Heft 40 (2021) ist erschienen!

Therapeutische Beziehung und Musiktherapie

Unser aktuelles MuG-Thema der „Therapeutischen Beziehung“ ist eigentlich das dauerhaftest aktuelle Thema schlechthin – und für alle künstlerischen und verbalen Psychotherapien geltend.

Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

Das Summen in besonderen Zeiten
Wer hätte es je für möglich gehalten, dass uns das Singen einmal verboten werden könnte?! Was in totalitären Systemen wie dem Iran und Afghanistan schon lange praktiziert wird, hat ein unfassbar kleiner Virus nun auch bei uns zustande gebracht: Das per se Immunkräfte stimulierende und stimmungsaufhellende Singen wurde dämonisiert und gesetzlich verboten. Wenngleich es unterschiedliche Hintergründe für das Singverbot gibt, sind doch die sozialen und gesundheitspsychologischen Auswirkungen nicht weniger gravierend.
Inzwischen weiß jedes Kind, was es mit der Ausbreitung von „Aerosolen“ auf sich hat, ein Wort, das bis letztes Jahr nur eingeweihte Spezialisten in den Mund nahmen. In dieser bedrohlichen Situation des Lockdown besannen sich einige Musiktherapeut*innen auf das Summen als Ersatz für das Singen. Was anfangs eine Notlösung darstellte, führte zur Wiederentdeckung und neuen Wertschätzung der heilsamen Wirkungen des Summens. Ganz nebenbei: Beim Summen werden erheblich weniger Aerosole verbreitet, als beim konsonantenreichen Sprechen.
Das Summen ist uralt, es stammt vermutlich noch aus der Horden-Zeit des Säugetiers Mensch und diente der kollektiven Besänftigung. Summen muss nicht gelernt werden, es steht uns zur Verfügung als intuitive Heilreaktion, z.B. wenn jemand sich verletzt hat, auch zur Selbstberuhigung, es ist Selbstfürsorge im ursprünglichsten Sinne.
Da die nervöse Versorgung der Kehlkopfmuskulatur durch Äste des nervus vagus erfolgt (nervus laryngeus recurrens und superior), führt die Vibration der Stimmlippen beim Summen zu einer Stimulation des Vagus-Nervs, der wiederum für Beruhigung im Vegetativen Nervensystem zuständig ist. Summen ist psychophysiologisch gesehen die effektivste Form der Selbstberuhigung, die es gibt. Und: Das Summen holt Sie ganz in den Moment, es lockt Sie heraus aus Gedankenspiralen und unangenehmen Gefühlen, es verführt Sie fast unmerklich in eine sanfte, sich selbst gegenüber wohlwollende Stimmung hinein. Wer ärgerlich oder aggressiv ist, kann nicht summen – versuchen Sie dies doch einmal…

Einladung zu einer kleinen Summ-Übungssequenz
Gönnen Sie sich für diese Übungssequenz etwa fünfzehn Minuten Zeit. Und legen Sie sich etwas zum Schreiben und Malen bereit.
–– Setzen Sie sich entspannt und aufrecht hin oder besser noch führen Sie diese Sequenz im Stehen durch. Ob in einem Raum, in dem Sie ungestört sind, im Garten oder an einem schönen Platz in der Natur… das entscheiden Sie.
–– Lassen Sie ganz mühelos einen Summton entstehen und spüren Sie dabei, an welcher Stelle Ihres Körpers dieser entspringt, wo in Ihnen er seine Quelle hat.
–– Legen Sie eine Hand an die Stelle, wo Sie die Vibrationen dieses Summtones ertasten können.
–– Folgen Sie den Bewegungsimpulsen, die durch das Summen entstehen, lassen Sie sich von ihrem Summen zu Bewegungen einladen.
–– Indem Sie allmählich höher oder tiefer summen, lassen Sie Ihren Summton hinauf und hinunter wandern in Ihrem Körper. Achten Sie darauf, dass es weiterhin mühelos bleibt, ohne irgendetwas zu wollen und zu müssen, es ist eher ein neugierig staunendes, klangliches Erkunden.
–– Schauen Sie dem Summklang innerlich zu, wie er sich ausbreitet, entdecken Sie, wie hell oder dunkel, wie farbig, wie weich oder fest, wie warm oder kühl … er ist und wie er sich immer wieder wandelt auf seinem Weg durch Ihren Körperinnenraum. Stellen Sie sich vor, wie der Summklang in Ihre Hände wandert, in Ihre Füße, in Ihren Bauch oder ins Herz.
–– Schicken Sie ihn summend in einen Körperbereich, dem diese Art der Zuwendung in diesem Augenblick besonders wohl tut. Vielleicht meldet sich eine Körperstelle, die gerade schmerzt oder sich fest, eng, unruhig, angestrengt … anfühlt. Gönnen Sie dieser Stelle eine sanfte Klangmassage von innen bei gleichzeitiger Berührung mit Ihren Händen von außen. Diese Art der liebevollen Selbstzuwendung ist eine der wirksamsten Heilmethoden, die wir Menschen jederzeit und kostenfrei zur Verfügung haben.
–– Vielleicht möchte das Summen sich allmählich ganz von alleine zu einem freien Tönen entfalten? Finden Sie heraus, welcher Vokalklang die jeweilige Körperstelle, der Sie sich zuwenden, am besten durchströmen und berühren kann in der ihr innewohnenden Selbstheilungsbereitschaft.
Probieren Sie aus, welcher der Vokale, ob ein sanft tönendes „aaa…“, „eee…“, „iii…“, „ooo…“, „uuu…“, „äää…“, „ööö…“ oder „üüü…“ diese Körperstelle von innen her am besten erreicht.
–– Bewegen Sie sich nun von Ihrem Platz weg und gehen Sie summend/tönend umher. Erkunden Sie, wie unterschiedlich Ihr Summen/Tönen an verschiedenen Stellen des Raumes, des Gartens, des Naturortes, an dem Sie sich befinden, klingt. Experimentieren Sie mit Resonanzen, die an bestimmten Stellen hörbar werden. Schenken Sie einer Pflanze, einer Blüte, einem Baum, einem Stein … eine summende/tönende Berührung.
–– Lauschen Sie umgekehrt auf die Klänge, die der Berührung eines Objekts, einer Pflanze, eines beseelten Naturwesens entspringen, lassen Sie sich von dem haptischen Kontakt inspirieren. Machen Sie diese Begegnung hörbar, lauschen Sie auf das, was sie in Ihnen anklingen lässt. Finden Sie eine resonanzreiche Stelle dort, wo Sie sich befinden, an der es völlig mühelos besonders intensiv klingt. Nehmen Sie wahr, wie das Summen/Tönen/Singen sowohl in Ihrem Körperinnenraum, als auch im Außenraum gleichzeitig erklingt. Entdecken Sie, wie Ihre Klänge eine Brücke bauen zwischen innen und außen, außen und innen; zwischen der Natur, die Sie sind und der Natur, die sie umgibt.
–– Wenn das Summen/Tönen/Singen von alleine aufhören möchte, halten Sie einen Moment inne, lauschen Sie in die klangvolle Stille hinein und spüren Sie nach – staunend, neugierig, ohne zu bewerten: Wie geht es mir jetzt? Wie hat sich meine Stimmung gewandelt? Wie hat sich mein Körpergefühl verändert? Wo sind meine Gedanken abgeblieben?
–– Malen Sie im Nachklang dieser Erfahrung, wenn Sie mögen. Schreiben Sie Ihre Entdeckungen, Ihre Gefühle, Ihre Empfindungen, Ihre Körperwahrnehmungen auf. Es mag sein, dass auch ein Gedicht entstehen möchte. Vielleicht mögen Sie im Anschluss eine vertraute Person an dieser Summ-Selbst- und Naturbegegnung teilhaben lassen?

