der Projektleitung und Projektverwaltung
Diese besondere Zeit der Pandemie berührte noch weitere Herausforderungen im Projekt. Beispielsweise fanden 90–95% der Zusammenarbeit mit dem eigenen Forscher- und Projektverwaltungsteam per Zoom, E-Mail, Projektverwaltungsportalen und Anrufen statt. Das war ich bereits aus der Arbeit in internationalen Forscherteams gewohnt, jedoch nicht mit den Forscherteams im eigenen Haus. Viele Vor- und Nachteile,
Lösungswege und Grenzen könnten hier noch reflektiert werden. Jedoch als Gesamtfazit der Herausforderungen und Lösungen aus der Perspektive der Projektleitung und Projektverwaltung kann ich ganz klar im dritten Jahr der Pandemie zu unserem konkreten Projekt HOMESIDE eine positive Lösung und damit ein … hinaus aus der Talsohle sehen. Die Ziele unseres Projekts können wir erreichen. Nicht geplant haben wir eine musiktherapeutische Online-Intervention entwickelt. Diese Intervention wird umfassend randomisiert kontrolliert geprüft. Die Entwicklung bzw. Umstellung auf Online-Intervention für Menschen mit Demenz und ihre häuslich pflegenden Angehörigen fand auch noch genau im Jahr der Unterzeichnung der Nationalen Demenzstrategie in Deutschland statt.

Gemeinsames Resümee und Ausblick
Im November 2021 konnte in Deutschland die für HOMESIDE erforderliche Teilnehmerzahl von 99 Paaren erreicht werden. Das bedeutet, dass ungefähr 200 Menschen von uns im Rahmen ihrer Studienteilnahme sehr eng begleitet werden konnten. Wir führten circa 700 Telefonate mit unseren Teilnehmerpaaren und die Psycholog*innen besprachen mit ihnen in etwa 400 Terminen die festgelegten Fragebögen für die Untersuchung. In etwa 200 Online-Sitzungen im Rahmen der Lese- und Musikinterventionen entdeckten und erlebten die Teilnehmenden der entsprechenden Gruppe gemeinsam mit den Therapeutinnen Lese- oder Musikaktivitäten, die sie dann in ihren Alltag integrieren konnten. Die Analyse der Untersuchungsdaten und damit die Ergebnisse zur Wirksamkeit der Interventionen stehen noch aus. Allerdings stellen für uns als Team die vielen realisierten Kontakte mit Menschen mit Demenz und ihren pflegenden Angehörigen schon an sich einen großen Erfolg dar. Der Weg bis zu dieser Zielerreichung jedoch verlief vollkommen anders als ursprünglich gedacht, geplant, genehmigt und auch begonnen.
Das „Hinein in die Talsohle“ und die damit einhergehende Unmöglichkeit, die Arbeit und die Studiendurchführung in Corona-Zeiten aufrecht zu erhalten, kam für alle Beteiligten unerwartet. Durch die notwendigen Kontaktbeschränkungen wurde dem Projekt die eigentliche Grundlage entzogen, nämlich die Besuche der Teilnehmenden in ihrem häuslichen Umfeld. Zunächst herrschte eine gewisse Perspektivlosigkeit,
die wie in der Darstellung der Einzelbeiträge beschrieben, ganz unterschiedliche Auswirkungen hatte. Teilnehmer*innen konnten nicht mehr im Direktkontakt therapeutisch betreut werden und es war zunächst nicht mehr möglich, neue Teilnehmer*innen aufzunehmen oder Kontakt zu neuen Interessierten herzustellen. Die Fortführung der Studie in Deutschland schien nicht mehr sicher. Das Ende der Talsohle war nicht in Sicht.
Die Motivation des gesamten Teams jedoch, ein Fortführen des Projekts zu realisieren, war sehr ausgeprägt. Die Überzeugung von der Grundidee und die bislang gemachten Erfahrungen waren ein zusätzlicher Antrieb, in alle Richtungen zu denken und mutig Neues zu probieren. Die Umstellung auf eine Online-Durchführung der gesamten Studie konnte eine Möglichkeit für das „Hinaus aus der Talsohle“ sein. Dabei war es vor allem die Kooperation mit den internationalen Partnern, die uns dabei half, eine komplette Umstellung zu wagen. Was in Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch völlig neu war, wurde in anderen Ländern teilweise bereits praktiziert. Die therapeutischen Interventionen wurden von nun an via Videokonferenzsysteme durchgeführt, sodass Studienteilnehmer*innen und Therapeut*innen nur noch virtuell zusammenkamen.
Aber ist das nun wirklich ein Weg hinaus aus der Talsohle? Der Rückblick auf die Online-Umstellung und das Fortsetzen der Studie auf diesem Weg fällt aus den dargestellten Einzelperspektiven durchaus unterschiedlich aus, da sich die direkten Auswirkungen auf die jeweilige Arbeit stark voneinander unterscheiden. Eine online-geführte therapeutische Intervention war für alle im Projekt tätigen Therapeut*innen zunächst völlig fremd, bedurfte einiger neuer kreativer Arbeitsweisen und eine enge Unterstützung von klinischer Studienleitung und Projektleitung. Bald wurde aber deutlich, dass das Angebot die festgelegten Ziele erfüllen kann.
Neue Türen haben sich geöffnet und über die richtigen Wege konnten viele Interessierte auf die Studie aufmerksam gemacht und schließlich auch aufgenommen werden. Für das gesamte Projekt und somit auch die Projektverantwortlichen war der Weg hinaus aus der Talsohle damit ein voller Erfolg.
Im Rückblick betrachtet, waren wir durch die Corona-Pandemie zum Umdenken gezwungen, was jedoch sinnvolle Innovationen und Neuerungen ermöglichte. Ein differenzierter Blick auf das „Hinein in die Talsohle und hinaus aus ihr“ zeigt innovative Möglichkeiten, Chancen und die Entwicklung neuer Methoden auf. In unserem Fall bedeutet das, ein musiktherapeutisches Angebot im häuslichen Umfeld von Demenzbetroffenen und ihren Angehörigen online durchführen zu können und damit eine größere Zielgruppe zu erreichen. Unser Wunsch für die Zukunft ist es, den Fokus verstärkt auf dieses Arbeitsfeld zu legen und unterstützende Angebote für Demenzbetroffene und ihre Angehörigen, zusätzlich zu den bestehenden Vor-Ort-Therapien zu etablieren und zu verankern.

