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Musiktherapeutisches im Alltag

Von Selma Suzan Emiroglu

Musik als Weg – Vom Gedankenlärm in die Stille

Das Nachdenken ist wohl die am meisten verbreitete Sucht. Wir erschaffen uns dadurch täglich aufs Neue unsere problembeladenen Lebensdramen. Aus diesem suchthaften Verhalten auszubrechen, um im vollkommenen Hier und Jetzt, im eigentlichen Leben zu landen, braucht Konsequenz ohne Anstrengung. Und eine stimmige Methode, einen Torweg. Wie gelange ich von der lärmenden Gedankenautobahn in den stillen Seinswald, ohne von einem negativen Gedankenporsche überfahren zu werden? Und wie komme ich auf der Suche nach innerem Frieden vorbei an den Sirenen namens Reiki, Geistheilung, kinesiologische Balance, Versöhnung mit deinem verlorenen Zwilling und deren Geschwistern, die so verführerisch aus den Selbsterfahrungs-Kliffen rufen und in die Prozess- und Seminarsucht locken? Ein Weg dahin ist die Musik.
Ich lade Sie nun ein, die allzeit verfügbare Präsenz über das Musiktor zu betreten. Wichtig dabei ist eine entspannte spielerische Haltung – bei den vorgestellten Praxen, beim eigenen Musizieren wie auch im Leben. Bevor Sie mit der lauschenden Ohrenpraxis (s. u.) beginnen, machen Sie sich auf zu einem stillen Morgenspaziergang nach einer Inspiration von Byron Katie1. Gehen Sie in Stille. Während Sie gehen, betrachten Sie alles, was Sie sehen, so, als hätte es keinen Namen. Nachdem sich auf diese Weise ein begriffsloser sinnlicher Kontakt eingestellt hat, beginnen Sie das Ding zu benennen, auf dem Ihre Augen ruhen, so als wären Sie Gott, derdiedas den Dingen zum allerersten Mal einen Namen gibt. Benutzen Sie nur Namen der ersten Generation. Zum Beispiel: Himmel, Blume, Beton, Schuh. Wenn Sie bemerken, dass sich die Gedanken eine Generation weiter wegbewegen (z.B. wunderbarer Morgen oder was für ein schöner Baum!) oder wenn Sie sich abgedriftet im Nachdenken wiederfinden: Bemerken Sie das, ohne es zu bewerten, interpretieren oder verändern zu wollen. Halten Sie behutsam inne. Seien Sie still. Kehren Sie dann zurück zum begriffsfreien Kontakt mit der Umgebung und zu einfachen, unkomplizierten Einwort-Namen der ersten Generation: Boden, Himmel, Frau, usw. Der Morgenspaziergang ist Meditation. Es geht ums Bemerken. Es ist eine Praxis in Stille.
Probieren Sie diesen Spaziergang gerne an einem anderen Tag mit den Ohren aus: Nehmen Sie direkten Kontakt auf und benennen Sie, was Sie hören. Oder Sie verwenden alle fünf klassischen Sinne und benennen, was Sie sehen, hören, riechen, spüren und schmecken.
Nachdem Sie von Ihrem Morgenspaziergang zurückgekehrt sind, lauschen Sie daheim in die Stille – wie klingt der Alltag? Was hören Sie in Ihrem Haus – den säuselnden Wind im Dach, das Knacken von Holzbalken, Ihre dumpfen Schritte auf dem Teppich…? Wie hört sich das Ausziehen der Straßenkleidung an – rrrrrrollt der Reißverschluss, schschschschabt die Regenjacke über den Arm, knissstsstsstert der Pullover an ihren Haaren…? Wie klingt ein Gang ins Bad – ändern sich die Schrittgeräusche auf den Fliesen, zischt es in der Toilette, gluckert das Wasser in den Spülbeckenrohren …? Was tönt in der Küche zu Ihnen, wie singt der Wasserhahn, scheppert der Topf, klappert das Messer …? Lassen Sie sich so von der Alltagsmusik ins Hier und Jetzt locken und lauschen Sie Ihrer Symphonie dieses Tages …
… nun kann es bei Musik(th)er(a­peu­te)n leicht passieren, dass Ihre Hand, Ihr Fuß, Ihr Mund das Gehörte nicht allein lassen können1. Lauschten Sie gerade noch dem einfließenden Spülwasser, bemerken Sie plötzlich Ihre Finger, die auf die Teller tippeln. Zum swingenden Kühlschrank gesellt sich – ohne es bewusst inszeniert zu haben – ein passender Messerklackerrhythmus beim Gemüseschnippeln. Bemerken Sie einfach, was geschieht und hören zu! Oder geben Sie bewusst weitere Impulse … Wie wäre es z. B. mit einer gemeinsamen musikalischen Kau-Improvisation am familiären Abendbrottisch? Knäckebrot und Brotchips eignen sich hervorragend dafür – Knack Knack knacknacknack … knurzzzzz … krrreck …
Fühlen Sie sich nun gelassener und präsenter als vor der Alltagsimpro?
Doch plötzlich improvisiert Ihr Sohnemann mit einem lautstarken Rülpsen weiter … und Sie bemerken, dass Sie gerade nicht erleuchtet sind – ganz gestresst im Hier und Jetzt. Es widerstrebt Ihnen, dem Rülpsen sinnlich zu lauschen und musikalisch zu antworten. Wie Sie auch Ihren Gedanken, Gefühlen und triggernden Situationen so gelassen begegnen können wie den Alltagsgeräuschen, zeigt Ihnen z. B. The Work2. So können Sie lernen, das Leben selbst spielend zu improvisieren – als ein riesiges Improtheaterstück, das vom göttlichen Regisseur inszeniert wird.
Warum gerade Musik als Weg? Das Reizvolle an Musik ist, dass sie meist lustvoll besetzt ist. Beim Musizieren schwingt kein Beigeschmack von Kranksein mit wie bei therapeutischen Übungen. Beim Musikhören fixieren wir kein Wunschziel wie Erleuchtung. Wir machen Musik nicht „um zu“, sondern weil wir gerne Musik machen. Das führt zu einer anhaltenden Motivation. Gesünder und glücklicher werden wir nebenbei:
Beim Singen werden Ängste abgebaut, beim Instrumentalspiel die Konzentration gefördert, beim Taktstampfen Erdung hergestellt; körperliche Flexibilität wird durch auf- und abwärmende Musikergymnastik3 erreicht; Bauchatmung4 an Blasinstrumenten zentriert; „bilaterale“ Percussion5 reguliert die Affekte; Stimmungen werden in der Musik hörbar gewandelt; Vibrationsübungen6 und Üben-im-Flow7 bringen entspannte Wachheit; Mentales Training8 und integrative Musikwahrnehmung9 schulen den Geist; die Hingabe beim Musizieren macht die innere Stimme hörbar, die sinnliche und fühlende Wahrnehmung nährt unser leibliches Menschsein … und last but not least leben wir Beziehung beim gemeinsamen Musizieren.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein spielerisches Leben mit Musik und verabschiede mich von Ihnen als Autorin dieser Rubrik der Musik und Gesundsein! Ihre Selma Suzan Emiroglu.