Das folgende Gedicht schrieb eine Teilnehmerin in einem meiner Naturerfahrungs-Seminare vor vielen Jahren nach einer vergleichbaren Stimmbegegnung mit der Natur:
Lausche, Liebes
unter den Wassern singt es
wie in dir –
zu allen Zeiten schon ist dein Gesang.
Stimme ein, Liebes
es gibt nur das Eine
in Allem.
Erzähle du, Liebes
von dem Namenlosen,
sei ganz sein Klang.
Ich singe mich mir nah
ich singe mich dir nah
bis innen Raum,
da löst sich auf die Form
in Klang
wird weit und schwingt
zum endlos aus.
Sabine Peter, 2004

Die Autorin:
Sabine Rittner ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin,Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und
körperorientierter Therapie. Sie ist tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Musiktherapieforschung), sowie in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching). Seit mehr als 40 Jahren leitet sie Seminare, bildet aus und hält Vorträge weltweit. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie. Weitere Informationen:
www.SabineRittner.de

Literaturtipps:
Rittner, S. (2006). Hilfe zur Selbsthilfe: Kleine Hilfen mit Atem, Stimme, Körper. Der Gesang der heilsamen Muster. Musik und Gesundsein 11, S. 28. (Dies war eine Anleitung von mir in der MuG zur tönenden Selbstbehandlung mit Berührung und Vokalklängen).
Rittner, S. (2021). Vokale Musiktherapie. In: Decker-Voigt et al. (Hrg.), Lexikon Musiktherapie. Göttingen: Hogrefe. (Fachinformationen zu den Wirkungen des Summens/Singens).
Goldman, J., & Goldman, A. (2019). Heilsames Summen. Klangmassage für Körper und Seele. Murnau: Mankau-Verlag.
Henderson, J. (2007). Das Buch vom Summen. The Hum Book. Bielefeld: AJZ Druck & Verlag. (Übungsanleitungen und Geschichten zum Summen aus dem Zapchen).
Hammer, C. (2019). Im Körper zu Hause sein. Mit Zapchen Somatics zu Leichtigkeit und Wohlbefinden. Heidelberg: Carl Auer. (Einige Anregungen zum Summen nach Julie Henderson ab S. 67).

Schwerpunktthema I

Entwicklung und Einschätzung der zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit

Von Karin Schumacher

Beziehungsfähigkeit
Die Fähigkeit zu sich selbst, seinem Körper, der eigenen Stimme, zu Gegenständen, wie z.B. Musikinstrumenten, Beziehung herstellen zu können.
All dies wie auch das Bewusstwerden, Urheber eigener Handlungen zu sein, ist nur durch den „Anderen“, einen anderen Menschen möglich. Nur
durch die positive Erfahrung von den wichtigsten Bezugspersonen, meist zunächst die Eltern, geliebt, feinfühlig wahrgenommen und verstanden
zu werden, kann sich die zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit entfalten. Eine Beziehung herstellen zu können, gehört zur angeborenen Ausstattung eines Menschen und meint vor allem die Fähigkeit, emotional stimmig aufeinander zu reagieren. Der Säuglingsforscher Daniel N. Stern hat 1985 sein weltweit beachtetes Buch: „The Interpersonal World of the Infant“ veröffentlicht. Stern fokussierte bei seinen Beobachtungen nicht den Säugling an sich, sondern die Entwicklung des Erlebens seiner Beziehung zum „Anderen“, nach der Geburt meist zur Mutter. Als Grundlage seiner Forschung diente ihm die Videographie, die eine wiederholbare Analyse in Zeitlupe ermöglichte. Sein Entwicklungsmodell, das die Themen der vorsprachlichen Zeit beschreibt, stellt die „Selbstentwicklung“ des Menschen in Bezug zum Anderen in den Mittelpunkt: Das Auftauchen des Selbstgefühls als Basis der sich langsam entwickelnden zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit. Um sich selbst als eigenständig handelnde Person wahrnehmen zu können, braucht es die Erfahrung vom Anderen wahrgenommen und „feinfühlig“ behandelt zu werden. Mary Ainsworth definierte diese Fähigkeit, jemandem feinfühlig zu begegnen, mit folgenden Eigenschaften: Feinfühligkeit meint die Fähigkeit, Signale des Kindes richtig wahrzunehmen und zu interpretieren, und wenn dieses Verständnis vorhanden ist, auf sie angemessen und prompt zu reagieren (Ainsworth,1977). Wir sehen, wie viele Störungsmöglichkeiten hier schon gegeben sind. Wer nimmt schon wirklich wahr? Die Zeit, die dazu nötig ist, ist oft nicht gegeben, und die Aufgaben des Tages oder eigene Probleme vernachlässigen den Säugling. Die Missverständnisse, die sich zwischen Kind und Bezugsperson auftun können, führen u.U. zu chronischen Interaktionsstörungen, die Symptome wie Schreien und das Nicht-beruhigen- Können zur Folge haben. Ist das feinfühlige Eingehen auf einen Säugling schon beim regelhaft entwickelten Kind nicht einfach, so kann man sich vorstellen, wie schwierig dies bei einem Kind mit Autismus ist.

Autismus aus entwicklungspsychologischer Sicht
Sehen wir die Fähigkeit sich und den Anderen wahrzunehmen als Basis zwischenmenschlicher Beziehungsfähigkeit an, so fragen wir uns, welche Erfahrungen ein Kind mit Autismus, das an einer Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit leidet, in seiner frühesten Kindheit versäumt hat. Symptome wie fehlender Blickkontakt, kein Austausch emotionaler Zustände oft verbunden mit der Schwierigkeit, sich körperlich berühren und affektiv beruhigen zu lassen, verursachen bei den Bezugspersonen große Verunsicherung. Vom eigenen neugeborenen Kind scheinbar nicht wahrgenommen zu werden, stellt eine seelische Verletzung dar, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann und die deshalb auch oft „übersehen“ wird. Die Eltern können noch so feinfühlig auf ihr Kind reagieren, dem Kind fehlt die Wahrnehmungsfähigkeit, diese Zuwendung „für wahr zu nehmen“. Eine der Hypothesen dieser qualitativen Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit (ICD 11) ist eine Wahrnehmungsverarbeitungsstörung (Dinstein, 2012).
Der gestörte Blickkontakt, die Scheu, sich körperlich berühren zu lassen sowie ein verringertes Schmerzempfinden werden auf die Unfähigkeit, Sinneseindrücke richtig einzuordnen, mit früheren Erfahrungen zu verbinden und sie sinnvoll zu integrieren zurückgeführt. Diese Symptome haben enorme Auswirkungen auf die sozio-emotionale Entwicklung. Dem Säugling fehlt die ständige Rückkoppelung seiner affektiven Zustände,
der emotionale Austausch, der sich so deutlich schon im zweiten bis dritten Lebensmonat zeigt und den D. Stern als sogenannte „Vitalitätsaffekte“ beschreibt, fehlt. Vitalitätsaffekte treten vor allem durch den Blickkontakt, also in der Begegnung mit einem anderen Menschen in Erscheinung. Sie erzeugen eine Erlebnisqualität, die zwar flüchtig, aber von hoher Intensität ist. Vitalitätsaffekte sind ganzkörperlich spürbar, mimisch sichtbar und lautlich hörbar. Fehlen sie, so wird dies eine Störung bzw. Verzögerung der sozio-emotionalen Entwicklung zur Folge haben. Diese vermutete Wahrnehmungsverarbeitungsstörung hat eine zentrale Auswirkung auf das Körperempfinden, die sogenannte Propriozeption, die Körpereigenwahrnehmung.

Musiktherapie bei Kindern mit Autismus
Der Musikbegriff, der in dieser Arbeit verwendet wird, orientiert sich an Carl Orffs Definition der „Elementaren Musik“. Musik, Bewegung und rhythmisierte Sprache, wie wir sie z.B. im Kinderreim wiederfinden, sind unmittelbar miteinander verbunden.
Modellhaft stehen die sogenannten ersten Mutter-Kind-Spiele für improvisierte, vom Kind ausgehend entwickelte Spielformen im Zentrum. Musikinstrumente werden so ausgewählt und gespielt, dass sie dem kindlichen Ausdrucksvermögen entsprechen. Musik soll aus dem Kind „herausgeholt“ werden, da jeder Mensch, auch das Kind mit Autismus, pränatal so geprägt ist, dass es Rhythmus, Klang, Dynamik bereits in Verbindung mit Bewegung erlebt hat und somit wiedererkennen kann.
Folgende Entwicklungsthemen, die an das Stern’sche Entwicklungskonzept angelehnt sind, dienen als Orientierung musiktherapeutischer Diagnostik und methodischer Vorgehensweise (Interventionen).
Funktionen der Musik werden in der musiktherapeutischen Arbeit angewandt. Die Nummerierung 0-6 entspricht den Beziehungsqualitäten, die
im Folgenden ausgeführt werden.