Die Autor*innen: 
Carina Petrowitz
M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin HOMESIDE an der FHWS, Musiktherapeutin in psychiatrischer Klinik,
Dozentin FHWS, promoviert an Uni Augsburg zu Merkmalen des Therapeutenverhaltens und triadische Interaktion in HOMESIDE

Laura Blauth
Dr., klinische Studienleiterin HOMESIDE an der FHWS, Musiktherapeutin mit Kindern, Erwachsenen und Familien, Promotion zu Musiktherapie und Autismus in Cambridge, Forschung zu familienzentrierter Musiktherapie, Resilienz und Wohlbefinden

Thomas Wosch
Prof. Dr., Professor für Musiktherapie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt
(FHWS), Studiengangleiter Master Musiktherapie für Empowerment
und Inklusion, Forschungsprojektleiter HOMESIDE und weiterer Projekte

Weblink zur Studie
www.fhws.de/homeside

Praxisvorstellung

Praxis für Musiktherapie

Pünktlich zu meinem 40jährigen Praxisjubiläum erhalte ich von der MuGRedaktion die Anfrage, diese dort vorzustellen. Es gibt sie seit 1981 in München, seit 1989 auch in Wessobrunn. Ich teile sie mit meiner Frau, der Pianistin und Atemtherapeutin Gabriele Engert-Timmermann. Ich selbst bin immer dienstags und mittwochs in der Münchner Praxis, ansonsten kann man mit mir in Wessobrunn Termine vereinbaren.
Zum Beruf des Musiktherapeuten kam ich auf Umwegen. Ich habe von 1969 bis 1975 in Münster studiert, schloss das Studium sowohl mit einem 1. Staatsexamen für das Lehramt und Musik als didaktischem Fach als auch mit einem Diplom in Pädagogik mit Schwerpunkten Sozialarbeit und Psychologie ab. Von 1975 bis 1978 war ich dann als Musiklehrer an einer Hauptschule im nördlichen Emsland tätig. In dieser Zeit lernte ich Musiktherapie im Rahmen einer Wochenend-Weiterbildung bei Hans-Helmut Decker-Voigt in der Lüneburger Heide kennen und wusste sofort: Das ist es!
Meine musiktherapeutische Ausbildung erhielt ich von 1978 bis 1981 an der Hochschule, heute Universität, für Musik und Darstellende Kunst in Wien unter der Leitung von Prof. Alfred Schmölz. Er hat meine Vorstellungen vom Fach, die praktische klinische Arbeit sowie Lehre und Lehrtherapie sehr geprägt. Seine didaktische Methode, den Studierenden Musik als Sprache verständlich zu machen, ist für mich immer noch faszinierend und grundlegend für vieles, was heute in der modernen Musiktherapie praktiziert, erforscht und gelehrt wird. Den Stufenweg zum musikalischen Symbolisieren in der Improvisation habe ich, natürlich meiner Persönlichkeit, Erfahrung und Weiterbildungen entsprechend, modifiziert und in dieser Form auch mit meinen Studierenden angewendet als eine Schule des Hörens und Verstehens, des Erspürens und Ausdrückens in Tönen.
Nach dem Studium in Wien zog ich nach München, um im Auftrag des Freien Musikzentrums dort Musiktherapie als Fachbereich aufzubauen. Dieser umfasste schließlich eine Fortbildungsreihe, eine jährliche Tagung und eine berufsbegleitende Ausbildung. Gleichzeitig begann ich in München Musiktherapie in freier Praxis anzubieten, was damals noch recht ungewöhnlich war. Man stieß aber durchaus auf das Interesse von Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen, und der damalige Zeitgeist war sehr offen für Neues, selbsterfahrungsbereit und tolerant. Unser Fach war zunehmend in psychotherapeutischen Weiterbildungsinstituten und bei entsprechenden Veranstaltungen vertreten. Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen nahmen Kontakt zu mir auf und boten Zusammenarbeit an, wenn sie Patient*innen hatten, bei denen sie sich von der Musiktherapie gute Erfolge versprachen. Bei entsprechenden ärztlichen Empfehlungsschreiben und einer selbstverfassten schriftlichen Begründung konnten die Kosten für die Musiktherapie sogar als „Kulanzleistung“ von Kassen übernommen werden. Das endete leider mit dem Psychotherapeutengesetz.
Von 1987 bis 1989 war ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Ulm, zunächst an der Abteilung „Anthropologie und Wissenschaftsforschung“ bei Prof. Baitsch, dann an der Abteilung für Psychotherapie, wo ich bei Horst Kächele promovierte. Die Studie zu einer Einzelmusiktherapie ermöglichte mir noch einmal eine lange und gründliche Reflektion der praktischen Arbeit, die ich nicht missen möchte. Gemeinsam mit Nicola Scheytt und Susanne Bauer bauten wir, insbesondere durch die „ulmer werkstatt für musiktherapeutische grundlagenforschung“, ein Netzwerk zur musiktherapeutischen Forschung auf. Inzwischen wird diese Tagung an der Universität Augsburg weitergeführt.
Im Jahre 1989 zogen meine Frau und ich mit unseren Kindern nach Wessobrunn, wo wir immer noch leben und seitdem im Hause einen Praxisraum für Musik- und Atemtherapie eingerichtet haben. Oberbayern ist im ländlichen Bereich keine therapeutische Diaspora. Sowohl Atem- als auch Musiktherapie werden nachgefragt. Zu mir kommen neben einigen Ortsansässigen auch Patient*innen und Klient*innen, die eine weitere Anreise mit der Arbeit in Blockzeiten kompensieren und die oberbayerische Landschaft genießen.
1995 fanden wir unsere Münchner Praxis, ein ehemaliges Tonstudio, welches schallisoliert worden war und daher sowohl die akustischen Phänomene dämpft als auch einer musiktherapeutischenSchweigepflicht genüge tut.
