Editorial

Wenn er sagte, seine Mutter warte auf ihn, fragte ich ihn harmlos:
„Wie alt ist deine Mutter?“
„Mhm, ungefähr achtzig.“
„Und wie alt bist du?“
„Also, ich bin 1926 geboren, dann bin ich…“
„Ebenfalls ungefähr achtzig.“
„Mhm – ich weiß schon, ich weiß schon.“
„Deine Mutter ist tot“, sagte ich bedauernd.

Er presste die Lippen aufeinander, nickte mehrmals langsam und erwiderte mit tiefversonnener Miene: „Ich habe es fast befürchtet.“
Es ist einer der Dialoge, die Arno Geiger in seinem Buch „Der alte König in seinem Exil“ (Hanser, München 2011) wiedergibt, mutig in der eigenen Hilflosigkeit und ermutigend für alle, die mit an Demenz erkrankten Menschen Umgang üben. Professionellen und persönlichen.

Das Schwerpunktthema „Demenz“ wurde diesmal anders strukturiert und statt drei Beiträgen mit Experten gibt es ein Interview mit einem Experten: Dr. Jan Sonntag im Gespräch mit Dr. Nicola Nawe und Prof. Dr. Eckhard Weymann. Ein Interview, das ich als ein ebenso ein- wie nachdrückliches Substrat für das Thema Demenz ansehe. In das Interview fließt ein, was Jan Sonntag in seiner gesamten publizistischen Grundlagenarbeit thematisiert (google: jan sonntag demenz): Atmosphären-Schaffung und -Gestaltung als Basis musiktherapeutischer Begleitung von demenziell erkrankten Menschen, integrierend aktuelle Theoriebildungsansätze ebenso wie Hinweise zum Methodenrepertoire.
Die beiden Berichte zum Schwerpunktthema, von der Schweizer Musiktherapeutin Marianne Burkart über ihre Arbeit mit Herrn M. („Ich ha no öpis im Chopf“) und der Pop-Musikergruppe, die mit demenziell Erkrankten von der Musik ausgehend arbeitet, sollen das Interview mit Jan Sonntag durch Perspektiven auf das Erleben dementer Menschen ergänzen. Ein Erleben, auf das wir – sowohl professionelle Therapeutinnen als auch Angehörige als auch angstbesetzt auf eigenes Alter Zugehende – mit der Unruhe weiterbringenden Lernens der Veränderungen reagieren, denen auch wir begegnen könnten als Betroffene von morgen.

Weiterlesen: Editorial

Heft 26 (2014) ist erschienen!

Musiktherapie und Demenz


Unser nächstes Schwerpunktthema ist „Musiktherapie und Demenz“.
Anlässlich der Bedeutung des Themas für uns alle, die wir nicht nur therapieren, sondern auch wegen unserer eigenen „Chancen auf Hochbetagtheit“ (als einem der Gründe für das Leben unter den Bedingungen der Demenz) interessieren müssen, gehen mehrere AutorInnen das Schwerpunktthema aus verschiedenen Perspektiven an: Die Klientel, das Methodeninventar, der Alltag und die Ethik…

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Krankenhaus Martha-Maria, Nürnberg
Christine Back

Praxisvorstellung
Musiktherapeutische Praxis ‚Ritardando‘, Soest
Dorothea Dülberg

Patienteninterview Neurologische Musiktherapie: Wachkoma
Alexandra Takats

Schwerpunktthema
Jan Sonntag im Gespräch mit Nicola Nawe und Eckhard Weymann

Schwerpunktthema II
Marianne Burkart

„Klang & Leben“
Projekt des Popmusikers Rainer Schumann zur musikalischen und rhythmischen Begleitung demenzkranker Menschen

Ausbildung: Fachhochschule Magdeburg
Thomas Schraut

Ausbildung im Ausland: Musiktherapie in der Tschechischen Republik (CZ)
Markéta Gerlichová

Tagungsberichte: „Kulturelle Vielfalt in der musiktherapeutischen Praxis, Ausbildung und Forschung“
Katrin Reinländer