Die Autorin:

Selma Suzan Emiroglu
Geb. 1976. Musiktherapeutin, Physikerin mit Promotion im Bereich Psycho­akustik, Folkmusikerin. Derzeit musiktherapeutisch tätig mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung, Seminaren zur Burnout-Prophylaxe und begleitendem Einzelmusikcoaching.
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Schwerpunktthema

Gegen den Strom schwimmen lernen – Der co-abhängige Fall Frau Freundlich

Von Jens Flassbeck

1. Einleitung
Das Zusammenleben mit einem Suchtkranken, gleichgültig ob als Kind, Partner, Eltern oder anders betroffen, ist mit vielfältigen Belastungen verbunden. Sucht ist ein Strudel, der nicht nur den Suchtkranken, sondern alle, die ihm zu nahe kommen, mit sich in den Abgrund reißt. Angehörige leiden häufig ebenso unter den Begleit- und Folgeerscheinungen der Sucht wie der Suchtkranke. Besonders schlimm sind Kinder betroffen. Parentifizierung wird es genannt, wenn Kinder zu „Eltern ihrer Eltern“ werden und zu früh zu viel Verantwortung übernehmen müssen. Typisch ist der Fall, dass betroffene Kinder allmorgendlich die kleineren Geschwister aus dem Bett holen, ihnen Frühstück machen und sie zum Kindergarten bringen, bevor sie selbst in die Schule gehen, weil die Mutter mit Alkoholnachwirkungen im Bett liegt. Oder sie haben allabendlich die regelmäßige Aufgabe, den betrunkenen Vater ins Bett zu bringen, weil sie als Lieblingskind die einzigen sind, die der Vater nicht schlägt.
Co-Abhängigkeit wird diese Angehörigenproblematik in der Tradition der amerikanischen Selbstbetroffenenliteratur der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts genannt. Co-abhängig betroffen sind vor allem Mädchen und Frauen. Töchter – nicht Söhne! – aus Suchtfamilien haben ein erhöhtes Risiko im späteren Leben (unbewusst) einen suchtkranken Partner zu wählen, ohne selber suchtkrank zu werden. Die Mädchen lernen von ihren co-abhängigen Müttern modellhaft die selbstaufopfernde Fürsorge und grenzenlose Verantwortungsübernahme. Die Partnerschaft zu einem Suchtkranken und das Auf und Ab des von der Sucht bestimmten Alltags erleben sie als Schicksal und Normalität. Später als Mütter geben sie das Risiko wiederum an ihre Töchter weiter oder leiden unter suchtkranken Söhnen. So wird aus einer unglücklichen Kindheit nicht selten ein tragisches Leben bis ins hohe Alter.
Obwohl die Problematik der Co-Abhängigkeit und die unermessliche Not der Betroffenen seit den 80ern des letzten Jahrhunderts bekannt ist, mangelt es bis heute an geeigneten Hilfeangeboten in Prävention, Beratung und Therapie. Erfreulicherweise ist zwar zu konstatieren, dass Kinder in Suchtfamilien zunehmend in Prävention und Behandlung berücksichtigt werden. Doch ist die Versorgungssituation unzureichend und bei weitem nicht flächendeckend. Auch die Kooperation und Vernetzung der beteiligten Systeme, Suchthilfe, Jugendhilfe und Bildung, gilt als reformbedürftig. Im Bereich betroffener Erwachsener herrscht dahingegen weitgehende Ideen- und Konzeptlosigkeit. Betroffene Partner und Eltern werden aus suchttherapeutischen Gründen nur mit-behandelt. Durch ihren co-therapeutischen Einbezug wird versucht, Einfluss auf die Suchtkranken zu nehmen, damit diese weniger konsumieren und eine Therapie aufsuchen. Die Fixierung des Suchthilfesystems auf die suchtkranke Klientel verstärkt so auf ungünstige Art und Weise noch die co-abhängige Verantwortungsübernahme. Wiederholt beklagen sich Angehörige beim Autoren, dass ihr Hilfebegehren durch die aufgesuchten Suchtberatungen zurückgewiesen worden sei: „Wenn Sie es nicht schaffen, den Suchtkranken in die Beratung zu bringen, können wir nichts für Sie tun.“
Dieser Artikel möchte die Betroffenheit der Angehörigen aus dem dunklen Hintergrund, in dem sie gewöhnlich ungesehen leiden, ins solidarische Licht der Aufmerksamkeit holen. Es werden dabei zwei Ziele verfolgt: Erstens sollen die spezifischen psychischen Probleme und Störungen von co-abhängigen Angehörigen erhellt werden. Zweitens sollen spezielle Leitlinien in der therapeutischen Arbeit mit Angehörigen aufgezeigt werden. Anhand eines Behandlungsfalles, Frau Freundlich, werden die Ausführungen veranschaulicht. Frau Freundlich befindet sich in der ambulanten Psychotherapie beim Autoren. Selbstverständlich sind die Daten gewissenhaft anonymisiert.