0. Musik führt aus der Isolation – wirkt atmosphärisch
Musik hat eine einzigartige Eigenschaft: Sie kann uns berühren, ohne dass wir scheinbar etwas tun müssen, ohne dass uns jemand anfasst, ohne
dass wir einer gestellten Aufgabe folgen. Musik als atmosphärische Veränderung macht auf sich aufmerksam, ohne dass der Mensch dahinter, der sie spielt, auftauchen und erkannt werden muss. Lässt sich das Kind durch die für es improvisierte Musik berühren, wird es dadurch aus der Isolation herausgeführt. Musik und Kind stehen in Verbindung. Die zwischenmenschliche Verbindung spielt noch keine Rolle. Die Therapeutin versucht bewusst nicht auf sich aufmerksam zu machen, es ist die von ihr gespielte Musik, die wirken soll. Wir brauchen keine verbalen Aufforderungen, kein verbal ausgesprochenes Lob. Die Musik akzeptiert das „So-sein“ des Kindes (Schumacher, 2017).

1. Musik als multisensorisches Medium – führt die Sinne zusammen
Tiefgreifend entwicklungsgestörte Kinder, die meist ohne sprachliche Ausdrucksmöglichkeit seelisch isoliert sind, entwickeln stereoytpye Bewegungen, sie stimulieren sich selbst. Diese Selbststimulation kann durch eine Stärkung eines kohärenteren Körpergefühls reduziert werden. Der eigene Körper muss gespürt und erlebt werden. Das musikalische Material sind das Wiegen- und Schaukellied, später Kniereiter und Klanggestenspiel. Das Kind muss nichts nachmachen, nichts Neues erlernen, sondern dieses musikalisch begleitete Bewegtwerden nur zulassen. Sollte sich das Kind nicht anfassen lassen, da auch der taktile Reiz nicht sinngebend verarbeitet werden kann, helfen Decke, Trampolin oder Hängematte, um die Propriozeption, das Körpereigengewicht, erlebbar zu machen.
Musik, meist in Form gesungener Melodien, begleitet synchron den Rhythmus der Bewegung und hilft, das Bewegt- und Berührt-werden zuzulassen. Sie balanciert Nähe und Distanz und hilft, dieses Beziehungsangebot auch zeitlich zu gestalten.
Das aktive Musikmachen führt immer mehr als zwei Sinne zusammen. Es bringt sozusagen das Erfahrene auf den Punkt und führt so zu Momenten der Synchronisation (Schumacher/Calvet in: Decker-Voigt et al., 2021).

2. Musik aktiviert Gefühle – reguliert die Affekte
Neben dieser Arbeit, die Welt mit allen Sinnen zu erfassen und zu verarbeiten, ist jedes Kind von starken Gefühlen gebeutelt. Kinder mit Autismus, die sich oft nicht beruhigen lassen, sind ihren überflutenden Affekten ausgeliefert. Diese können zu selbstverletzendem Verhalten führen. Hinzu kommt eine oft fehlende Sprachentwicklung. Musikinstrumente, die eine hohe Intensität und eine breite dynamische Spielweise erlauben, bieten hier eine Ausdrucksmöglichkeit. Das genaue Erfassen, Abstimmen sowie Mitvollziehen der Intensität des kindlichen Ausdrucks ermöglicht ein gemeinsames Gefühlserleben. Diese Intervention nennen wir „Affektabstimmung“, die mit einer formgebenden Idee, der sog. „Affektgestaltung“, verbunden wird. Eine Spielform, die die Intensität erfasst und die hohe Affekte gestalterisch formt.

3. Musik unterstützt das Selbsterleben – die Selbstwirksamkeit
Imitiert die Therapeutin die stimmlichen wie instrumentalen Äußerungen des Kindes und hilft auch hier, gestalterische Ideen einzubringen, werden dem Kind seine eigenen oft zaghaften oder auch stereotypen Äußerungen bewusst gemacht. Es erkennt sich im Spiel des Anderen, der noch keine eigenen Ideen einbringt, sondern ganz an den Motiven des Kindes angelehnt mitspielt. Auch das stille, aufmerksame Zuhören, das konzentrierte Mitverfolgen der ersten Explorationen des Kindes würde ausreichen, dem Kind ein Bewusstsein seiner Handlungen und Äußerungen erlebbar zu machen. Dieses aufmerksame Dabeisein – D. Stern nennt dies „being in the presence of another“ – eröffnet dem Kind einen Spielraum, in dem es sich selbst als Urheber seiner musikalischen Äußerungen erleben kann.

4. Musik führt zur „Joint Attention“ – Intersubjektivität
Erst wenn das Kind genügend ausprobieren durfte, seinen neu angeworfenen Spieltrieb entdeckt, wird sich die Idee des Zusammenspielens einstellen. Die Therapeutin kann nun neben einem stützenden Umspielen auch erste eigene Ideen einbringen. Lässt das Kind dies zu, ohne den Kontakt abzubrechen, wird es entdecken, dass hier der „Andere“ als Gegenüber auftaucht, der nun eigene Ideen einbringt und das Gefühl von Gemeinsamkeit entstehen lässt.

5. Musik als nonverbaler Dialog – die zur Sprache führen kann
Der musikalische Dialog ist in frühester Kindheit schon angelegt und zwischen Säugling und Bezugspersonen zu erahnen. Das regelhaft entwickelte Kind sucht nach Kontakt und emotionalem Austausch. Das Kind wird die Stimmung, die sich hinter den Worten der Bezugspersonen verbirgt, verstehen und sich auf diese Weise verstanden fühlen. Mit musikalischen Mitteln, wie der Stimme und leicht spielbaren Musikinstrumenten, die ohne Übung Klänge, Rhythmen hervorbringen können, können wir musikalische und damit emotionale Austauschprozesse
herauslocken. Fehlt jedoch wie beim Kind mit Autismus diese Bezogenheit, dieses Reagieren auf den Anderen, wird man auf die bisher beschriebenen Interventionen zurückgreifen. Denn nur wenn wir das Kind dort abholen, wo es wirklich reagieren kann, werden wir es erreichen.

6. Musik ermöglicht Spielfreude – „Interaffektivität“
Die Fähigkeit spielen zu können, wird leider oft nicht genügend beachtet. Dabei ist es die Tätigkeit des Kindes, durch die es lernt. Was bedeutet spielen können? Gerade das Zweckfreie, das scheinbar Ziellose, das sich Vertiefen in das Erkunden, das Bewusstwerden der eigenen Tätigkeit, kennzeichnen das Spiel. Musik verleitet zum Spielen, wenn man der freien musikalischen Äußerung Raum gibt. Nicht gleich angeleitet zu werden, nicht gleich besser spielen müssen, sondern Wertschätzung zu erleben für das, was aus einem Kind „heraustönt“. Hat ein Kind dies oft genug erlebt, wird es das Zusammenspiel genießen. Sich gegenseitig durch neue Ideen anregen, aufeinander reagieren, schaukelt positive Gefühle hoch, die zum Empfinden geteilter Freude führen können. Diese Freude lässt sich nicht einüben, sie wird sich ereignen. „Interaffektivität“ nennt D. Stern diesen Zustand und beschreibt ihn wie folgt: Es handelt sich um eine „Entsprechung, die zwischen dem eigenen, innerlich erlebten Gefühlszustand und dem Gefühlszustand, den man an oder in einer anderen Person beobachtet“ (Stern 1992, S. 19) hergestellt wird. Dieses Erleben geteilter Empfindungen, wie sie das gemeinsam erlebte musikalische Spiel besonders gut ermöglicht, sei das „Sprungbrett“ zur Sprache.