Forschung und Wissen Capriccio celebrale: Singangebote in Gruppen aus Sicht von Singleitern in klinischen Facheinrichtungen
Teil I: Hintergründe und Chancen
Gunter Kreutz/Katja Böhm/Wolfgang Bossinger/Stephen Clift

You must remember this …
Von Londoner Taxifahrern, Großmutterzellen,
Meeresschnecken und alten Hamburgern
Thomas Stegemann

Menschen und Orte: News. Hochschulnachrichten

„A geh – du übertreibst…“
Eine Nach-Lese zum Tod von Professorin Stella Mayr, Wien
Hans-Helmut Decker-Voigt

Buch und Medien

Zum Mitmachen
Mit good vibrations auf dem Weg.
Brabbeln als Psychohygiene, Vibrationen zur Erdung
Selma Suzan Emiroglu

Leserbriefe

Kolumne AufgeMuGt
Hans-Helmut Decker-Voigt

Zum Mitmachen

Musiktherapeutisches im Alltag

Von Selma Suzan Emiroglu

 

Mit good vibrations
auf dem Weg. Brabbeln als
Psychohygiene, Vibrationen
zur Erdung

Auf der Demenzstation verkündet hier eine Frau mit grauen Haaren aufgeregt, dass „sie jetzt unbedingt den Tisch für Papa decken muss“, dort erzählt ein Mann mit verschmitztem Lächeln: „Jabo! Dasosasosa... Lalamaa jo nunaa.“ Betreuungskräfte greifen diese Kommunikationsangebote mit sogenannter Validation auf, das aus dem Lateinischen so viel bedeutet wie „für gültig erklären, wert verleihen“. Dazu gehen sie in wertschätzender Haltung mit Fragen und Kommentaren auf das Gespräch ein. Sie greifen den emotionalen Gehalt der Aussagen und des Verhaltens der Person auf und erklären ihn für gültig, ohne zu analysieren, zu bewerten oder zu korrigieren. Musiktherapeuten machen Ähnliches – vorwiegend nonverbal –, schwingen brabbelnd und musizierend mit, lassen dabei auch schweigende Atmosphären erklingen. Zentral an beiden Konversationen ist die würdevolle Begegnung in Akzeptanz mit allem, das gerade da ist. Der Weg ist das Ziel zum inneren Frieden. Auf diesen Weg lade ich Sie mit den folgenden zwei Praktiken ein: Brabbeln Sie sich selbst in Balance und kommen Sie beim Musizieren über Vibrationen in eine entspannte Präsenz.
Sie brauchen nicht auf Ihre eigene Demenz zu warten, um in den Genuss des oben beschriebenen Brabbelns zu kommen. Auch schon in früheren Jahren können Sie damit experimentieren. Nach anstrengenden Tagen hilft das Brabbeln, um sich wieder ins innere Gleichgewicht zu bringen. Dazu suchen Sie sich ein vertrauensvolles Gegenüber – eine Freundin, Ihren Teddybär oder die geduldige Katze des Nachbarn. Setzen Sie sich gegenüber, richten Sie den Abstand zwischen Ihnen stimmig ein und machen Sie es sich bequem. Nun „berichten“ Sie Ihrem Vertrauenswesen von Ihrem Tag. Aber anstatt sich in ausschweifenden Worten, in Einzelheiten, Urteilen und Assoziationen zu verlieren, brabbeln Sie mit allen auftauchenden Emotionen, was Sie erlebten. Mit Stimmlauten, Silben und Tönen erzählen Sie, was Ihnen durch den Sinn geht: „Blablabla bla blabla blaaaa... !“ Der Zuhörer kann lauschend dabeisitzen, innerlich die gehörte Stimmung mit Farben, Klängen, Gefühlsworten oder Bildern beschreiben oder laut in derselben „Sprache“ mitmusizieren. Zeitsparend können Sie beide sich auch gleichzeitig die persönlichen Erlebnisse erbrabbeln. … Sie brabbeln sich so innere Turbulenzen, Verspannungen und unerwünschte Zustände „vom Leib“ – Sie kommen zu sich. Musikern und Musiktherapeuten dient die Brabbelpraxis zur täglichen Psychohygiene, um die verschiedenen inneren Zustände während der Arbeit wirklich dort zu lassen. Sinnvoller ist es oft, beispielsweise von fremden Stimmungen erst gar nichts mitzunehmen.