2. Störungskonzept
Die Belastungen, Beeinträchtigungen und Übergriffigkeiten, denen Angehörige tagtäglich ausgesetzt sind, können unterschiedliche psychische Probleme und Störungen bedingen. Des Weiteren haben Personen mit vorhandenen psychischen Störungen ein erhöhtes Risiko, eine Beziehung zu einem Suchtkranken einzugehen. Wie bei der unbeantwortbaren Frage, ob die Henne oder das Ei zuerst war, stehen die suchtbedingten Belastungen und die psychischen Probleme der Angehörigen miteinander in einer sich ungünstig verstärkenden Wechselwirkung.
Nach den klinischen Erfahrungen des Autors sind bei Angehörigen vor allem folgende Störungsbilder zu finden: Anpassungsstörungen, Depressionen, generalisierte Angststörung, soziale Phobie, akute und posttraumatische Belastungsreaktion sowie ängstlich vermeidende und abhängige Persönlichkeitsstörungen. Üblicherweise zeigen die Betroffenen Auffälligkeiten über mehrere der aufgezählten Störungsbilder, ohne eins davon in Gänze zu erfüllen. Das vielschichtige pathologische Bild von betroffenen Angehörigen könnte daher als co-abhängige Anpassungsstörung eingeordnet werden.
Jedoch berücksichtigen diese Diagnose und alle anderen genannten Diagnosen ebenfalls nicht die Hauptsymp­tome, die verstrickte Angehörige und auch betroffene Kinder aufweisen:
–    die emotionale und gedankliche Fixierung auf den Suchtkranken
–    das zwanghafte Bestreben, helfen und die Sucht kontrollieren zu wollen
–    die übermäßige Neigung, sich für alles verantwortlich zu fühlen.
Aufgrund dieser Auffälligkeiten kann angenommen werden, dass Co-Abhängigkeit im Kern eine eigene und zwar primär verhaltensbezogene Abhängigkeitsproblematik ist. Der Suchtkranke ist das Suchtmittel, die übermäßige Hilfe und Verantwortungsübernahme sind das Suchtverhalten. Die falsche Hoffnung, alles wird gut werden, wenn wir es schaffen und er aufhört, zu konsumieren, ist der „Rausch“ der Co-Abhängigen. Und die Enttäuschung darüber, dass es mal wieder so gekommen ist, wie es kommen musste und er wieder konsumiert hat, ist der co-abhängige Entzug. Der Suchtdruck findet seine Entsprechung im co-abhängigen Sehnen, gebraucht zu werden.

Frau Freundlich weiß von Anfang an, dass ihr Mann zu viel trinkt: „So schlimm habe ich es nie erlebt.“ Sie bekommen vier Töchter. Die nächsten 20 Jahre sind geprägt von ihrem Überlebensmotto: „Für die Kinder!“. Aus der ständigen Besorgtheit, dass die Kinder wegen seiner Sucht keine Nachteile erfahren sollen, funktioniert sie äußerlich und leidet still.
In der Therapie wirkt Frau Freundlich anfangs angespannt, unsicher und unruhig, was sie selbst nicht wahrnimmt. Auch ihre Freudlosigkeit und Erschöpfung spürt sie kaum. Sie spricht überwiegend über Mann und Kinder, kaum über sich. Wenn ich sie auf ihre Belastungen anspreche, reagiert sie ausweichend: „Andere sind schlechter dran!“ oder „Hoffnung besteht doch?“. Der Mann trinkt mit der Zeit immer mehr. Sie übernimmt immer mehr Aufgaben: Die Kinder, den Haushalt, das Behördliche, das Haus, das Auto, den Garten usw. Sie schätzt die Verteilung der Arbeit prozentual so ein: „70 % ich, 30 % er“.
Der Mann beschimpft sie immer häufiger. Seine Abwertungen lösen Selbstzweifel, Schuldgefühle, Insuffizienzgefühle und Ängste aus. Dasselbe Reaktionsmuster zeigt sie auch bei ihrer Mutter, die ihr in Konflikten oft vorwirft, ihre Kinder nicht zu lieben. Sie schweigt dann und zieht sich zurück. Ich frage sie, was sie abhält, sich zu wehren. Sie erzählt von ihrer steten Selbst­unsicherheit: Sie gibt um des lieben Friedens willen stets nach und versucht immer, es anderen recht zu machen.
Am Wochenende wiederholt sich wöchentlich dieselbe Situation. Sie liegt im Bett und wartet auf den Ehemann, manchmal bis tief in die Nacht. Sie ist gelähmt und spürt nichts. Er kommt betrunken und vergeht sich an ihr. Zuletzt beschimpft er sie dabei unflätig. Sie erlebt es als ekelhaft und grausig. Doch sie hält still, wegen der Kinder. Sie erzählt, sie habe immer Hoffnung gehabt: „Vielleicht lerne ich noch, ihn zu lieben.“ Als Therapeut bewerte ich es als Vergewaltigung. Sie findet bis heute keinen Begriff für das, was sie sich hat antun lassen. Stattdessen ärgert sie sich darüber, dass sie versagt und sich nicht gewehrt hat. Immerhin schläft sie zu Beginn der Therapie schon auf dem Sofa, was weitere Übergriffe verhindert.
Als sie ihm mitteilt, dass sie sich trennen will, hebt er ihre Lebensversicherung ab und schafft das Geld an die Seite. Wir haben es ausgerechnet: Er hat ca. 60.000,- Euro über die Ehejahre in Wein, Bier und Schnaps investiert. Sie denkt sich, Hauptsache, er zieht aus und alles geht vernünftig über die Bühne. Als ich sie zu Anfang der Behandlung frage, was sie dazu und auch zu anderen Ungerechtigkeiten denkt, schweigt sie und überlegt lange. Dann wechselt sie das Thema. Er zieht tatsächlich aus. Sie sucht ihm eine neue Wohnung und organisiert den Umzug. Sie ist hoffnungsfroh, dass nun alles gut wird.
Er zahlt kaum Unterhalt für die Kinder. Sie nimmt zusätzlich einen 450-Euro-Job im Kino an, um den Kindern neue Schuhe kaufen zu können. Er fliegt im Sommer allein in den Urlaub. Sie und die Töchter fahren dieses Jahr nicht in den Urlaub. Auch nach dem Auszug kommt er öfter zum Essen vorbei. Er fragt nicht, ob er eingeladen ist. Er nimmt den Schlüssel aus dem Blumentopf, setzt sich an den Tisch und nimmt sich vom Essen. Sie ärgert sich darüber und schweigt wegen der Kinder, die sich freuen, wenn Papa vorbeikommt.
Frau Freundlich wuchs bereits mit einem alkoholkranken Vater auf. Schon als kleines Kind musste sie ihn täglich auf Geheiß der Mutter aus der Kneipe holen. Sie hat nicht viel Erinnerung daran, außer dass es widerlich war und sie viel Angst hatte. Die Mutter trennte sich, als Frau Freundlich acht Jahre alt war. Den Vater hat sie seit 20 Jahren nicht mehr gesehen. Den neuen Stiefvater fand sie nett. Den Kontakt bewertet sie bis heute als gut. Der Stiefvater schlug sie und die Brüder häufig, wenn sie unartig waren. Die Mutter schützte sie nicht. Alle in der Familie lobten den Stiefvater. Seitdem er da sei, seien die Kinder lieb und brav. Später in der Jugend belästigte er sie auch sexuell. Zur Mutter hat Frau Freundlich ein bis heute schwieriges Verhältnis. Frau Freundlich redet von sich aus nie über die Mutter.
In der Jugend war sie Mitglied einer Jugendgruppe. Die dortige Leitung, so erzählt sie, war die einzige Bezugsperson, die sie im Leben hatte. Bei ihr fühlte sie sich wohl und verstanden. Frau Freundlich ist Erzieherin und arbeitet als Gruppenleitung im Kindergarten. Sie ist bei Kindern, Eltern und Kollegen beliebt und respektiert. Anders als im Privaten kann sie sich im Beruflichen abgrenzen und behaupten.
In Tabelle 1 sind die Beschwerden und Auffälligkeiten von Frau Freundlich aufgelistet und den oben aufgezählten Störungsbildern zugeordnet, um die Komplexität des Gesamtstörungsbildes zu verdeutlichen. Frau Freundlich wurde mit folgender Diagnose nach ICD-10 behandelt: Anpassungsstörung mit Depressionen und Angst (F43.22) vor dem Hintergrund belastender Kindheitserlebnisse (Z61, Z62) und Alkoholmissbrauch in der Herkunftsfamilie (Z81) sowie abhängigen und ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitszügen (Z73).