Sowohl in der Münchner als auch der Wessobrunner Praxis führe ich Musiktherapie mit erwachsenen Patient*innen und Klient*innen durch. Die meisten kommen mit psychosomatischen Beschwerden und verschiedenen psychischen Probleme, manche auf Empfehlung, manche wollen nach einem Klinikaufenthalt Musiktherapie als eine Therapieform, die ihnen gut getan hat, weiter erleben, manche suchen gezielt nach Musiktherapie und finden mich im Internet.
Inzwischen nehmen auch Lehrmusiktherapien und Supervisionen einen großen Teil meiner Praxistätigkeit ein. Lehrtherapie beinhaltet für mich einerseits einen persönlichen Selbsterfahrungsprozess, der die eigene Geschichte und aktuelle Probleme reflektiert. Gleichzeitig begleitet der Prozess die Erfahrungen in der Ausbildung, die Begegnungen mit dem Setting dort, insbesondere auch der Gruppe. Es wird jedoch auch immer
wieder die Metaebene einbezogen, das Reflektieren von erlebten Vorgehensweisen, Gedanken über die Rolle als Therapeut*in, das entsprechende Verhalten, unter Umständen verbunden mit theoretischen Hinweisen, und, last but not least, die Abgrenzungen vom Verhalten des Lehrtherapeuten oder der Lehrtherapeutin, um eine eigene Therapeut*innen-Persönlichkeit zu entwickeln.
Für die Arbeit stelle ich sowohl in München als auch in Wessobrunn Räume mit einem Instrumentarium zur Verfügung. Dies ist so ausgewählt, dass eine möglichst große Vielfalt an Klangmöglichkeiten angeboten werden kann. Zur Einrichtung des Raumes gehören ansonsten bequeme Sitz- und Liegemöglichkeiten inklusive Decken und Kissen. Auch kleine Angebote wie das Bereithalten von Papiertaschentüchern und von Zetteln und Stift für Notizen haben sich in der Alltagspraxis bewährt.
Zentrale Instrumente sind für mich Klavier, Monochord, Bassettl, Schlagwerk und Gitarre, ergänzt um diverse Orff- und Rhythmusinstrumente, um Blasinstrumente, Leiern, Akkordeon, Geige, um Gong, Klangschale, Ocean Drum, um Dschembe, Rahmentrommel, Rasseln und andere handliche Klangerzeuger. Alle Instrumente stehen bei mir grundsätzlich sowohl den Patient*innen/Klient*innen als auch mir als Therapeuten zur Verfügung, je nachdem, was die jeweilige Situation ausmacht.
Das Klavier ist von der Tonerzeugung her einfach und ohne besondere Kenntnisse zu spielen; an ihm lässt sich die ganze Komplexität der Musik (also Zentraltönigkeit/Bordun, Basslinien, Akkorde/Kadenzen, Melodien, Rhythmen, Atmosphären…) verwirklichen. Man kann es gut zu zweit spielen. Therapeut*innen ermöglicht es modales und kadenziales Spiel ebenso wie tastendes Mitsuchen oder provozierendes Aufrütteln.
Das Monochord hatte ich im Rahmen meines Wiener Studiums in der Vorlesung von Prof. Rudolf Haase über harmonikale Grundlagenforschung kennengelernt. Zwar fand ich das Messen mit den kleinen hölzernen Stegen spannend und aufschlussreich, sah aber auch die Möglichkeit, mit stabileren Spielstegen Skalen und andere Tonfolgen aus allen möglichen Teilen der Erde wie bei einem musikalische Baukasten einzustellen. Da hinein phantasierte ich eine Zukunftsmöglichkeit in der Musiktherapie, die sich erst später konkretisierte. Patient*innen und Klient*innen aus den verschiedensten Ländern Europas und der Welt sind heute selbstverständlicher Teil des musiktherapeutischen Alltags. Dieser schlichte Holzkasten mit Saiten namens Monochord ist kulturunabhängig eine Art Archetyp des Saiteninstruments, und in Verbindung mit dem Einstellen kulturspezifischer Skalen entsteht eine sofort und leicht spielbare Begegnung mit dem jeweiligen kulturellen Hintergrund. Gleichzeitig stellt das fließende Spiel auf den gleichgestimmten Saiten eine Möglichkeit zum rezeptiven „Für-Spiel“ oder auch eine Einladung zum Mittönen mit der Stimme dar.
In verschiedenen Texten habe ich bereits über die musikalische Realisation gängiger psychotherapeutischer Techniken nachgedacht. Wie klingt Halten (Holding, Containing), Stützen, Spiegeln, Konfrontieren/Provozieren usw. Das Bassettl, ein kleiner Bass, weckt bereits im Namen die Phantasien von Basis, also haltendem, stützendem, fundierendem Spiel, durch Streichen oder „groovendes“ zupfendes Begleiten von Improvisationen – auch bei „exotischen“ Instrumenten jenseits von Kammerton und temperierter Stimmung. Es lassen sich aber musikalisch auch sehr schön die Schattenseiten des Lebens vertonen, besonders, wenn man ungeübt mit Streichinstrumenten ist, aber auch, wenn man es will.
Grundsätzlich kann jedes Instrument geeignet sein, auf das Spiel von Patient*innen und Klient*innen Resonanz zu geben. Dies kann ein unterstützendes und stärkendes Begleiten sein. Vielleicht folgt man aber auch (womöglich nicht unbedingt in der ersten Sitzung) dem Impuls zur Konfrontation durch spontan provozierendes Spiel als Anregung von Veränderung, Wandlung, sich Lösen aus Festgefahrenem.
Eine dabei hilfreiche therapeutische Haltung ist, die Patient*innen wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. Dies ist gerade in der Psychotherapie mit künstlerischen Medien von großer Bedeutung, wird doch künstlerischer Ausdruck in der professionellen Form immer auch mit kritischer Beurteilung verbunden. Nach meiner Erfahrung ist es am Leichtesten, wenn man einfach neugierig auf Musik im weitesten Sinne ist, auf freie Improvisation als einer akustischen Symbolsprache. Diese Haltung lauscht auf die Resonanz suchende Seele, findet authentische Formen klanglichen Ausdrucks spannend und möchte sich im Kontakt möglichst natürlich verhalten. „Möglichst“ schließt den Gedanken ein, dass auch Therapeut*innen nur Menschen sind und über individuell begrenzten Spielraum an Möglichkeiten verfügen, jedoch daran arbeiten und sich spätestens bei auftauchenden Problemen supervisorischen Beistand holen. Eine gute Kombination von Demut und Würde scheint mir dabei hilfreich.