Das EBQ-Instrument zur Einschätzung der Beziehungsqualität
Ist die „dauerhafte Einschränkungen der Initiierung und Aufrechterhaltung von sozialer Interaktion“ eines der Hauptsymptome des Autismus (ICD11), so muss eine therapeutische Maßnahme darauf abzielen, die soziale Interaktionsfähigkeit zu verbessern. Um einen Wirkungsnachweis der oben beschriebenen Interventionen zu erbringen, hat die Autorin in Zusammenarbeit mit der Entwicklungspsychologin Claudine Calvet das sogenannte EBQ-Instrument entwickelt. Die Einschätzung der Beziehungsqualität erfolgt mithilfe von an der Selbstentwicklung Sterns orientierten Beobachtungsmerkmalen (Schumacher/Calvet/Reimer, 2013). Der Modus, d.h. die Art und Weise, wie sich ein Kind körperlich-emotional, stimmlich-vorsprachlich und instrumental äußert, wird den Interventionen der Therapeutin gegenübergestellt. Nur wenn der Modus des Kindes mit dem der Therapeutin übereinstimmt, wird Kontakt entstehen und damit ein positiver Verlauf zu erwarten sein. Die sieben Modi sind hier im Überblick dargestellt und entsprechen den oben dargestellten Funktionen der Musik. Es hilft sowohl das Entwicklungsalter, das nicht dem Lebensalter entsprechen muss, einzuschätzen wie auch die therapeutische Intervention, die den Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigen
sollte, zu überprüfen. Es ist ein Beobachtungs- und Einschätzungsinstrument, das nicht nur das Kind, sondern auch die Therapeutin und ihre Interventionen fokussiert. Somit dient es vor allem auch der Verbesserung musiktherapeutischer Arbeit.

Modus 0 Kontaktlosigkeit/Kontaktabwehr
Modus 1 sensorischer Kontakt/Kontakt-Reaktion
Modus 2 funktionalisierender Kontakt
Modus 3 Kontakt zu sich Selbst/Selbsterleben
Modus 4 Kontakt zum Anderen/Intersubjektivität
Modus 5 Beziehung zum Anderen/Interaktivität
Modus 6 Begegnung/Interaffektivität

Jeder Modus ist ein Universum, denn menschliches Verhalten auf bestimmte Merkmale zu reduzieren und „einzuschätzen“, ist ein sehr komplexes Unterfangen.
Über 30 Jahre haben die Entwicklungspsychologin C. Calvet und die Autorin versucht, die wesentlichen Themen der Entwicklung von Kindern mit Autismus zu erfassen und im musiktherapeutischen Kontext zu studieren, zu klassifizieren und genau zu beschreiben. Die Videographie hat hierbei eine zentrale Rolle gespielt.
Sie erlaubt, mehr als die Erinnerung, als nur die Musik wiederzugeben und zeigt das mimisch-gestisch-körperliche, das räumliche Geschehen und lässt vor allem auch die Einschätzung während der Therapie nicht anwesender Personen zu. Wie oft erinnern wir eine Situation anders, als sie dann auf dem Video sicht- und hörbar wird? Die Videographie – so eingreifend sie in die Intimität einer therapeutischen Arbeit ist – ist ein sehr guter Lehrmeister und eine große Hilfe für die Zusammenarbeit mit den Eltern. Die Anwendung des EBQ-Instruments zeigt, ob ein Kind in seinem Entwicklungsstand falsch eingeschätzt wird. Gerade bei einer noch nicht entwickelten joint attention lösen Aufforderungen wie „schau her, mach mit“ Stressreaktionen aus. Wesentlich ist daher die Frage, ob die musiktherapeutische Intervention dem kindlichen Entwicklungsstand entspricht. Denn nur dann kann eine Begegnung stattfinden. Das Besondere der oben unter Modus 0–4 beschriebenen musiktherapeutischen Interventionen ist, dass die Fähigkeit des Mit- und Nachmachens noch nicht entwickelt sein muss, um eine konstruktive therapeutische Einflussnahme zu erreichen. Da es kaum andere Therapieverfahren gibt, die auf die Fähigkeit des Mit- und Nachmachens verzichten können, ist Musiktherapie als erste Therapiemaßnahme angezeigt.

Zusammenfassung
Die Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit lässt sich in der Arbeit mit Kindern mit Autismus besonders gut beobachten, da das sozio-emotionale Entwicklungstempo meist wesentlich langsamer voranschreitet. Auf der Basis der entwicklungspsychologischen Erkenntnisse
konnten wir belegen (Schumacher, 2017), dass die basalen Fähigkeiten, wie die intermodale Wahrnehmung, die Fähigkeit zur Affektregulation sowie das Erleben von Selbstwirksamkeit, durch die Entwicklungsalter entsprechenden musiktherapeutischen Interventionen nachreifen können. Erst auf dieser Basis kann sich „joint attention“, d.h. die gemeinsame Aufmerksamkeit auf etwas Drittes, entwickeln. Die in allen pädagogischen und erzieherischen, aber auch im therapeutischen Kontext geforderten Fähigkeiten des Mit- und Nachmachens sind hier noch nicht nötig, um Entwicklung anzustoßen. Es geht zunächst nicht darum, das Kind zu fördern und zu fordern, sondern den inneren Motor anzuwerfen, die eigene Lust zu lernen zu aktivieren. Und dieser Motor ist die Erfahrung, mit sich und dem Anderen in emotional positiver Weise in Beziehung zu sein.

Die Autorin:
Karin Schumacher
Prof. Dr. rer. sc. mus. em., 1950 in Graz/Österreich geboren, Studium an den Musikuniversitäten Wien und Salzburg Musiktherapie und Elementare Musik- und Bewegungserziehung. 1984 Gastprofessur an der Universität der Künste Berlin, Einrichtung und Leitung des Studiengangs Musiktherapie bis 1995. Seit 1984 an der UdK Berlin, seit 1995 an der Musikuniversität Wien sowie der ZHdK Zürich. Über 40 Jahre Musiktherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin im klinischen Kontext sowie in freier Praxis. 1998 promovierte sie zum Thema „Musiktherapie und Säuglingsforschung“ an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater. Seit 2016 pensioniert, weiterhin Lehrbeauftragte am Musiktherapiezentrum der UdK Berlin. Forschungsschwerpunkt: Musiktherapie bei tiefgreifender Entwicklungsstörung, speziell Autismus. Seit 1990 Entwicklung des „EBQ-Instrument“ zur Einschätzung der Beziehungsqualität mit der Entwicklungspsychologin Claudine Calvet.

Literatur:
Ainsworth, M. D. S. (1977). Skalen zur Erfassung mütterlichen Verhaltens. In K. E. Grossmann (Hrsg.), Entwicklung der Lernfähigkeit in der sozialen Umwelt (96–107). München: Kindler.
Decker-Voigt, H.-H., & Weymann, E. (Hrsg.) (2021). Lexikon Musiktherapie. Göttingen: Hogrefe (3. vollständig überarbeitete Ausgabe), 123–128 und 628–634.
Dinstein, I. et al. (2012). Unreliable evoked sensory responses in autism. Neuron 75, 981–991.
Schumacher, K. (2017). Musiktherapie bei Kindern mit Autismus. Musik-, Bewegungs- und Sprachspiele zur Behandlung gestörter Körper- und Sinneswahrnehmung. Mit DVD. In Zusammenarbeit mit C. Calvet/S. Reimer. Wiesbaden: Reichert.
Schumacher, K., Calvet, C., & Reimer, S. (2013). Das EBQ-Instrument und seine entwicklungspsychologischen Grundlagen. Buch mit DVD (1. Auflage 2011). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Stern, D. N. (1985/1992/2007). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta
Ausführliche Literaturliste kann bei der Autorin angefordert werden.