3. Leitlinien der Behandlung
Im Folgenden wird die ambulante Psychotherapie der Angehörigen beschrieben. Zum Einsatz kommen Methoden der Gesprächspsychotherapie, des motivationalen Interviews und der kogni­tiven Verhaltenstherapie. Im Fokus des Interesses steht dabei jedoch nicht die spezifische psychotherapeutische Methodik. Vielmehr sollen der Hilfebedarf der Betroffenen und die zentralen Leitlinien zum geeigneten Umgang damit herausgearbeitet werden. Die Leitlinien können auf andere Bereiche psychosozialer Hilfe – Angehörigenselbsthilfe, Spieltherapie mit Kindern aus suchtbelasteten Familien, Suchtprävention, Sozialpädagogik – übertragen werden.

3.1 Zuwendung und Beachtung
Die Exploration der Symptome, der aktuellen Situation, der Probleme, der biografischen Zusammenhänge und der Ressourcen ist die erste und wichtigste Intervention. Die Klientin erhält dabei Raum, Zuwendung und Zuspruch. Häufig ist der Therapeut der erste, dem sich die Klientin anvertraut. Das ist für sich wirksam. Das therapeutische Bemühen, die Klientin empathisch zu verstehen, hilft der Klientin, sich zu entlasten, Klarheit zu gewinnen und mehr Selbstakzeptanz zu entwickeln. Darüber hinaus ist Verständnis der Ausgang jeder weiteren psychotherapeutischen Intervention, auch vertracktere und hartnäckigere Probleme anzugehen.
Psychotherapie ist ein Abenteuer, für die Klientin und auch den Therapeuten. Zwei Menschen nehmen eine recht intensive Beziehung auf. Das ist ein Wagnis. Dafür benötigt es von beiden Seiten eine Menge Feingefühl, Offenheit, Neugier, Mut, Kreativität und Toleranz. Die emotional berührende Begegnung zweier Menschen ist der wesentliche Wirkfaktor von Psychotherapie und allen anderen psychosozialen Hilfen. Wenn der Therapeut die Sicherheit seiner Modelle verlässt, sich aus der Deckung der Methoden traut und sich auf das Glatteis des Mit-Menschseins begibt, dann geschehen Begegnung und Entwicklung.

In den probatorischen Sitzungen bei der Exploration der Beschwerden, der Biografie und der Lebenssituation berichtet Frau Freundlich sachlich und objektiv wie eine Nachrichtensprecherin. Emotionale Regungen sind anfangs nicht zu erkennen. Sie wirkt, als wenn sie über jemand Drittes berichtet. Am Anfang höre ich ihr überwiegend zu, versuche sie zu verstehen und drücke mein Mitgefühl aus. Ihre häufigen Momente der Sprach- und Gefühlslosigkeit fülle ich, indem ich ihr behutsam und solidarisch mein Erleben anbiete: „Mir an Ihrer Stelle ginge es…“.

3.2 Ambivalenz
Co-abhängige Angehörige sind wie auch Suchtkranke in ihrer Motivation hochgradig ambivalent. Der Suchtkranke fordert, dass sich die Umwelt verändert, damit er aufhören kann, zu konsumieren. Die Angehörige erwartet, dass er aufhört, zu konsumieren, damit alles gut wird. Beide machen sich in ihrer Haltung abhängig vom anderen und scheuen eigene Veränderungen. Dank motivierender Gesprächsführung wissen wir heute, diese Ambivalenz einzuschätzen und therapeutisch anzugehen. Empathie, ambivalenzaufdeckende Interventionen, Informationen, Change Talk und Confidence Talk sind Standard-Methoden der Suchttherapie, die ebenfalls bei co-abhängigen Angehörigen indiziert sind.