Seit meiner Studienzeit beschäftige ich mich mit dem psychologischen Modell von C. G. Jung. Dies in den Zusammenhang mit der Musiktherapie zu stellen, war Thema eines meiner letzten Bücher. Sein Wirklichkeitsmodell ist für mich das natürlichste Abbild der Seelenlandschaft, das ich kenne. Im Zentrum steht die Individuation, die persönliche Selbst- und Sinnfindung des Menschen in Beziehung zu Mitmensch und Mitwelt. Ziel von Therapie ist dann, den persönlichen Spiel-Raum im Schicksal mehr und mehr auszufüllen, möglichst vollständig zu werden und die darin liegende Freiheit nehmen und leben zu können.
Mir gefällt speziell Jungs Unterscheidung der zwei Arten von Gewissen, des „Über-Ich“ und der „inneren Stimme“. In meinem akustischen Denken geht es darum, die Stimmen der „Über-Ich-Talkshow“ aus Eltern, Verwandten, Lehrern, Priestern und „Influencern“ aller Sorten leiser werden zu lassen, um die „innere Stimme“ des Selbst vernehmen zu können, um den ganz persönlichen Lebenssinn zu erkennen. Sozialisationsbedingter Selbst-Entfremdung setzt Jung das heilsame Bewusstsein entgegen, dass jeder Mensch persönlich bedeutsamer und sinnvoller Teil eines sinnvollen Ganzen ist. Es geht also um eine Be-sinnung auf und ein sich wieder Verbinden (re-ligio) mit dem tiefsten, primären Selbst, das heil und heilsam unter allen schicksalsbedingten Wunden, Irritationen und Verbiegungen auf dem Grunde unseres Atems darauf wartet, dass wir nach Hause kommen.
Großen Einfluss auf meine Arbeit hatte die Ausbildung in Atemtherapie, die ich, gemeinsam mit meiner Frau, bei Herta Richter im Münchner „Atemhaus“ in den 1980er Jahren genoss. Ich lernte, mich im Sitzen, Liegen und Stehen mit dem Atem zu verbinden. Das Schmölzsche Element der Stille, des Lauschens, des „Lauschsamwerdens“ und des sich Einstimmens wurde hier noch einmal vertieft. Als ehemalige Sängerin lud Herta Richter uns immer wieder zum Tönenlassen des Atems ein, was zu wunderschönen Stimmimprovisationen in der Gruppe führte und für mich auch eine Brücke zur Musiktherapie darstellte. In gemeinsam mit meiner Frau geleiteten Seminaren haben wir eine Kombination von Atem- und Musiktherapie methodisch entwickelt. In der therapeutischen Praxis sind Körper- und Atemwahrnehmung für die Vorbereitung rezeptiver Angebote und als Moment der Einstimmung in eine Improvisation hilfreich. Der Spielraum im Schicksal offenbart sich im Atemraum, den ich zulassen kann.
Eine große Erweiterung meiner therapeutischen Perspektive stellt auch die systemische Aufstellungsarbeit dar, die ich in den 1990er Jahren durch Selbsterfahrung und Beobachtung kennenlernte. In meiner musiktherapeutischen Arbeit ist sie eine wichtige Vorgehensweise, sowohl diagnostisch im Hinblick auf das Forschen nach dem Ursprung von Problematiken als auch bei der pragmatischen Suche nach Lösungen. Hierbei steht nicht das Subjekt oder Ich im Zentrum der Wahrnehmung, sondern das Spiel der Kräfte, in die der einzelne Mensch eingebunden ist. Aufstellungen können ein Feld voller Informationen in die Wahrnehmung bringen. Es kann spürbar werden, wie ein Familiensystem in seiner transgenerationalen, beziehungsmäßigen Komplexität wirkt und manchmal, wie dies im Zusammenspiel mit archetypischen Kräften (das Mütterliche, der Tod usw.) sich darstellt. Individuation ist durch Verstrickung in überpersönliche Schicksalszusammenhänge oft nur reduziert möglich, wenn Menschen unbewusst in systemisch ausgleichende Rollen gehen, z.B. das Schicksal eines vorhergehenden Familienmitglieds wie in einem für ihn geschriebenen Drehbuch „nachleben“. Freuds „Wiederholungszwang“, modern als „repetitive Muster“ beschrieben, zeigt sich hier auf der systemischen Ebene.
Die musiktherapeutische Aufstellungsarbeit mit Gruppen erfordert allerdings einen größeren Raum als meine private Praxis bieten kann. Doch auch im Einzelsetting ist das Aufstellen der Herkunftsfamilie für mich ein sehr anschauliches und bei rechter Anwendung wenig von Kopf und Über-Ich gesteuertes Mittel, sinnlich erlebbar und höchst wirksam den größeren Schicksalszusammenhang wahrzunehmen, in dem ein Mensch sich befindet. Indem dieser sich dann zu den einzelnen Instrumenten stellt, wird einerseits die Blickrichtung der repräsentierten Personen deutlich, gleichzeitig kann er sich dort jeweils einfühlen und auch die Situation anderer Familienmitglieder spüren. Die Symbolik der Instrumente tut ein Übriges. Das Experimentieren mit der Aufstellung ermöglicht eine Suche nach Lösungen, auch im weiteren Verlauf eines Prozesses. Ebenfalls in der Supervision hat sich dies bewährt.
Das war jetzt die Geschichte mit meiner Praxis. Auch wenn ich fest angestellt war an Kliniken und Universitäten,
ich behielt immer mindestens einen Tag pro Woche dafür bei. Ich konnte auch nie etwas erforschen oder unterrichten, was ich selber gar nicht mehr mache. Dazu liebe ich im Übrigen diesen Beruf zu sehr.