Dazu, um bereits während der Arbeit entspannt in Balance zu bleiben, dient die im Folgenden beschriebene Praxis. Sie ist inspiriert durch die Vibrationsübungen von Jonny Soling. Nehmen Sie eine stabile und bequeme Standposition ein und ein Instrument zur Hand. Spüren Sie das Instrument und fangen Sie mit einfachen Tönen an zu spielen, z.B. auf den leeren Saiten auf Streichinstrumenten. Spüren Sie, wie das Instrument vibriert? An welchen Berührungspunkten mit dem Instrumentenkörper spüren Sie ein Kribbeln? … Gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit von einer Kontaktstelle zur nächsten. Wo spüren Sie die Vibrationen stärker, wo schwächer? Gibt es unterschiedliche Kribbelqualitäten, je nachdem, welchen Ton Sie gerade spielen – gröber, feiner, kitzeliger, sanfter, runder, spitzer…? … Als nächstes spielen Sie einen Klang, der deutlich zu spüren ist; bei Streichinstrumenten bietet sich z.B. die leere Doppelsaite der tiefsten Töne an. Wandern Sie mit der Aufmerksamkeit durch Ihren Körper: Kribbelt‘s in den Händen, in den Armen oder im Kopf? Kitzelt es im Bauch oder in den Beinen? Nehmen Sie einfach wahr, was Sie spüren, und bewerten Sie es nicht. Wenn Sie nichts spüren, spüren Sie eben „Nichts“. … Wandern Sie weiter bis Sie schließlich bei den Füßen landen – vibriert es an den Fußsohlen? Unter den Zehen, den Ballen, den Fersen? … Versuchen Sie hier die Kribbelwahrnehmung zu maximieren: Senken Sie dazu die Anstrengung des Spielens, entspannen Sie bewusst einzelne Körperteile und reduzieren Sie auch das „Spürenwollen“ – spüren Sie nun das Kribbeln deutlicher oder anders? … Spielen Sie ein Musikstück, das Ihnen in den Sinn kommt, und spüren Sie den Vibrationen während des Spielens nach. Maximieren Sie die Vibrationen, egal wie es sich anhört – so als wenn taube Zuspürer Ihnen lauschen und nur die Vibrationen „hören“. … Schließlich gehen Sie zur Arbeit und spüren dort während des Musizierens die Vibrationen, v.a. an den Fußsohlen und Daumen. So behalten Sie die Erdung und Präsenz, vor und während Begegnungen, inmitten der vielen Atmosphären – und zaubern nebenbei ästhetisch schöne Klänge.

 

Die Autorin:

Selma Suzan Emiroglu
Geb. 1976. Musiktherapeutin, Physikerin mit Promotion im Bereich Psychoakustik, Folkmusikerin. Derzeit tätig in präventiver musiktherapeutischer Arbeit, u. a. mit einem Seminarangebot zum Pausen-, Arbeits- und Selbstmanagement als Burnout-Prophylaxe.
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Referenzen, Literatur und weiterführende Information:

  • Feil, Naomi (2010): Validation in Anwendung und Beispielen: Der Umgang mit verwirrten alten Menschen. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag.
  • Sonntag, Jan (2013): Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag GmbH.
  • Jonny Soling: www.malungsfolkhogskola.se

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Krankenhaus Martha-Maria, Nürnberg

Von Christine Back

 