Frau Freundlich sucht die Suchtambulanz unseres Hauses auf, weil sie sich über Behandlungsmöglichkeiten für ihren Ehemann informieren möchte. In vier Beratungsterminen wird sie motiviert, eine ambulante Psychotherapie in Angriff zu nehmen. In den ersten 15 Sitzungen habe ich ständig Sorge, dass Frau Freundlich die Behandlung abbrechen könnte. Über meine Mitteilung, dass ich eine Langzeittherapie beantrage, kommt sie nur schwer hinweg. Sie meint, so schwer stehe es doch nicht um sie. Anfangs klammert sie sich an ihren Glauben, dass alles gut wird, wenn ihr Mann auszieht und sie vernünftig bleibt. Folgende Ambivalenzen arbeiten wir heraus:
1.    Anspruch, immer freundlich sein zu wollen; andererseits viel unterdrücktes Erleben von Unzufriedenheit und Ärger
2.    Wunsch, die Trennung vernünftig vollziehen zu wollen; andererseits die erfahrenen emotionalen, sexuellen und finanziellen Übergriffigkeiten durch den Mann
3.    Sorge darum, dass die Kinder nicht leiden sollen; andererseits die eigene mangelnde Selbstfürsorge
Ich empfehle Frau Freundlich den Film „Grüne Tomaten“, damit sie überhaupt eine Vorstellung davon erhält, was es bedeuten kann, sich als Frau zu emanzipieren. Die Protagonistin des Films „Evelyn Couch“, eine unterdrückte amerikanische Hausfrau zu Beginn der Wechseljahre mit sehr wenig Selbstbewusstsein, ähnelt Frau Freundlich sehr.
In ungefähr der 15. Sitzung explorieren wir ihre posttraumatischen Zustände. Diese können hoch generalisiert schon durch kleine Grenzverletzungen ausgelöst werden. Meine Frage, ob sie in ihrem Zustand der inneren Lähmung, Gefühlslosigkeit und Sprachlosigkeit einen vielleicht klitzekleinen Impuls spüre, beantwortet sie nach langem Schweigen schließlich mit dem Satz: „Ich wünsche, dass es anders wird!“. Sie sagt es so leise, dass ich zweimal nachfragen muss, bis ich sie verstehe. Wir spielen mit dem Satz, und sie formt ihn um: „Ich will, dass es anders wird!“. In der nächsten Stunde klärt sie ihre Haltung weiter: „Für mich!“ und „Leck mich!“. Frau Freundlich erschreckt sich über die eigenen Einfälle und es benötigt noch mehrere Sitzungen, bis sie ein wenig klarer wird. Doch seit dieser Sitzung habe ich keine Sorge mehr, dass sie abbricht.

3.3 Ziele und Ressourcen
Das Thema Ziele ist bei Angehörigen ein schwieriges. In ihrer ausgeprägten Selbstabwehr sind sie damit überfordert, eigene Ziele zu formulieren. Fragen nach ihren Wünschen werden stereotyp damit beantwortet, dass der Suchtkranke aufhören soll, zu konsumieren. Zunächst müssen die Ambivalenz aufgedeckt und die Fixierung auf den Suchtkranken gelockert werden, erst dann tauchen Ziele auf. Als Therapeut heißt es, geduldig zu sein.
Co-abhängige Angehörige bringen gewöhnlich, anders als andere psychisch kranke Menschen, zwei große Ressourcen mit. Erstens sind sie gegenüber anderen Menschen besonders feinfühlig, und zweitens können sie mit sich sehr unnachgiebig sein. Soziale Kompetenzen und Leistungsbereitschaft sind zumeist gut entwickelt. Ihre großen Talente sind gleichzeitig das, worunter sie leiden. Es geht in der Psychotherapie der Co-Abhängigkeit weniger um den Aufbau neuer Kompetenzen, vielmehr zielen die therapeutischen Bemühungen darauf ab, die vorhandenen Talente umzuwidmen. Es geht darum, dass die Betroffenen in einem ersten Schritt lernen, sich gegenüber anderen konsequenter abzugrenzen. Die dadurch entstehenden Freiräume sind die Voraussetzung dafür, dass sie in einem zweiten Schritt lernen, mit sich selbst liebevoller umzugehen.

In einer der ersten Sitzungen, als Frau Freundlich mal wieder vorwiegend schweigt, erzähle ich ihr im Konjunktiv von meiner Vorstellung, wie sie im kommenden Sommer die Sonne genießend auf der Terrasse liegt, die Füße auf einem Hocker und in der Hand ein spannendes Buch. Die Nachbarn renovieren ihre Terrasse, und die Töchter bringen ihr leckere Drinks und andere Köstlichkeiten. Frau Freundlich hört mir aufmerksam zu und genießt klammheimlich die Vorstellung.
Dann verkündet Frau Freundlich überraschend, dass sie sich entschieden habe, sich zu trennen. Angesichts ihrer Selbstunsicherheit habe ich massive Zweifel, dass sie den Entschluss auch umsetzen kann. Sie kann, und wider Erwarten ist er drei Monate später ausgezogen. Als Geschlechtsgenosse spüre ich beinahe ein wenig Mitleid mit dem armen Mann, wie sie ihn abfertigt. Doch vor allem freue ich mich, bin fast schon stolz auf sie und teile ihr meinen Respekt wie folgt mit: „Wenn Sie etwas wollen, ziehen Sie es gnadenlos durch.“
Im Folgenden erinnere ich sie immer dann, wenn sie mal wieder verzagt ist und an sich zweifelt, an ihr „gnadenloses“ Husarenstück. Dann lacht sie stets, und es entstehen Zuversicht und Zutrauen. Nach und nach kristallisieren sich zwei Hauptziele heraus: Frau Freundlich möchte erstens lernen, gegen den Strom zu schwimmen. Und zweitens möchte sie nicht noch einmal auf einen süchtigen Kerl hereinfallen.

3.4 Nein sagen und ärgerlich werden
Was wären wir ohne die Fähigkeit, Nein sagen zu können? Schon als Säugling sind wir in der Lage, uns durch stille Verweigerung oder lautstarkes Schreien von den Eltern abzugrenzen. Mit der Entwicklung der Persönlichkeit lernen wir das gesamte Spektrum der Möglichkeiten, andere zurückzuweisen, von grober Brüskierung bis hin zum diplomatischen Vielleicht. Unsere Identität wächst am Nein.
Verstrickte Angehörige haben die angeborene Fähigkeit zur Abgrenzung verloren, z. B. weil sie, wie Frau Freundlich, in einer Suchtfamilie aufwuchsen und in der Kindheit Übergriffigkeiten erfuhren. Das bedeutet, dass die Hemmung mit tief in der Person liegenden Ängsten verbunden ist. Es ist offensichtlich, wie viel Feingefühl das Thema benötigt. Therapeutisch ist die Politik der behutsamen, kleinen Schritte angesagt. Ganz entscheidend für den Aufbau einer sicheren Beziehung ist dabei, dass der Therapeut das Zögern der Klientin bedingungslos annimmt. Ressourcenorientiert deckt er auf und akzeptiert es, wenn die Klientin die wohlgemeinten Ratschläge des Therapeuten auf ihre verkappte Art und Weise ablehnt.