Diesmal statt Klinikspaziergang – Das BIM

Von Ilse Wolfram

EIN Zentrum, EIN Verein und sein Netzwerk

… das ist BIM, das Bremer Institut für Musiktherapie und seelische Gesundheit e.V.
Im Zusammenhang mit diesem Text kommen wir nicht umhin, sich die Vorgeschichte des „Zentrums für Musiktherapie“ in Bremen zu vergegenwärtigen. BIM, gegründet 2000, war etwa fünfzehn Jahre lang „nur“ ein „virtuelles Institut“, öffentlich auffindbar über eine Webseite, bekannt nach gelegentlichen Pressenotizen für einen Fachtag oder auch noch über einen Wechsel im Vorstand. Umso intensiver entwickelte sich die Wahrnehmung unter den meisten bremischen Musiktherapeut*innen für die Notwendigkeit, über einen gemeinsamen öffentlich betretbaren Raum zu verfügen. Aber wie?

Gründung und Einweihung des Zentrums 2014
Etwa ab 2010 kreisten die Gedanken der damals 31 Mitglieder um Bezahlbarkeit, Lage, Größe, Verantwortung, Anschaffungen, Lautstärke, Nutzerkonzept. Mehrere Versuche, etwas gemeinsames Größeres zusammen mit Angehörigen der Künstlerischen Therapien oder von soziokulturellen Initiativen, z. B. Verein Downsyndrom, aufzubauen, scheiterten an der notwendigen längerfristigen Bereitschaft zur Mitarbeit oder an sich verändernden persönlichen Lebensumständen. BIM-Aktive besichtigten erfolglos andere Praxen in unterschiedlichen Stadtteilen oder führten zeitraubende Gespräche mit Behörden, immer begleitet von den Bedenken der Kolleginnen, wie das zu schaffen sein würde.
Es wurde ein Prozess von mehreren Jahren, ehe der jetzige Ort gefunden und als geeignet bewertet worden war. Das attraktive Mietobjekt besteht aus einem größeren Raum von ca. 40qm, 2 kleineren Räumen, WC, einer gemeinsamen Küchennutzung auf der Etage, alles frisch renoviert, kein Fahrstuhl, guter öffentlichen Erreichbarkeit in einem Bürogebäude und einer Miethöhe von 547 € inklusive aller Nebenkosten. Eine Mitgliederversammlung (von 31 waren 15 erschienen) beschloss die Anmietung dieser knapp 75qm, um erst einmal damit anzufangen. Versprochen hatte die Hausverwalterin bezüglich der zu erwartenden Lautstärke durch Musik: „Sie können hier so laut sein, wie Sie wollen, Sie können hier rasen“. Es ging einige Jahre gut, dann wechselten die Mieter des unteren Stockwerks und nach einigen Beschwerden wurde es für die Musiktherapeutinnen so unangenehm, dass wir einen Anwalt aufsuchten und seitdem eine Mieterschutzversicherung bezahlen. Tröstlich am heutigen Tag: Die Störung durch Beschwerden ist vorüber.
Wie betreibt BIM dieses Zentrum? Und: Hat das „Zentrum für Musiktherapie“ sich zu einem Ort entwickelt, in welchem nicht nur gut musiktherapeutisch gearbeitet werden kann, sondern in dem auch der Öffentlichkeit Musiktherapie nahegebracht werden kann?
Die Ausstattung erwies sich als ein relativ unproblematischer Prozess. Mehrere praktizierende Kolleginnen schenkten oder liehen (vielen Dank!) Musikinstrumente und Regale, das Fundraising wurde intensiviert mit dem großartigen Ergebnis, dass eine Bank 10.000 € beisteuerte. Damit konnten wir Tische und Stühle, große Außenschilder, ein gutes Klavier und andere Einrichtungsgegenstände einkaufen. Von einer weiteren Spende eines befreundeten Chormitglieds konnten wir einen Kontrabass anschaffen, dessen „therapeutische Qualitäten“ beim nächsten „Tag der Offenen Tür“ demonstriert wurden. Es war ein Freude, mit vielen Mitgliedern die Räume einzurichten und die Einweihung vorzubereiten! Bei dieser konnten wir Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt begrüßen, außerdem den Klinikdirektor der Psychiatrie, den Vertreter der zustiftenden Bank und einen gesundheitspolitischen Vertreter (SPD). Gelegentlich braucht das Zentrum Neues: Wir haben einen Bewegungsraum eingerichtet mit Hängematte, Decken, einem Zelt, einer Verkleidungskiste, um den Spielbedürfnissen gerecht zu werden. 

Klinische und andere Aufgaben des Zentrums: HPE, Öffentlichkeit und Projekte