Praxisvorstellung

Heilpraxis für Psychotherapie & Beratung

Von Jakob Hommel

Nach beinahe vier Jahren musiktherapeutischer Arbeit in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nähe von Leipzig und einigem Abrieb aufgrund der dort herrschenden systemischen Bedingungen, eröffnete ich im Januar 2021 meine eigene Praxis für Psychotherapie & Beratung gewissermaßen als ausgleichenden Kontrapunkt. Jetzt, ein knappes halbes Jahr danach, fühle ich mich in dieser neuen Funktion und neuem Selbstverständnis als Heilpraktiker für Psychotherapie pudelwohl. Zwei Praxisnachmittage runden meine Woche ab, glätten die Kanten des institutionellen Rahmens am Vormittag.
Zu Beginn war Musiktherapie in meiner Praxis jedoch nicht eingeplant. Ich wollte sie ursprünglich als therapeutischen Zugang nicht berücksichtigen. Wie kam es dazu? Ein Musiktherapeut ohne Musik? Um mich der Antwort auf diese Frage zu nähern, biete ich Ihnen im Rahmen dieser Rubrik nicht nur eine Vorstellung meiner Praxis an. Ich möchte Sie gerne an den Entwicklungen der letzten Jahre in der Klinik und den ersten sechs Monaten in eigener Praxis teilhaben lassen. Davor aber ein kurzes Kennenlernen:
Mein Name ist Jakob Hommel, ich bin 37 Jahre alt, verheiratet und habe zwei Söhne. Bis 2012 studierte ich lang und ziellos Musikwissenschaft und Ethnologie in Halle an der Saale, bis mich die Bologna-Reform nicht nur zwang, die Freiräume des Magister-Studenten-Daseins aufzugeben, sondern mich mit meinen Zukunftsängsten auseinanderzusetzen. Das tat ich und lernte in diesem Zusammenhang, wie mir Musiktherapie – neben dem Gespräch, Kunst- und Körpertherapie – wiederum Freiräume ermöglichte. Seitdem entwickelte ich eine Liebe für die Kunst der Psychotherapie und beschloss, Musiktherapeut zu werden. Nach jeweils drei Jahren in Berlin und Friedensau, nach umfangreicher Gruppenselbsterfahrung, Leitungstraining, Zielgruppendidaktik, Statistik, zahlreichen Praktika, der Heilpraktiker-Erlaubnis und ersten Honorarstellen, zog ich 2016 wieder nach Halle – ohne Stelle, dafür aber mit Zweifeln. Zweifeln daran, ob dieses kleine Fach mich und meine Familie würde ernähren können.
Verschiedene Zufälle verschafften mir im November 2017 dann meine erste Festanstellung als Musiktherapeut in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik im Carl-von-Basedow-Klinikum Saalekreis in Merseburg. Es folgten Jahre reich an intensiven Erlebnissen und Herausforderungen. Den von mir als rigide erlebten systemischen Bedingungen stand eine große musiktherapeutische Spielwiese gegenüber, die ich gerne nutzte. Selbstverständlich ist Musik in der KJP ein idealer Zugang; sei es zur Alltagsrealität der jungen Menschen, in der Auseinandersetzung mit Bewältigungsstrategien und unmittelbarem Erleben von Ressourcen oder als Entlastungsangebot. Der Musiktherapieraum steht für mich als vielseitiger Proberaum. Mein Auftrag allerdings stand immer auch im Widerspruch zu meiner wachsenden
kreativen Herangehensweise, nämlich immer dann, wenn ich den Eindruck hatte, Musik sei nicht der ideale Zugang und ich Räume über bpsw. ein Rollenspiel, Geschichtenschreiben, Imaginationsreisen, Zeichnen oder Tanzen ermöglichte. Dem Utilisationsprinzip gemäß fühle ich mich ganz selbstverständlich dazu verpflichtet, das zu nutzen, was der junge Mensch mit in meinen Raum bringt. Die Weigerung eines Patienten, Musik zu machen, stellt nach Auffassung mancher klinischer Kollegen eine Therapieverweigerung dar und müsse besprochen werden. In den Zwängen der Psychiatrie aber nur einen weiteren Zwangskontext zu öffnen, ist mir fremd und so nutze ich andere Wege. Das passte nun nicht immer ganz zum Image der hiesigen Musiktherapie und den klinischen Erwartungen.
Mein Selbstverständnis hatte sich ohnehin entwickelt. Ich sah mich zunehmend nicht mehr nur als Musiktherapeut, als der ich schließlich angestellt war. Es entwickelte sich die immer intensivere Gewissheit: Ich brauche mehr Unabhängigkeit. Unabhängigkeit von der Vielzahl an mich umgebenden Haltungen, Erwartungen, der Atmosphäre und z.T. fragwürdigen Systemlogik der KJP und des Krankenhauses im Allgemeinen. Ein nicht unerheblicher Teil dieses Emanzipationsbedürfnisses resultierte aus der doch recht unterschiedlichen Auffassung darüber, wer in der Klinik legitime psychotherapeutische Arbeit leistet. Musiktherapie gilt in diesem Zusammenhang nur selten als ernst zu nehmende psychotherapeutische
Fachdisziplin. Zudem wollte ich freier in der Methodenwahl sein und mich nicht mehr nur allein über die musiktherapeutische Arbeit definieren.
Ein immer größer werdender Spagat – dabei bin ich nicht sehr gelenkig, eher zäh.
Zunächst reagierte ich auf Angebote, mein Aufgabenfeld innerhalb des Krankenhauses zu erweitern und arbeitete einige Stunden zusätzlich in der multimodalen Schmerztherapie mit Erwachsenen und bahnte Entwicklungen in Richtung Erwachsenenpsychosomatik und Palliativmedizin an. Trotz des deutlich positiven Feedbacks der Schmerzpatienten war eine Erweiterung und damit eine Emanzipation von der KJP nicht möglich. Ich
liebe das therapeutische Handwerk, die Vielfalt kreativer Interventionen und so begann ich, nachdem ich die Hypnosystemik als eine Art Zuhause
des therapeutischen Denkens und Handelns entdeckte, eine Ausbildung in hypnosystemischer Therapie. In die Arbeit mit Schmerzpatienten integrierte ich musikbegleitete Imaginationen und war nach jeder Therapie überrascht, wie schnell und unerwartet sich Veränderungen insbesondere bei somatischen Symptomen einstellten. Allerdings fehlten dadurch auch Stunden in der KJP und mit Beginn der Pandemie waren die Ausflüge in andere Bereiche ohnehin für beendet erklärt.
Ein Teil von mir war immer wieder auch frustriert darüber, so viel Zeit und Geld in die Musiktherapie-Ausbildung investiert zu haben und ich bedauerte, nicht Psychotherapeut geworden zu sein. Die Vorstellung, ein komplettes Psychologiestudium durchzuziehen und die Bedingungen der Approbationsausbildung schreckten mich jedoch davon ab, diese kräftezehrende Richtung einzuschlagen. Nicht zuletzt die Gewissheit, bereits leidenschaftlicher Praktiker zu sein, bestärkte mich, den Weg als Heilpraktiker für Psychotherapie zu gehen.
Im Mai 2020 meldete ich kurz entschlossen meine Praxis im Gesundheitsamt Halle an – mein erster emanzipatorischer Schritt in die Selbstständigkeit. Eine Freundin machte mich auf ein leer stehendes, günstiges Büro in ihrer Etage aufmerksam. Ich sagte schnell zu, die Bedingungen sind ideal. Auch ohne Klienten kann ich das große, helle Büro unterhalten. Neben 35h in der Klinik und der nahenden Geburt des zweiten Söhnchens organisierte ich die Internetseite, erlebte Aufregung aufgrund der ungewohnten Exposition durch Werbung, machte mir
Gedanken über die Honorargestaltung und Rechtliches. Vor allen Dingen genieße ich das Einrichten.
Konzeptionell definiere ich die Praxis als ‚systemisch‘. Musiktherapie findet nur am Rande Erwähnung auf meiner Internetseite. Freunden und Kollegen gegenüber erkläre ich, dass ich Musiktherapie auch aus „strategischen Gründen“ nicht in den Vordergrund stelle. Ende Dezember postete ich eine Eröffnungsmitteilung via facebook, es folgte eine unverhoffte Anfrage und im Januar 2021 startete ich offiziell, habe zwei Klienten und arbeite hypnosystemisch. Musikalisch wird es, wenn, dann auf sprachlich-metaphorischer Ebene. Zunächst fehlt mir nichts. Ich
bin damit beschäftigt, die neue Rolle zu erleben, zu reflektieren, Potentiale und Grenzen auszuloten. Im März folgt der erste jugendliche Klient, der mit mir seine Themen wie in einer Spotify-Playlist ordnet und hierarchisiert. Eine Woche später bezieht auch eine Akustikgitarre das Büro.
Der erste klare und auch dankbare Bezug zur Musiktherapie entstand aus einer sich langsam aber sicher redundant entwickelnden therapeutischen Situation im April. Die Gespräche folgten einem deutlichen Muster, die Offenlegung desselben ebenfalls. Ein Handeln abseits dieser Wege führte mich gedanklich direkt zu meinem Erfahrungsschatz aus der KJP: Musterunterbrechung, andere Wege gehen. Ich wich zu einer anderen Möglichkeit aus, erlebe den Gedanken aber nur zwei Wochen später erneut. Einem jungen Klienten, dessen intensive Beschäftigung mit einem Teil seiner Persönlichkeit viel Raum einnimmt, wollte ich durch musiktherapeutische Spielangebote neue Identifikationsräume bieten und erwarb ein Keyboard.
Am 16.6.2021 ist es soweit: Die ersten, frei improvisierten Töne erklingen in meiner Praxis. Ausgangspunkt ist das Gefühl eines Jugendlichen, immer alles richtig machen zu müssen. Dies setzte ihn massiv unter Druck, er litt unter Grübeln und einem geringen Selbstwertgefühl. Die körperliche Reaktion auf die Idee, gemeinsam ins musikalische Spiel zu kommen, ist intensiv. Am Keyboard sitzend, zögernd, äußert er das Gefühl, wie behindert zu sein. Kurze Reflexionen führen zum Vorschlag, gemeinsam das Stück „Ich mache jetzt mal alles falsch“ zu spielen. In der folgenden Spielphase sitzt ein anderer Mensch vor mir: Lustvoll spielt er spontan das, was die Hände eben gerade berühren, ich begleite auf
der Gitarre. Eine Seite von ihm genießt die spontanen Impulse, die andere traut dem Erleben nicht. Sein Fazit: Hört sich zwar nicht gut an, hat aber Spaß gemacht. Aus Unsinn wird Sinn – dem intelligenten Jungen fällt die Erkenntnis leicht: Mal sehen, das klappt doch bestimmt auch in anderen Bereichen.
Nach der Stunde denke ich, welch ein Luxus es doch ist, Musiktherapeut zu sein. Im Gegensatz zum Gespräch habe ich die Möglichkeit, mir einen
Ausschnitt aus dem angeregten Spiel aussuchen zu können, mit einer anschließenden Frage das Feld zu bestimmen, welches bearbeitet werden soll. Liegt der Fokus auf der Selbstwahrnehmung? Den Gefühlen in Bezogenheit zum Anderen? Oder ich kann, wie in diesem Beispiel, den Umgang mit dem Symptom spielerisch ändern. Wie bereits erwähnt, in den ersten fünf Sekunden ereignete sich Wesentliches: Wie komme ich ins Handeln in einer ungewissen, mich hemmenden Situation? Was kann ich außer der Vermeidung noch tun? Musiktherapie bedeutet häufig unmittelbare Konfrontation und Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen, Strategien und Ressourcen – kein Entrinnen. Sie bedeutet aber
eben auch spielerisch-lustvolle Erprobung von Alternativen, der musizierte Ernstfall im sicheren Proberaum. Sie lesen es vielleicht heraus: Es war nur konsequent, dass Musik auch in meine Privatpraxis Einzug hielt. Ich hatte sie als Sachzwang im Klinischen ein wenig satt, doch ist sie ein zu hilfreiches Medium, um ungenutzt zu bleiben. Nicht für jeden zu jedem Zeitpunkt. Nicht sofort, aber vielleicht gleich.
Wenn Sie diesen Text lesen, wird ein Vierteljahr seit den ersten Klängen eines Klienten in meiner Praxis vergangen sein. Ich bin gespannt darauf,
welche Erfahrungen und Klänge hinzugekommen sein werden. Wie würde ich dann meine Geschichte erzählen? Ganz sicher wäre Musik ein wesentlicher und hilfreicher Protagonist auf dem Weg zum Gesundsein.