Am östlichen Stadtrand Nürnbergs im Stadtteil Erlenstegen liegt direkt am Wald das Krankenhaus Martha-Maria. Am Haupthaus vorbei führt ein Weg in eine große, gepflegte Parkanlage. Die modern gestaltete Eben-Ezer Kirche weist auf den kirchlichen Träger des Krankenhauses hin: Vor 125 Jahren wurde das Krankenhaus von zwei Diakonissen der evangelisch-methodistischen Kirche gegründet. Obwohl es nur noch wenige aktive Ordensschwestern gibt, ist doch der Geist ihrer Idee immer noch auf dem Gelände zu spüren. Auch die Worte im Logo des Krankenhauses „Unternehmen Menschlichkeit“ sollen das zum Ausdruck bringen. Der Kirchenraum wird auf vielfältige Weise genutzt. Hier finden Gottesdienste statt, aber auch öffentliche Gesundheitsvorträge und Konzerte. Daneben dient der Raum auch als Ort der Stille und Besinnung. Im Mutterhaus der Diakonissen im ersten Stock ist in modern renovierten Räumen seit 2009 der Fachbereich Psychosomatik untergebracht. Dieser besteht aus einem Medizinischen Versorgungszentrum mit ambulanten Einzel- und Gruppenangeboten und der Tagesklinik mit 24 Plätzen bzw. drei Gruppen.
Am Eingang befindet sich die Anmeldung, die sowohl für die Patienten als auch für die Mitarbeiter der Knotenpunkt für Organisation und Information ist. Gleich nebenan ist die Teeküche, in der sich die Mitarbeiter in den Pausen treffen. Dort gibt es häufig auch einen kurzen Austausch über die Patienten. Es war von Anfang an ein Grundprinzip des Teams, einen guten Informationsfluss unter den Kollegen aller Berufsgruppen zu ermöglichen. Dazu sind täglich Teambesprechungen festgelegt, in kleinen Gruppen oder im gesamten Team. Außerdem gibt es interne und externe Supervisionsstunden.
Zwischen den Therapieangeboten treffen sich die Patienten der Tagesklinik in einem Aufenthaltsraum mit einer Küche. Daneben gibt es einen Bibliotheksraum und drei weitere Räume, die für Gruppensitzungen und Achtsamkeitsangebote genutzt werden, aber auch zum Rückzug. Weiter gibt es auf der Station Duschen, um sich nach Bewegungsangeboten wieder frisch zu machen. Die Kreativtherapien Musik, Kunst und Körper/Tanz finden in großen eigenen Arbeitsräumen statt.
Für die Einrichtung des Musiktherapie-Raumes hatte ich zu Beginn vom Krankenhaus ein Budget zur Verfügung bekommen, mit dem ich die ersten Instrumente kaufen konnte. Später konnten über Spendengelder weitere, auch größere Instrumente angeschafft werden, wie z.B. eine große Tischtrommel. Dann ist – ebenfalls über eine Spende – ein Klavier dazugekommen. Auch kommt es immer wieder vor, dass Patienten kleinere Instrumente der Klinik schenken. So steht den Patienten mittlerweile ein facettenreiches In­strumentarium zur Verfügung.
Neben den Ärzten, Psychologen und Krankenschwestern arbeiten drei Kreativtherapeutinnen hier. Sie gestalten gemeinsam ein intensives Therapieprogramm auf tiefenpsychologischer Basis. Dazu gehören Gruppentherapien nach unterschiedlichen Methoden: Kunst-, Musik-, Körper- und Tanztherapie, Entspannungs- und Bewegungsangebote, die Genussgruppe, sowie Interaktionsgruppen und die psychodynamische Gruppentherapie. Daneben stehen pro Woche zwei Einzelgespräche auf dem Stundenplan.

Musiktherapie Gruppenangebot
Jedes der drei Kreativverfahren ist mit jeweils zwei Nachmittags-Doppelstunden pro Woche einer Gruppe zugeordnet, was ein intensives, auch prozessorientiertes Arbeiten ermöglicht. Die Indikation erfolgt zum Teil den Bedürfnissen der Patienten entsprechend, oft aber auch „zufällig“. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass gerade Patienten mit Ressentiments schließlich sehr positiv von dem „nicht favorisierten“ Verfahren profitieren, weil sie den Mut hatten, sich auf etwas einzulassen, was sie eigentlich abgelehnt haben. Eine wichtige Erfahrung, wenn es darum geht, lang gewohnte Verhaltenswege ändern zu wollen und etwas Neues zu wagen.