Es ist die 12. Sitzung. Bis dahin hat Frau Freundlich gut mitgearbeitet. In dieser Sitzung ergibt sich kein Thema, sie kommt von Hölzchen auf Stöckchen. Auf meine therapeutischen Interventionen geht sie nicht ein. Sie hat „keinen Bock“, traut sich aber nicht, es laut zu äußern. Auch wird deutlich, dass sie in der Therapie passiv bleibt und stets darauf wartet, was ich als Therapeut anrege.
Wir haben mittlerweile eine tragfähige Beziehung und ich konfrontiere sie damit, dass mir weder die Rolle der bevormundenden Mutter, noch die Rolle des abwertenden Ehemanns, denen sie sich unterworfen hat, gefällt. Feinfühliger äußere ich meinen Wunsch, dass sie sich in der Therapie die Freiheit herausnimmt, sich und ihre Bedürfnisse zu entdecken und auszuleben. Sie versteht diese Abstraktion erst nicht. Ich erläutere ihr also beispielhaft die Möglichkeiten ihrer Freiheit, z. B. mit der Bemerkung „Schicken Sie mir die Rechnung!“ telefonisch abzusagen oder mal ungeniert über die Mutter, den Ehemann, die Kinder, den Therapeuten und das Leben zu meckern und zu motzen. Es sei ihre Zeit und sie bestimme, wie sie diese sinnvoll nutze oder sinnlos vergeude.
In der nächsten Stunde erzählt sie, dass die letzte Stunde sie sehr aufgewühlt habe. Noch am selben Abend sei sie zu ihrer eigenen Überraschung gegenüber dem Exmann am Telefon „geplatzt“. Sie habe wütend aufgelegt. Das habe sie noch nie vorher getan. Und in derselben Sitzung steckt sie mir: „Herr Flassbeck, ich schaue mir alles, was Sie mir sagen, beim Rausgehen genau an.“ Und ich ergänze: „Und alles, was Ihnen nicht gefällt, sortieren Sie aus.“
Ein wenig später berichtet sie, dass die Töchter sie neuerdings manchmal als „Zicke“ bezeichnen. Sie hat schon ein wenig an dieser doppeldeutigen Auszeichnung zu knacksen. Es widerspricht ihrem vernünftigen Selbstbild. Sie nimmt indes die Effekte des neuen „zickigen“ Handlungsspielraums mit Erstaunen wahr. Ihre jüngste pubertär trotzige Tochter geht, seitdem Frau Freundlich erstmalig recht unfreundlich geplatzt ist, mit ihr rücksichtsvoll, „wie mit rohen Eiern“ um.
Es sei auf die präventive Kraft der Psychotherapie über den Behandlungsrahmen hinaus hingewiesen: Die Töchter profitieren ebenfalls von den Entwicklungen der Mutter. Durch das Modell der Mutter werden sie neue selbstbestimmte Verhaltensmöglichkeiten und Einstellungen in ihr Selbstkonzept als werdende Frauen integrieren. Frau Freundlich hat es am Ende einer Sitzung so ausgedrückt: „Liebe Mädchen kommen in den Himmel, böse kommen überall hin.“

3.5 Die eigene Befindlichkeit
Auch die Frage nach der eigenen Befindlichkeit ist für die co-abhängige Klientin zu Anfang der Behandlung eine schwierige Übung. Die kleine und unschuldige Frage: „Wie geht es Ihnen?“ ist einerseits überfordernd und bedrohlich sowie andererseits therapeutisch besonders wertvoll. Typisch abwehrende Reaktionen auf die Befindlichkeitsfrage sind ängstlich abwehrendes Schweigen oder ebenso sprachlose Wortergüsse über die neusten Eskapaden des Suchtkranken. Erlebenszentrierte und -aktivierende Interventionen sind daher die wichtigsten Methoden, sobald ein sicherer und vertrauensvoller therapeutischer Kontakt hergestellt und die Motivation und Ziele halbwegs geklärt sind.

Frau Freundlich ist in der Anfangsphase der Behandlung mit vielen kleinen Problemen beschäftigt, wie sie ihren Exmann zum Auszug bewegen kann. Sie stellt sich hoffnungsfroh vor, dass der Herauswurf all ihre Probleme auf einen Schlag lösen würde. Therapeutisch sage ich ihr wenig mitfühlend voraus, dass sie danach erst einmal in ein tiefes seelisches Loch fallen würde. Das will sie nicht hören.
Sie fällt zunächst nicht in ein Loch. Ich bin als Therapeut ein wenig verwirrt, weil ich mir meiner Sache so sicher bin. Einige Wochen später wird klar, warum sie immer so optimistisch gestimmt ist. Sie hat einen neuen Freund gefunden. Sie trösten sich gegenseitig. Frau Freundlich schwebt auf Wolke Sieben. Ich hinterfrage, dass der gegenseitige Trost keine gute Grundlage für eine neue Beziehung sei. Sie will nicht hören. Ich verstehe sie in ihrem Nicht-Hören-Wollen.
Der Zusammenbruch kommt erst, als der Neue auf Distanz geht. In der ersten Stunde nach der Sommerpause kommt sie vollkommen aufgelöst. Sie erzählt, dass sie schon seit drei Wochen „heult“. Sie will, dass ich ihr helfe, das „Heulen“ abzustellen. Ich freue mich über ihre Tränen, tröste und stärke sie. Ihre Trauer ist wie ein übervolles Fass, das endlich überläuft. Es dauert ungefähr sechs Wochen, bis das Fass auf ein erträgliches Maß „abgeweint“ ist. Sie hat sich bis heute zwar nicht mit dem Gefühl des Traurigseins angefreundet, aber es hat seine Bedrohlichkeit verloren.

3.6 Bedürfnisse wahrnehmen und verwirklichen
Co-abhängige Angehörige ordnen sich gewöhnlich anderen unter. Irgendjemand findet sich immer, der ihnen wichtiger erscheint: Der Suchtkranke, die Kinder, die pflegebedürftigen Eltern, die Firma, der Hund und auch der Therapeut. Die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen werden hintangestellt. Es ist ein kniffeliges Unterfangen, die Bedürfnisse, vergraben in den Tiefen der Seele, therapeutisch zu bergen.