Der Autor:
Jakob Hommel
Heilpraktiker für Psychotherapie, Hypnosystemischer Therapeut, Musiktherapeut
(DMtG zertifiziert)
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www.jakobhommel.de
Praxis für Psychotherapie & Beratung
Reilstraße 128
06114 Halle (Saale)

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Die Musiktherapie im „Interdisziplinären Schmerzzentrum“ der Sana Inselklinik Fehmarn

Von Ulrike Thomas

Die Klinik
Der Weg zur Inselklinik Fehmarn führt durch Ostholstein und auf der Fehmarnsundbrücke über die Wasser der Ostsee. Spätestens hier weitet sich
der Blick und unwillkürlich beginnt ein Durchatmen, Aufatmen, Ruhigerwerden. Wer vor der Klinik aussteigt, wird vom Wind begrüßt, der um die
Nase weht und zu einem kurzen Innehalten einlädt: Augen schließen, Wind spüren, tief durchatmen … angekommen.
Die Inselklinik gehört zu den Sanakliniken Ostholstein GmbH. Seit fünf Jahren ist dort das Interdisziplinäre Schmerzzentrum eine der Fachabteilungen und bietet ein multimodales Konzept zur Behandlung chronischer und akuter Schmerzbilder aller Art an. Weiterhin besteht die Möglichkeit einer Opiat-Entzugsbehandlung. Patient*innen aus der Region Ostholstein können in der angegliederten Schmerzambulanz schmerzmedizinisch und schmerzpsychotherapeutisch behandelt werden.
Wir sind eine kleine Station. Hier ist es überschaubar, ruhig und persönlich. Der Aufenthalt dauert in der Regel drei Wochen. Jede Woche können
vier bis fünf Patient*innen aufgenommen werden.
Die Multimodale Schmerztherapie am ISZ basiert auf dem biopsycho-sozialen Modell der Schmerzentwicklung. Ein über längere Zeit bestehender
Schmerz beeinflusst Haltung und Bewegungsfreude. In der Folge kommt es zu Schon- und Fehlhaltungen, oft gehen Kraft, Ausdauer und Muskelmasse verloren. Ein Teufelskreis aus „Schmerz – Inaktivität – noch mehr Schmerz“ entsteht und eine chronische Schmerzerkrankung kann sich entwickeln. Das heißt, das Schmerzsignal hat sich von seiner ursprünglichen Aufgabe als Warnsignal „entkoppelt“ und sich verselbstständigt. Auf allen Ebenen der Schmerzverarbeitung haben Umbauprozesse stattgefunden. Die Auswirkungen chronischer Schmerzen sind zermürbend und auf vielen Ebenen einschränkend. Sie treiben in den sozialen Rückzug bis hin zur Isolation. Es kommt zu einem Verlust an Lebensqualität. Lebensentwürfe werden über den Haufen geworfen. Das alles ist psychisch oft sehr belastend.
Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, braucht es Mut und die Bereitschaft, aktiv an der Erkrankung und der Verbesserung der Lebensqualität
arbeiten zu wollen.
Dazu steht den Patient*innen ein interdisziplinäres Team zur Seite, das auf die Behandlung von Schmerzen spezialisiert ist. Ärzt*innen, unsere
Pain Nurse, Therapeut*innen aus den Bereichen Psychotherapie, Physio- und Ergotherapie, eine Rehabilitationstrainerin, die Therapeutinnen
der künstlerischen Therapien Musik, Kunst und Tanz arbeiten interdisziplinär zusammen und entwickeln für Patient*innen individuell angepasste
Therapien.
Ein Bewegungsprogramm trainiert und stärkt effektiv Stabilität, Mobilität, Flexibilität, Ausdauer, Kraft und Koordination.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Therapien ist die Stärkung der Resilienz, der persönlichen Widerstandskräfte sowie das Neu- und Wiederentdecken der eigenen Ressourcen. Wertschätzung, Achtsamkeit und Selbstfürsorge stehen im Mittelpunkt der Therapien. So können die Patient*innen Schritt für Schritt lernen, eigene Ängste zu überwinden und im Alltag wieder belastbarer zu sein.
Viele Patient*innen waren durch ihren Schmerz lange Zeit isoliert. Ehrliches Verständnis für ihre Lage, der Austausch mit Gleichgesinnten, sich verstanden und zugehörig zu fühlen, neue Freundschaften zu knüpfen, Humor und Lachen, die Freude an der Bewegung wie auch am Leben wieder zu entdecken, die Vielfalt der neuen Erfahrungen … Das ist Motivation auf vielen Ebenen! Sie bestärkt und regt dazu an, alles, was gut tut und Freude macht, auch weiterhin im Alltag umzusetzen.
Eine umfassende Verbesserung der Lebensqualität für den Menschen zu erreichen, ist das Ziel der Schmerzbehandlung.