Fallbeispiel 1
Herr T., 49 Jahre, war der „Sonnyboy“ seiner Gruppe: immer ein Scherz auf den Lippen, beflissen bei allen Therapieangeboten, aber auch ein bisschen skeptisch, was eine „Psychotherapie“, geschweige denn „Musiktherapie“ ihm bringen könne. Der Aufenthalt in der Tagesklinik war sein erster Kontakt mit Psychotherapie. Er litt unter Schlafproblemen und den mittlerweile dadurch entstandenen Belastungen wie Antriebslosigkeit, sozia­ler Rückzug, Konzentrationsstörungen, sowie unter Tinnitus, Herzrasen, Unruhe und Erschöpfung. Besonders erschrocken war er, als er zweimal am Steuer einen Sekundenschlaf hatte. Einen Entstehungszusammenhang zwischen seiner Symptomatik und frühkindlichen Ereignissen konnte er sich nicht vorstellen, da seine Kindheit ganz normal und o.k. gewesen sei. So brachte er eigene Themen eher weniger ein, hörte aber bei den Geschichten der anderen Gruppenteilnehmer interessiert zu. Schließlich wurde er immer neugieriger bezüglich seiner eigenen Kindheit. Als ich in einer Gruppensitzung von der Möglichkeit erzählte, dass man in der Musiktherapie eine „Filmmusik“ zu Familienatmosphären improvisieren kann, wurde Herr T. plötzlich sehr ernst und meinte spontan, dass er dies einmal für sich ausprobieren möchte. Die Gruppenteilnehmer sagten ihre Mithilfe zu und Herr T. begann von der Familiensituation seiner ersten Lebensjahre zu erzählen. Dann bestimmte er die Personen als Stellvertreter für Mutter, Vater, seine ältere Schwester und einen für sich. Jeder Spieler konnte nachfragen, wenn zur Person noch etwas unklar war. Dann wurden Instrumente gewählt und die Protagonisten spielten mit den Informationen von Herrn T. aus ihrer Intuition heraus. Bei dieser Improvisation wurde für Herrn T. „hörbar“, dass die Familie von dem Spiel der Mutter dominiert wurde, die sich zum einen beruflich einer Familientradition verpflichtet fühlte und andererseits ein starkes Bedürfnis hatte, auszubrechen. Das Spiel des Vaters war vollständig dem Spiel der Mutter angepasst. Neben dem Spiel der Eltern gab es keinen Platz mehr für das Spiel der Schwester und den Patientenstellvertreter, bei beiden Protagonisten stellte sich ein starkes Einsamkeitsgefühl ein.
Im weiteren Verlauf der Therapie konnte Herr T. seine Psychodynamik immer besser verstehen. Er spürte, wie er seine Einsamkeitsgefühle kompensiert hatte, indem er sich, wie der Vater, der Mutter unterordnete und schon bald im elterlichen Familienbetrieb Arbeiten übernahm. Die fehlende Aufmerksamkeit und Anerkennung durch die Eltern in der Familie holte er sich im Betrieb durch seine große Zuverlässigkeit und Leistungsbereitschaft. In der aktuellen Krise forderte ein Arbeitsplatzwechsel ihn zu mehr Selbständigkeit heraus. Zusammen mit den noch immer zu erfüllenden Anforderungen der noch lebenden Mutter war dies stark angstbesetzt und für ihn auch nicht gleichzeitig zu schaffen. Dieser Konflikt raubte ihm buchstäblich den Schlaf.