Frau Freundlich äußert in der sechsten Therapiestunde in einem Nebensatz, dass sie gerne mal entspannen würde, es aber nicht könne. Als ich ihr in der nächsten Sitzung vorschlage, eine kleine Entspannungsübung zu machen, kann sie sich nicht mehr an ihren Wunsch erinnern. Sie ist noch nicht bereit, über ihre Bedürftigkeit nachzudenken. Im Sommer, wir arbeiten seit über einem halben Jahr zusammen, finde ich heraus, dass sie gerne Kräuter-Tee trinkt. Ich organisiere einen Wasserkocher, Tassen und Kräuter-Tee. Sie freut sich in der folgenden Stunde, als ich ihr einen Tee anbiete. Seitdem ist es eine lieb gewonnene Prozedur, ihr zu Beginn der Sitzung eine Tasse Tee zu kredenzen. Das Bedürfnisthema ist angestoßen.
In einer nachfolgenden Sitzung ist der Liebhaber, der sie sitzen lassen hat, noch einmal Thema. Sie hat ihn mit einer anderen gesehen. Doch sie ist nicht mehr traurig, sie ist mittlerweile wütend, auf ihn hereingefallen zu sein. Ich schlage ihr vor, es zur Abwechslung mal anders herum zu versuchen. Sie solle einfach mal einen Kerl verführen, um ihn am nächsten Morgen sitzen zu lassen. Ich male ihr die Situation aus, wie sie morgens mit dem Satz „Ich glaube, ich habe mich vertan!“ das Weite sucht. Sie lacht herzlich und wirft mir vor, dass ich eine schlimme Fantasie habe. Ich erwidere, dass ich nur ihre verdrängte Bedürftigkeit ausdrücken würde.
Das trifft sie, und sie weint ein wenig, dass sie in der Liebe so ein Pech hat. Dann meldet sich ihr Magen und knurrt laut. Das ist ihr peinlich. Sie hat noch nicht gefrühstückt. Ich frage sie, was sie gerne zum Frühstück isst. Sie mag gerne Brötchen mit Gurken-Curry-Creme. Ich erkläre ihr, dass das echt pervers sei: Gurken-Curry-Brötchen zum Frühstück! Ich frage sie, was sie täte, wenn sie gefrühstückt habe und der Hunger gestillt sei: Aufstehen und gehen. Sie versteht sofort die Doppelbotschaft und erinnert sich, dass ihre beste Freundin ihr neulich mitgeteilt habe, dass sie in ihrer Singlezeit den besten Sex gehabt habe. Ich beende die Sitzung vorzeitig und wünsche ihr einen guten Appetit.

3.7 Weitere Leitlinien
Eine ambulante Psychotherapie ist ein vielschichtiger Prozess. Weitere Methoden, die bei Frau Freundlich zum Einsatz kamen, sind Standards der psychotherapeutischen Behandlung und werden daher hier nicht weiter vertieft, z.B. die Disputation von (co-)abhängigen Einstellungen, depressions- und angstbewältigende Techniken oder traumaspezifische Strate­gien. Frau Freundlich ist in der Mitte der Psychotherapie angelangt. Vieles ist angestoßen, einiges sollte noch gefestigt werden, und es werden weitere Themen auftauchen. Beispielsweise könnte sie sich mit der Beziehung zur Mutter auseinandersetzen und ihr Selbstbild als selbstbestimmte und attraktive Frau stärken. Wie sie die Therapie nutzt, liegt allerdings allein in ihren Händen. Sie hat die Verantwortung für die Inhalte und den Prozess. Das ist der Kern jeder Behandlung von Abhängigkeit und auch Co-Abhängigkeit.

4. Diskussion
Am typischen Fall von Frau Freundlich wird deutlich, dass Angehörige nicht nur mit-betroffen sind, vielmehr selber vielschichtig psychisch erkranken können. Eine Mit-Behandlung reicht nicht aus. Betroffene benötigen ebenfalls spezielle Hilfen. Wie kritisch zu vergegenwärtigen ist, hatte Frau Freundlich großes Glück, auf eine in der Angehörigensache engagierte Suchteinrichtung gestoßen zu sein. An vielen anderen Orten hätte sie keine adäquate Unterstützung erhalten.
Ein Leitsatz der modernen Suchtprävention und -behandlung lautet, dass Abhängigkeit ein soziales System darstellt. Nicht das Symptom, sondern das System sei demnach zu behandeln. Doch die Suchthilfe – wie auch andere Bereiche psychosozialer Hilfe – ist nach wie vor vornehmlich symptomzentriert aufgestellt. Blickt die Suchthilfe über den suchtfixierten Tellerrand hinaus, besteht darin eine große Chance, ein besseres Hilfesystem zu entwickeln. Wenn die Angehörigen endlich als Zielklientel akzeptiert würden, gäbe es viel mehr Ansatzmöglichkeiten, präventiv, beratend und therapeutisch tätig zu werden.
Darüber hinaus würde es den Weg dafür ebnen, die Kooperation und Vernetzung mit anderen Hilfestrukturen zu verbessern. Das symptomorientierte Gegeneinander von Sucht- und Jugendhilfe würde durch einen solchen Paradigmenwechsel überwunden werden. Systemorientiert könnten die beteiligten Stellen an ein und demselben Strang ziehen. Sowohl Suchtkranke als auch Angehörige und Kinder wie Frau Freundlich könnten in Zukunft gleichberechtigt Beachtung und Unterstützung finden.

Der Autor:

Jens Flassbeck
Diplom-Psychologe, Gesprächspsychotherapeut, Suchttherapeut, Fachbuch­autor und Experte der Angehörigen­problematik der Sucht; tätig in der Klinik für Suchtmedizin des LWL-Klinikums Gütersloh; arbeitet ambulant und teilstationär mit Angehörigen und Suchtkranken.