Das Zentrum entwickelte sich schnell dank der Aktivitäten von Arbeitsgruppen mithilfe der Kompetenzen „aus den eigenen Reihen“. Zu den Themen Demenz, Autismusbehandlung, Supervision, Arbeit mit Blinden, mit Psychiatriepatientinnen und mit dem Film „Metamorphosen“ wurde eine öffentliche Vortragsreihe realisiert. Gleichzeitig wurde die Mietbelastung durch eine stundenweise Vermietung an drei Initiativen aus dem soziokulturellen und klinischen Spektrum reduziert. In Coronazeiten ist die Vortragsplanung, auch wenn es Nachfragen danach gibt, allerdings zum vorläufigen Erliegen gekommen. Aber nur vorläufig!
Entscheidend für die zuverlässige inhaltliche und finanzielle Existenz des Zentrums war jedoch die Kooperation mit dem Amt für Soziale Dienste (AfSD). Zeitgleich mit dem Einzug in das Zentrum konnte BIM einen Vertrag 2014 als „Leistungserbringer für Heilpädagogische Einzelmaßnahmen“, HPE genannt, abschließen. Die musiktherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsdefiziten und aus sozial benachteiligten Familien auf der Basis des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) ist die wichtigste therapeutische Aufgabe, die im Zentrum für Musiktherapie erfüllt werden kann. Doch die Zuweisung durch die jeweils zuständigen Casemanager des Jugendamts gelingt nur durch eine komplexe und sorgfältig wahrgenommene Abstimmung innerhalb des HPE-Teams. Das Procedere bis zum tatsächlichen Beginn einer HPE ist genau geregelt: Antrag der Erziehungsberechtigten, Erstgespräche mit Kindern und Erziehungsberechtigten, Teamentscheidungen, Erst- und Abschlussberichte, zweijährige umfassende Qualitätsentwicklungsberichte (QE), Kostenregelung. Dazu kommen regelmäßige Informationstreffen mit den sog. Regionalkoordinatoren der Sozialen Dienste, Teamsupervision und Fachsupervision. Die Kolleginnen arbeiten sowohl auf Honorarbasis als auch als Festangestellte. Der Verein BIM als Träger des Zentrums hat drei neue Arbeitsplätze geschaffen und im Laufe des letzten Jahres 2021 siebzehn Kinder versorgt! Entsprechend hat sich auch der administrative Aufwand für den Vorstand und insbesondere die Schatzmeisterin, gesteigert. Die Überschüsse (Overheads) durch die öffentlichen Zahlungen werden für die Miete und andere HPE-spezifische Kosten verwendet.
Eine weitere Aufgabe des Zentrums ist es, jüngeren Kolleginnen einen Einstieg in die Berufstätigkeit zu ermöglichen, indem sie die Räume nach Bedarf nutzen können.
In welcher Weise betrifft nun die seit März 2020 regierende Coronapandemie und ihre Folgen die therapeutische Arbeit im Zentrum für Musiktherapie?
Friederike Jacob hatte in ihrer Eigenschaft als HPE-Teamleiterin bereits ausführlich für die MuG Nr. 38/2020
(S. 26–27) über Vorsorgemaßnahmen geschrieben und dabei das Wort „systemrelevant“ für Kinder und ihre Eltern betont. Sie endete in ihrem Beitrag damit, dass es auch weiterhin gute Nachrichten gebe: „Trotz Corona stellen immer neue Familien Anträge an ihre Casemanager für eine HPE-Musiktherapie“.
Wie sieht es nun nach einem weiteren Jahr und länger im Zentrum aus? Aktuell beherrscht Omikron die gesundheitliche Lage. Die Kolleginnen berichten, dass die Regionalkoordinatoren und die Casemanager heutzutage weitaus schwieriger erreichbar sind, und dass Entscheidungen für eine Kostenzusage erheblich länger dauern. Das trifft die HPE-Arbeit empfindlich, da BIM selbst dafür keine Werbung für die Musiktherapie im Zentrum machen darf. Friederike Jacob: „Auch viele Klientinnen sind in Quarantäne. Deshalb führen wir Telefon- oder Videotherapie durch. FFP2-Masken tragen die Therapeutinnen immer und Kinder, wenn möglich. Doch: Trauer? Wut? Neugier? Wenn Masken einen Teil des Gesichts verbergen, wird die Interpretation schwierig. Bisher ist keine Therapeutin krank geworden. Wir testen uns 2–3 Mal pro Woche und fragen die Kinder, ob sie selbst negativ getestet sind. Schwierig ist der Umgang mit nicht geimpften Eltern! Für solche Fälle ist unsere Regel, dass maximal ein Elternteil begleiten darf und vor der Tür bleibt. Elterngespräche führen wir telefonisch. 