Musiktherapie – wichtiges Element in einem multi­professionellenTeam
Die Kreativtherapien sind im Team geschätzt, da der Zugang zu unbewussten Vorgängen dort oft unmittelbarer erfolgt als in Gesprächen. In der verbalen Kommunikation haben die Patienten oft über Jahre Floskeln eintrainiert, die sie schützen oder stabilisieren. Das nicht vertraute Tun z.B. an Instrumenten weicht solche Strategien auf und lässt den Blick auf Verdrängtes frei werden. Zudem ist das Erleben in den Kreativverfahren fast immer an ein emotionales Geschehen gekoppelt, was die Intensität der Erfahrung und die Möglichkeit der Integration erhöht. Das Probe-Handeln fördert das Zutrauen, Veränderungswünsche auch tatsächlich umzusetzen.
Musiktherapie im Einzelsetting
Als Kreativtherapeutin arbeite ich in der Tagesklinik nicht nur im Gruppensetting, sondern betreue pro Gruppe drei Patienten als Einzeltherapeutin. Hier bin ich für die Anam­nese-Erhebung zu Beginn und für die Besprechung der Entlassung am Ende der Therapie zuständig. Im Therapieverlauf sollen die Einzelsitzungen helfen, die Erfahrungen und Prozesse der Patienten zu bündeln, zu reflektieren, zu bearbeiten und zu integrieren. Auch hier nutze ich musiktherapeutische Möglichkeiten. Bei der Anamnese bringt z.B. eine Aufstellung der wichtigsten Familienmitglieder mit Instrumenten oft einen raschen Blick auf die Beziehungssituation. Oder ein stockender Prozess kann in der Einzeltherapie intensiv in den Fokus gestellt werden.

Fallbeispiel 2
Die 38jährige Frau H. kam während ihres Tagesklinik-Aufenthaltes sowohl in die Gruppe als auch in eine Einzeltherapie zu mir. Sie hatte während einer psychischen Krise stark an Gewicht verloren und bereits einen längeren Psychotherapieweg hinter sich.
In den Gruppen war die jugendlich wirkende Frau still, aber zuverlässig dabei. Die Essstörung war äußerlich nicht sofort erkennbar, die Patientin wirkte gar nicht so krank. Im musikalischen Tun war dies eher spürbar, wenn sie nur mit den Fingerspitzen zaghaft Kontakt zum Fell einer Trommel suchte, mit der knöcherigen Faust den Gong spielte und keinen Schmerz dabei fühlte. In der Einzeltherapie sprach sie offen über ihr Ess­problem und zeigte sich sehr motiviert. Als sie in den ersten 14 Tagen erneut Gewicht verlor, wurden im Behandlungsplan zwei Termine in der Woche zum Wiegen und parallel zwei hälftige Einzeltermine festgelegt. Die Patientin blieb engagiert, sie wolle ja etwas ändern. Während sie körperlich Gewicht verlor, füllte sie die Einzelsitzungen mit immer mehr Themen, bombardierte mich förmlich mit einer „Katastrophe“ nach der anderen, so dass ich mich zunehmend hilf- und atemlos fühlte. Und vor allen Dingen: Wir kamen nicht zum Musizieren. Durch das Reden kontrollierte die Patientin die Sitzungen und mich.
Schließlich startete ich eine Einzelstunde mit dem Satz „Heute beginnen wir mit Musik, ich habe Lust, mit Ihnen zu musizieren“. Frau H. stutzte, sie habe doch so viel zu erzählen, aber – sie hatte doch auch ein Stück Vertrauen zu mir entwickelt – ok, sie mache schon mit. Sie wählte das Metallophon, ich eine Dschjembe. Unsere Musik begann. Unsere Musik? Nein, das, was entstand, war kein gemeinsames Stück. Die Patientin spielte „ihr Ding“ und reagierte auf kein An- oder Zuspiel. Es gab keine Pause, keine Lücke, in der ich zu ihr hätte vordringen können.
Als wir beide mit dem Spielen aufhörten, schien sie ganz zufrieden. Ich aber konfrontierte sie mit der Beziehungslosigkeit im Spiel und benannte mein Gefühl des Ausgeschlossen-Seins. Frau H. schien betroffen und ich schlug eine zweite Improvisation vor mit der Einladung, beim Spielen ein Miteinander entstehen zu lassen. Auf der Ebene von gegenseitigem Vor- und Nachspielen gelang eine erste zaghafte, wenn auch angepasste Form einer Beziehungsaufnahme. Und es gab ein paar kleine Momente von Lust, von Spaß am gemeinsamen Klang.
In den nächsten Einzelsitzungen gab es dann noch mehr Improvisationen, um „Beziehung“ reflektieren, ausprobieren und üben zu können. Beim gemeinsamen Spiel am Klavier – sie im oberen Bereich – konnte sie Ängste und Unsicherheitsgefühle bei Kontakt aussprechen. Bot ich ihr eine haltgebende Begleitung an, konnte sie sich mehr zutrauen. Bei einer Improvisation begann sie auf die Tasten zu schlagen. Als ich mitging, erlaubte sie sich mehr und mehr Lautstärke. Das Spiel wurde wütender, verwandelte sich dann aber allmählich in ein kraft- und lustvolles Tun. Die Patientin fühlte sich entlastet. Wie könne das Spiel ohne die alte Last nun weiter klingen, fragte ich? Sie begann eine Melodie aufwärts zu spielen, eng gehalten in Halbtonschritten, wie sich an den Tasten festhaltend. Ich ging zunächst mit und begann dann vorsichtig den Raum, auch mit Halbtonschritten nach unten zu öffnen. Damit wurde der Platz frei für ihre zweite Hand am Klavier. Vorsichtig probierte sich die Patientin aus, erforschte die Möglichkeiten am Instrument und eröffnete sich neue Räume für eigene Wünsche.
In der Rückschau war die oben erwähnte erste Improvisation ein Schlüsselmoment in der Therapie von Frau H., mit der sie ihre Beziehungslosigkeit einerseits und die mögliche Freude am zwischenmenschlichen Kontakt andererseits emotional direkt spüren konnte. Nach dieser Stunde war Frau H. im gesamten Therapieprozess zunehmend offener und kontaktfreudiger, was ihr zum Teil auch in ihren Außenbeziehungen gelang.