Die Musiktherapie
Seit der Eröffnung des ISZ im Mai 2016 biete ich dort einmal in der Woche Musiktherapie für die Schmerz-Patient*innen an, die in der Regel für drei Wochen in die Klinik kommen. In Woche eins des Aufenthalts ist eine Einzeltherapie vorgesehen. In Woche zwei und drei kommen die
Patient*innen zur Gruppentherapie im Multifunktionsraum zusammen, der auch von den Kolleginnen der Kunstund Tanztherapie, sowie für Bewegungs- und Entspannungsangebote genutzt wird.
Deshalb habe ich das Instrumentarium so ausgewählt, dass es vor Ort schnell auf- und abbaubar ist. Für die Patient*innen besteht in der Musiktherapie die Möglichkeit, die verschiedenen Instrumente kennenzulernen, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Instrumente wie Körper-Monochord, Harfe, Gitarre, Xylophon, Glockenspiel, Sansula, Schrutibox, Klangschalen, Klangspiel, Rahmentrommel, Schellenkranz, Rainmaker, Donnertrommel, Rasseln, Woodblock, Agogo u.a.m. laden zum Spielen und Ausprobieren ein.
Die Instrumente sind leicht zu spielen und erfordern keine musikalischen Vorkenntnisse. Es braucht nur den Mut, die Hemmungen zu überwinden. Wenn sich dann Patient*innen mit Neugierde dem Neuen öffnen, können die ihnen fremden Instrumente ganz neue Erfahrungen, Eindrücke und Assoziationen ermöglichen. Bekannte Instrumente wie Gitarre, Klavier und auch das Singen sind manchmal mit negativen Vorerfahrungen besetzt. Hier haben sie nun die Möglichkeit, Neues kennenzulernen oder Altes zu überschreiben, indem sie mit Klängen und Stimme experimentieren und sich auf neue Art ausdrücken.
Die Angebote der Musiktherapie reichen vom Entspannen mit Klangschalen, Imaginations- und Atemübungen, über Heilsames Summen und gemeinsames Singen, über Improvisationen mit Instrumenten und Stimme, bis hin zur Musik-imaginativen Schmerzbehandlung nach Susanne
Metzner. Und manchmal ist „die Musik des Augenblicks“ – das, was gerade klingen kann – die Stille, die Pause, das Rausgehen, die Nase in den Wind halten, Durchatmen und miteinander Schweigen.
In der Musiktherapie können die Patient*innen erleben, dass das gemeinsame kreative, künstlerische Tun einfach erstmal „Spaß“ macht. Die
eigene Kreativität und die eigenen künstlerischen Fähigkeiten werden geweckt. Im gemeinsamen musikalischen Tun und Erleben kommen wir
auf unkomplizierte und spielerische Weise in Kontakt und ins musikalische Gespräch – miteinander und jeder mit sich selbst. Gedanken und Gefühle können im eigenen Klang ausgedrückt und bewusst werden. Über das Erlebte kann anschließend gesprochen werden.
Oft gerät der allgegenwärtige Schmerz dabei aus dem Fokus, die Schmerzstärke sinkt, manches Mal werden sogar schmerzfreie Zeiten beschrieben. Die Patient*innen können sich wieder als Gestaltende der Situation erleben, als selbstwirksam: „Ich kann was tun!“ Das hat eine positive Auswirkung auf ihre Ängste und Depression, auf das Schmerzerleben und die Schmerzbewältigung.

Fallbeispiel 1 – Klangmassage von außen und von innen
In der Einzel-Musiktherapie biete ich den Patient*innen die Möglichkeit einer Entspannung mit Klang an, meistens mit Klangschalen. Sie basiert auf den Prinzipien der Klangmassage nach Peter Hess.
Frau B. kommt zur Einzelmusiktherapie. Sie hat chronische Schmerzen in der linken Schulter. Wegen ihres Tinnitus ist sie den Klangschalen gegenüber skeptisch. Sie befürchtet ein „zu laut und zu grell“. Trotzdem ist sie offen für Neues. Im Vorgespräch sagt sie, dass sie gerne wieder ganz bei sich ankommen möchte.
Ich stelle ihr zunächst die Schalen klanglich vor. Zu ihrem eigenen Erstaunen gefallen ihr die Klänge. Eine Herz- und eine Universalschale sind ihr besonders angenehm und werden für die Klangmassage ausgewählt.
Der Platz für die Schalen ist schnell gefunden. Die Universalschale steht neben ihren Füßen; sie direkt auf dem Körper zu spüren, sei ihr im Moment zu dicht. Sie beschreibt, wie der Klang in angenehmen Wellen durch den ganzen Körper läuft. Es ist zu sehen, wie sich ihr Atem vertieft und beruhigt. Als diese Stelle ausgekostet ist, möchte sie die Herzschale auf ihrem Brustbein spüren. Auch hier erlebt sie die durch den Körper laufenden Wellen als sehr angenehm und entspannend. Im Wechselspiel der beiden Schalen breitet sich eine große Ruhe im Raum aus und es ergibt sich von selbst, dass ich die Schalen immer seltener und leiser anspiele … bis sie nicht mehr klingen und in die Stille einer Ruhephase
führen.
Frau B. beschreibt, dass die Herzschale ihr geholfen hat, sich zu zentrieren und bei sich anzukommen. Durch das Wechselspiel der Schalen ist in ihr ein „Heiliger Raum“ entstanden.
Dieses Bild greife ich auf und lade Frau B. ein, sich diesen „Heiligen Raum“ als Landschaft vorzustellen. Sie beschreibt ihre „Entspannungslandschaft“ als ein weites Land mit Bergen, die in herbstliche Stimmung getaucht sind. Es riecht nach Frühherbst. Bei dieser Beschreibung atmet sie einige Male tief durch.
Diesen Impuls aufgreifend rege ich Frau B. an, den Duft des Landes tief einzuatmen, die Atembewegung im Körper zu spüren, wahrzunehmen, wie der Körper durch den Atem bewegt wird. Und dann in diese Weite hinein, mit dem nächsten Ausatem einen Ton zu summen. Summen ist ein
leises Geschehen, ein Nach-Innen-Singen, durch das ganz sanfte Vibrationen im Körper spürbar werden.
Mit geschlossenen Augen sitzt Frau B. da und summt in sich hinein. Sie legt die rechte Hand an ihre linke Schulter, mit dem linken Arm umfängt sie sich selbst und summt sich in eine wiegende Melodie, und wiegt den Körper hin und her. Es wirkt innig, sehr verbunden mit sich. Nach einer
Weile endet die Melodie, sie atmet tief durch und öffnet die Augen.
Im anschließenden Gespräch beschreibt Frau B., dass sie durch das Summen wie „in sich selbst hinein gekrochen ist“. Sie ist dem Schmerz der Schulter begegnet und hat in sich eine Akzeptanz für den Schmerz erlebt, ein „ich sehe dich“. Das sanfte, zarte Summen der wiegenden Melodie hat dem Schmerz seine Schärfe genommen. Die Vibrationen des eigenen Summens, der eigenen Stimme, haben sich wie die Wellen der
Klangschale im Körper ausgebreitet.
Mit Mut und Offenheit für das Neue hat Frau B. die Erfahrung machen können, auf eine andere Art mit sich und ihrem Schmerz in Verbindung zu treten und selbstfürsorglich mit sich umzugehen. Das Empfangen der Klangentspannung im ersten Schritt führt in das aktive Summen. Dadurch konnte sie einen inneren Wechsel von Entspannung und Aktivität erfahren und sich im Summen als selbstwirksam erleben.