Erfahrungen in der Pandemie während eines musiktherapeutischen Projekts
Mit einigem Stolz konnte BIM bisher auf seine Projekte blicken. Doch das zuletzt beendete Regenbogenfisch-Projekt hat unter Corona erheblich gelitten. Es ist einfach traurig, bedauerlich und dennoch, trotz der Einschränkungen, ist es happy-end-mäßig gelungen.
Das Projekt mit dem schönen Namen „Hand in Hand mit dem Regenbogenfisch“ – ein Musical für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund – basiert auf einer bekannten Erzählung nach Markus Pfister von 1992. Projektpartner war eine Grundschule, Zielgruppe waren 15–20 Kinder der ersten und zweiten Klassen, beteiligt waren ausdrücklich auch ihre Eltern und Lehrer. Das Projektkonzept gewann sogar einen Förderpreis für beispielhafte Kinder- und Jugendprojekte unter dem Motto „Selbermachen!“. Doch während des ersten Lockdowns hatte es schon einmal von März bis September 2020 pausieren müssen. Danach durfte es wieder weitergehen – die Erwachsenen trugen Maske, die Kinder kamen ohne Maske in Kohorten zusammen. Singen war verboten! Das bedauerten alle, denn was ist ein Musical ohne Singen? Die Leiterin verlegte sich einfallsreich aufs Rappen, auf diese Weise entstand ein „Regenbogenfisch- Rap“. Auch dieses wurde bald seitens der Schulleitung nicht mehr gewünscht.
Die Leiterin entschied sich, ausschließlich szenisch und instrumental zu arbeiten. Die Buchtexte wurden verteilt, gelernt und geprobt. Schauspielübungen führten die Kinder in die Welt der Gefühle, der Stimmungen und der verschiedenen Charaktere des Stücks ein. Für jede Szene entstanden nun instrumentale Musiken wie z.B. Wassermusik, Sturmmusik, Musik des weinenden Regenbogenfisches etc. Dabei konnten die Kinder zahlreiche unbekannte Instrumente wie Ukulele, Schlagzeug, Oceandrum, Stealdrum und mehr ausprobieren und sich auch solistisch hervortun.
Die nächste Idee „in diesen Coronazeiten“ war die Gestaltung des Bühnenbildes – es entstanden individuelle bunte Fische und auch Aquarien zum Aufhängen. Zur Zeit des zweiten Lockdowns waren leider kaum noch Kinder in der Schule, daher pausierte das Projekt erneut. Eine Aufführung wurde trotz der sehr engagierten Lehrerinnen und der Sozialpädagogin fraglich. Doch dann durfte der geplante öffentliche Auftritt nicht stattfinden. Die Spielfreude und Kreativität der Kinder konnte dennoch aufblühen, wie hier in Fotos dokumentiert. Der Projektablauf hat der Musiktherapeutin ein gerüttelt Maß an Flexibilität und organisatorischer Improvisation abverlangt. Die Kinder erhielten zur Erinnerung einen USB-Stick mit ihrer Musik und ihren Fotos und bewahren ihre Erlebnisse mit den anderen und mit sich selbst sicherlich noch lange auf.