Musiktherapie – Ressource und Kreativität
An jedem Freitag gibt es für die Tagesklinikpatienten ein offenes Kreativangebot. Hier wird eher ressourcenorientiert gearbeitet, damit die Patienten stabil in das Wochenende gehen können.
In der Musiktherapie wünschen sich die Patienten hier oft ein entspannendes Klangangebot. Ich wähle dafür meist zarte Klänge, z.B. mit einem Zaphir Klangspiel oder ein Für-Spiel am Monochord. Oft improvisiere ich dann auch mit der Stimme dazu oder intoniere ein Lied darüber. Aber auch kraftvolle Aktionen mit Trommeln oder an der Tischtrommel sowie gemeinsames Singen werden geschätzt.
Die Kreativtherapeuten sind auch für die Koordination des Abschiedsrituals zuständig. Am Entlassungstag gibt es für alle Patienten eine Feierstunde, die von den gehenden Patienten organisiert wird. Hier wird immer wieder deutlich, wie sich die kreativen Kräfte des Einzelnen und der Gruppe deutlich wahrnehmbar neu konstituiert haben. Das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten ist wiederbelebt, und je nach Verfahren steht eine Kunstausstellung, eine musikalische Darbietung oder eine Tanzpräsentation auf dem Programm. Diese erlebbare Veränderung ist für die bleibenden Patienten oft eine große Motivation, selbst „dran zu bleiben“. Und für mich als Musiktherapeutin ist in diesen Momenten zu sehen, dass Kreativverfahren in einem psychosomatischen Behandlungskonzept für die Patienten eine große Bereicherung sind.

Die Autorin:

Christine Back
Selbständige Musikerin
Langjährige Studiotätigkeit
als Komponistin
Berufsbegleitende Ausbildung
zur Musiktherapeutin am FMZ
Musiktherapeutin DMtG, HPG
div. Dozententätigkeiten
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Quellen:

Angaben zur Klinik:

Krankenhaus Martha-Maria,
Nürnberg
Klinik für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie
Stadenstraße 64 A
90491 Nürnberg