Fallbeispiel 2 – Miteinander reden oder auch nicht und wie wir wieder zu uns kommen
Mit den nächsten beiden Fallbeispielen möchte ich einen Einblick in einen Gruppenprozess geben.
Eine Gruppe von vier Frauen im Alter zwischen 21 bis 40 kommt in der zweiten Woche des Aufenthalts zur Gruppentherapie zusammen. Zu Beginn ist die Stimmung gereizt, fahrig und unkonzentriert. Es „liegt was in der Luft“. Reden scheint heute nicht das Mittel der Wahl zu sein. Die
Begrüßung wird nicht gehört und die Eingangsrunde fällt aus. Zwei Frauen haben schon zu Instrumenten gegriffen und testen die Lautstärke von Xylophon und Trommel. Die anderen beiden Frauen greifen sich ebenfalls Instrumente und versinken in der „Leisestärke“ von Sansula und Monochord. Es entsteht ein Klangraum, in dem sich erst einmal jede ausdrückt, laut oder leise, je nachdem, was gerade ausgedrückt und mitgeteilt werden will, ganz egal, ob die anderen zuhören oder nicht.
Als „alles gesagt ist“, biete ich der Gruppe an, die Summ-Übung der letzten Woche aufzugreifen, was wir auch tun. Zunächst verbinden wir uns mit unserem Atem, nehmen wahr, wie der Körper durch den Atem bewegt wird. Jetzt kann die persönliche Entspannungslandschaft im inneren
Bild aufsteigen. Einatmen, ausatmen, durchatmen und mit einem nächsten Ausatem wird ein Ton in diese Landschaft hinein gesummt, ganz zart und leise. Wieder bringt das Summen diese feinen Schwingungen in den Körper, er wird spürbarer, die Hände können sich auf die Stelle legen,
in der die Vibrationen am deutlichsten zu spüren sind. Einige Atemzüge nur.
Die Frauen berichten: „Das Summen macht mich innerlich ruhig. Es macht weit. Es bringt mich zu mir zurück. Der Kopf ist frei geworden.“ Jetzt sind sie ganz da.
Und jetzt haben sie auch Lust, gemeinsam in eine Improvisation zu gehen. Es entwickelt sich ein Rondo, ein Wechselspiel zwischen einem gemeinsam gespielten wiederkehrenden Abschnitt (A) und weiteren Teilen (B, C, D …), in denen jede Frau mit ihrem Instrument klanglich hervortreten kann, so lange sie will, während die anderen sie begleiten. Der Klang der Improvisation hat im A-Teil etwas Zupackendes, Kraftvolles. Es erklingt eine lebendige Musik. Von leise suchend bis wie ein Löwe brüllend klingen die solistischen Teile sehr unterschiedlich. Jede Frau wird dabei von den anderen achtsam begleitet.
Die Improvisation haben wir mit einem Aufnahmegerät aufgenommen und uns zum Schluss angehört. Alle sind mit dem klanglichen Ergebnis zufrieden und sagen, es klinge gar nicht schlecht. Eine der Solistinnen bemerkt zu einer Stelle, die „wie nebeneinander her“ klingt: „Ich hatte heute einfach keine große Lust zu reden.“ Und doch hat sie mitgespielt und festgestellt, dass es ihr gut getan hat. Am Ende der Musiktherapie
fühlt sie sich gesammelter, geordneter und wieder mehr bei sich.

Fallbeispiel 3 – „Tief in dir ist deine Kraft“ oder Zuspruch durch die Gruppe erfahren
Eine Woche später kommen dieselben vier Frauen zur Gruppentherapie zusammen. Sind es wirklich dieselben Frauen? Welch ein Wandel. Heute schauen mir vier Frauen mit wachen Augen entgegen, offen, einander zugewandt und doch ganz bei sich.
Und heute gibt es eine Eingangsrunde. Die drei Wochen im ISZ sind um, morgen geht es nach Hause und so steht das Thema Abschied im Raum, Traurigkeit und auch die Freude auf Zuhause.
Jetzt ist eine gute Zeit für Ernte, und wir beschäftigen uns zunächst mit der Frage: Was lässt du hier? Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Kraftlosigkeit, Lebensmüdigkeit und Mutlosigkeit werden genannt. Und was nimmst du mit? Hoffnung, Selbstfürsorge und Grenzen aufzeigen dürfen und können, aufgetankte Batterien, Mut.
Von den Frauen kommt der Wunsch, dem klanglich einen Ausdruck zu geben. Die folgende „Musik des Augenblicks“ klingt kraftvoll, rhythmisch und stark. Beim Spielen schauen sie sich an, feuern sich spielerisch an. Ein Feuerwerk der puren Lebensfreude erklingt.
 Irgendwie braucht diese Freude noch einen weiteren Ausdruck durch die eigene Stimme. Im Gruppenraum dürfen wir aufgrund der Corona-Verordnungen zur Zeit nicht singen und so gehen wir raus in die Natur, halten die Nase in den Wind und genießen zunächst das Schmeicheln
des Windes im Gesicht, atmen tief durch und spüren, wie die innerliche Weite weiter wird.
Mir ist ein Lied des Heilsamen Singens eingefallen, ein „Nigun“, eine Melodie ohne Worte, die nur auf Silben gesungen wird. Dadurch ist es leicht, mit der eigenen Stimme in jeden Ton der Melodie das hineinzulegen, was ausgedrückt werden will. Ich beginne zu singen und anfangs singen die
Frauen zögerlich, fast schüchtern mit. Mehr und mehr kommen sie in ihre Kraft, singen stärker und die Stimmen klingen klarer.
Wir verabreden, verschiedene Gefühlsqualitäten in das Singen hineinzulegen. Wie klingt z.B. ein Nigun der Hoffnung? Wir hören uns zu, wie sich der Klang und der Ausdruck dadurch verändern und welche Auswirkungen es auf uns selbst hat.
Und wir beginnen, gesanglich zu experimentieren. Ein Nigun der Hoffnung klingt so übersprudelnd, dass die Stimmen nicht ausreichen, dem Gefühl Ausdruck zu verleihen, und die mitgebrachten Instrumente dazu genommen werden. Mit dem Nigun der Selbstfürsorge wird der Klang leiser, inniger, bis nur noch gesummt wird, ein Wiegenlied für sich selbst. Beim Nigun der Kraft kommen wechselnde Tempi und Dynamik ins Spiel. Und beim Nigun des Muts werden die Takt-Grenzen geweitet: aus der Melodie im 3/4-Takt wird eine im 4/4-Takt. Im gemeinsamen Singen drückt sich mehr und mehr die neu gewonnene innere Kraft aus. Jetzt sind die Frauen auch in der Kraft ihrer Stimmen angekommen. Nach diesem vielfältigen Ausdruck schauen sich die vier Frauen an und sind zufrieden mit dem, was sie zum Klingen gebracht haben und was sie in den letzten 20 Tagen erreicht haben.
Hier haben vier Frauen ihre Ressourcen und ihre innere Kraft neu entdeckt. So liegt es auf der Hand, das folgende Lied zu singen: „Tief in mir ist meine Kraft, die mein Leben bunt und fröhlich macht. Ich atme sie aus. Ich atme sie ein, erlaube mir, mit ihr da zu sein …“ Wir stehen im Kreis
und singen für die eigene Kraft. Dann wenden wir uns einander zu und singen für jede Frau: „Tief in dir ist deine Kraft…“. Wir singen nur für sie, für ihre neue Kraft, ihre neue Stärke, ihre neue Hoffnung, ihren neuen Mut. (Link zum Lied: https://ulrikethomas.de/tief-in-mir-ist-meinekraft-3/).
Dass diese Musiktherapien so gut gelungen sind, ist auch das Ergebnis der interdisziplinären Zusammenarbeit und der Verzahnung der Therapien. 

Wer mehr darüber erfahren möchte, welchen Beitrag die künstlerischen Therapie in der Behandlung von Schmerzen leisten können, kann im März 2022 zur „1. Interdisziplinären Netzwerkfachtagung Chronischer Schmerz“ nach Lübeck kommen.
https://www.sana-oh.de/fehmarn/schmerzzentrum-fehmarn/netzwerkfachtagung-chronischerschmerz/)

Die Autorin:
Ulrike Thomas
Musiktherapeutin DMtG
Musikerin, Dipl.-Musikpädagogin
Singleiterin Singende Krankenhäuser
Peter-Hess-Klangmassagepraktikerin®
Peter-Hess-Klangpädagogin®
Weiterbildung in Musik-imaginativer Schmerzbehandlung
Zurzeit bin ich musiktherapeutisch in der Schmerzklinik Fehmarn und auf der Palliativ-Station im Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster tätig und als Musikerin und Singleiterin verschiedener Sing-Gruppen.
www.ulrike-thomas.de

Nähere Informationen über eine Behandlung im ISZ erhalten sie unter
https://www.sana-oh.de/fehmarn/schmerzzentrum-fehmarn/ oder im Sekretariat der Abteilung für Schmerzmedizin
Tel.: 04371 504-105