Ehe es das Zentrum für Musiktherapie gab, gab es EINEN Verein
Warum taten sich Kolleginnen in Bremen im Jahr 2000 zusammen? Aus heutiger Sicht ist es vielleicht schwierig, sich die damalige Lage der Musiktherapie in den 80er und 90er Jahren vorzustellen. Kurz gesagt, beäugten sich viele Angehörige unserer in mindestens acht unterschiedlichen Organisationen aufgesplitterten Berufsgruppe misstrauisch, denn Studiengänge und Ausbildungen hatten sich auf der Basis von unterschiedlichem theoretischem Hintergrund entwickelt. Zentrale Frage, nicht immer offen ausgesprochen, war: Wer ist ein richtiger Musiktherapeut und wendet die richtige Musiktherapie an? Viele hatten sich Illusionen über eine berufliche Anerkennung gemacht, gehofft, dass die Studienlage zu einem Berufsrecht führen würde, und leidvoll zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Psychologischen Psychotherapeuten im Jahr 1999 ein Berufsgesetz erhielten, das die Musiktherapeutinnen ausschloss. Damit entfiel auch die Möglichkeit, im Einzelfall über eine ärztliche Delegation eine Kostenübernahme zu erreichen (Delegationsmodell).
In der Region Bremen versuchten einige Kolleginnen mit Erfahrungen aus Arbeitskreisen und Kongressen das Beste daraus zu machen: eine gegenseitige Annäherung, zunächst über lockere Treffen an ihren Arbeitsplätzen, was zu einem erfreulichen Austausch führte. Die Handlungsebene verlangte indessen auch eine organisatorische Form, „ein Gefäß“, wie es Hans-Helmut Decker-Voigt im „Nationalen Komitee zur Vorbereitung des 8. Weltkongresses“ in Hamburg 1996 nannte. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen entstand der Verein BIM e.V. durch die Initiative zunächst von Eva Frank-Bleckwedel und Ilse Wolfram, später kamen viele andere hinzu. Nicht nur die großen, bundesweiten Organisationen sollte es geben, sondern von nun an auch in der Region Bremen eine offizielle Anlaufstelle für Musiktherapie. Um zusätzlich zu den bereits bestehenden selbstständig geführten Praxen das Potential des Fachs auch hier sichtbar zu machen, mussten arbeitsfähige
Strukturen entwickelt werden. Sichtbar wurde BIM durch seinen „Stadtführer Musiktherapie“. Mit vielen kleinen Schritten wurde BIM größer, organisierte Fachtage, lernte Fundraising und gab ab 2010 „zur Mitgliederbindung“ die „Infobriefe“ pro Quartal heraus, in denen bis heute über lokale, bundes- und europaweite Ereignisse berichtet wird. Wir sind bei Nr. 45, einsehbar als Download bei www.musik-bim.de oder über den Mailverteiler bei Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! bestellbar. Die 38 Mitglieder stellen eine „bunte Mischung“ aus Ausbildungen und Studiengängen dar, sie werden auf diese Weise der „Vielfalt“ gerecht, auch das ist eine Stärke unseres Fachs. Wie heißt es in der Vorrede zum Weltkongress: „One of the strengths of our discipline of music therapy is its diversity“.
Der Verein BIM e.V. arbeitet mithilfe eines verlässlichen (ehrenamtlichen) fünfköpfigen Vorstands; ein personeller gut vorbereiteter Wechsel zu jüngeren Kolleginnen wurde Ende 2021 bruchlos vollzogen. Anfragen nach Beratung und Therapieplätzen werden zügig beantwortet. Es lässt sich also durchaus sagen, dass die Trägerschaft des Zentrums gewährleistet ist und dass BIM ständig neue Ideen aufgreifen wird. Die BIM-Satzung formulierte bereits 2000 dafür als Vereinszweck „durch Musiktherapie unmittelbar die seelische Gesundheit von Menschen in allen Lebensbereichen zu fördern“. Damit kann BIM überall ankommen.

Die Autorin:
Ilse Wolfram
Integrative Musiktherapeutin (HPG), Dipl. Psych. mit Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie
Lehrmusiktherapeutin DMtG zert., Ehrenmitglied DMtG
Supervisorin DGSv
Berufspolitik bei BAG MT, BAG KT, EMTC
Mitgründerin von BIM e.V.
Musiktherapeutische Praxis in Bremen 

Editorial

Crossing borders…

… lesen, hören und (emp-)finden wir immer im Zusammenhang mit musiktherapeutischen Prozesse: Auf unseren internationalen Kongressen, im Umgang mit Migration, Integration …
Crossing borders durch Musiktherapie in den therapeutischen Prozessen in Corona-Zeiten, deren Tragik der Schriftsteller Daniel Kehlmann beschreibt, weil das Heilmittel die Distanz, die Trennung voneinander sei.
Zum Zeitpunkt der Endredaktion dieser Ausgabe häufen sich die Grenzen, die Musiktherapie zu überschreiten sucht: Corona-Grenzziehungen – siehe unser Schwerpunktthema. Und aktuell und erstmals seit 1945 wieder – Nachrichten von Krieg in Europa. Ein Krieg, der etliche von uns, die wir in der Ukraine oder in Russland musiktherapeutisch arbeiten, weit mehr als nur aus der Entfernung zwischen Sofa und Fernseher heraus involviert.

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