LWL-Klinikum
Buxelstr. 50
33334 Gütersloh
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Literatur:

Barnowski-Geiser, W. (2015). Vater, Mutter, Sucht. Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden können. Stuttgart: Klett-Cotta.
Barnowski-Geiser, W. (2009). Hören, was niemand sieht. Kreativ zur Sprache bringen, was Kinder und Erwachsene aus alkoholbe­lasteten Familien bewegt. Neukirchen-Vluyn: Semnos.
Flassbeck, J. (2010). Co-Abhängigkeit. Diagnose, Ursachen und Therapie für Angehörige von Suchtkranken. Stuttgart: Klett-Cotta.
Flassbeck, J. (2014). Ich will mein Leben zurück! Selbsthilfe für Angehörige von Suchtkranken. Stuttgart: Klett-Cotta.
Kemper, U. (2007). Die Entwicklung des Begriffs „Co-Abhängigkeit“. Angehörige von Suchtkranken zwischen Selbstbefreiung und Stigmatisierung. Konturen, 28, S. 8–11.
Klein, M. (2005). Kinder und Jugendliche aus alkoholbelasteten Familien. Stand der Forschung, Situations- und Merkmalsanalyse, Konsequenzen. Regensburg: Roderer.
Mellody, P. (1989). Verstrickt in die Probleme anderer. Über Entstehung und Auswirkung von Co-Abhängigkeit. München: Kösel.
Mellody, P. (1989). Wege aus der Co-Abhängigkeit. Ein Selbsthilfebuch. München: Kösel.
Rennert, M. (1989). Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet. Freiburg i. B.: Lambertus.
Schaef, A.W. (1986). Co-Abhängigkeit. Die Sucht hinter der Sucht. München: Heyne.
Schuckit, M. A., Tipp, J. E. & Kelner, E. (1994). Are daughters of alcoholics more likely to marry alcoholics. American Journal of Drug an Alcohol Abuse, 20, 237–245.
Velleman, R., Bennett, G., Miller, T., Oxfort, J., Rigby, K. & Tod, A. (1993). The family of problem drug users: a study of 50 close relatives. Addiction 88, S. 1281–1289.
Wegscheider, S. (1981). Another Chance – Hope and Health for the Alcoholic Family. Paolo Alto: Science and Behavior Books.
Zobel, M. (2006). Kinder aus alkoholbelasteten Familien. Entwicklungsrisiken und -chancen. Göttingen: Hogrefe.

Praxisvorstellung

Praxisvorstellung – Musiktherapie-Initiative e. V.

Von Tina Posselt

Die Praxisvorstellung hat diesmal einen anderen Charakter als in den früheren Ausgaben. Vorgestellt wird ein gemeinnütziger Verein, der mit dem Ziel gegründet wurde, musiktherapeutische Angebote für geflüchtete Menschen zu machen. Wir haben Tina Posselt nach Erfahrungen, Zielen und Hintergründen gefragt.

Frau Posselt, Sie haben die „Musiktherapie-Initiative e. V.“ mit gegründet. Bitte stellen Sie den Verein doch kurz vor.
Die Musiktherapie-Initiative e. V. wurde Ende 2013 in Hamburg gegründet und ist seither als gemeinnütziger Verein im Raum Hamburg und Berlin/Brandenburg aktiv. Bisher arbeiten wir ausschließlich ehrenamtlich mit und für geflüchtete Menschen, die nach Deutschland gekommen sind. Unser Angebot richtet sich primär an Minderjährige, dennoch ist die musiktherapeutische und psychotherapeutische Versorgungslücke so groß, dass auch alle anderen Altersgruppen willkommen sind.

In welcher beruflichen Situation wurde der Verein von den Beteiligten gegründet?
Zum Zeitpunkt der Vereinsgründung waren fünf von sieben Gründungsmitgliedern noch in den Studiengang Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg eingeschrieben. Somit war es eigentlich eine studentische Initiative. Dennoch waren die Erfahrungen aus den vo­rangegangenen Berufswegen und den ersten musiktherapeutischen Praktika vielschichtig. Allen gemeinsam war jedoch, dass wir bis dahin mit der Zielgruppe „Flüchtlinge“ wenig bzw. gar keine Erfahrung besaßen und uns mit unserem Vorhaben auf ziemliches Neuland begaben.

Erzählen Sie bitte von den Rahmenbedingungen und der Konzeption Ihrer Arbeit mit geflüchteten Menschen.
Gute Rahmenbedingungen für die Arbeit mit geflüchteten Menschen zu schaffen, ist in der Regel sehr schwierig. Das beginnt oft schon mit der schlechten Erreichbarkeit der Einrichtungen. Viele Unterkünfte befinden sich am Stadtrand, weshalb der Weg schon eine Hürde sein kann. Vor Ort selbst fehlen dann häufig entsprechende Räumlichkeiten, sodass keine Möglichkeit für ein geschütztes therapeutisches Angebot besteht. In solchen Fällen bieten wir dann offene Singgruppen oder auch kleine Instrumentenbauworkshops an. Allerdings fehlen dann auch häufig Lagermöglichkeiten, sodass Instrumente und Material jeweils mitgebracht werden müssen. Zudem ist in den Einrichtungen meist die Fluktuation der Bewohner sehr hoch, sodass wir ausschließlich im Hier und Jetzt arbeiten. Ein weiteres Problem sind die Finanzen. Alle Vereinsmitglieder engagieren sich ausschließlich ehrenamtlich. Bisher konnten wir für ein Projekt Gelder einwerben, allerdings fehlt es immer an der Deckung der Honorarkosten.

Haben Sie überhaupt eigene Räumlichkeiten?
Die Musiktherapie-Initiative e. V. hat im Moment noch keine eigenen Räume. Wir arbeiten vielmehr aufsuchend und gehen direkt in die Einrichtungen. Vor Ort ist der Kontakt zu den Bewohnern leichter herzustellen, zudem besteht auch immer ein guter Kontakt zur Einrichtungsleitung bzw. der jeweiligen leitenden Organisation.
Auf lange Sicht wünschen wir uns einen kleinen Therapieraum – das ist allerdings noch Zukunftsmusik.

Nach welchem Konzept arbeiten Sie? Was hilft in Ihrer Therapie?
Unsere musiktherapeutische Arbeit basiert auf einer psychodynamischen Grundhaltung, bei der die Beziehung zwischen Klient und Therapeut im Vordergrund steht. Somit sehen wir Musiktherapie als Beziehungsarbeit. Unsere Arbeitsweise für Menschen mit traumatischem Hintergrund aus Flucht- und Kriegserfahrungen ist ressourcenorientiert und strukturfördernd. Dabei steht die Stabilisierung des Gesamtzustandes primär im Vordergrund.
Besonders kulturell und sprachlich entwurzelte Menschen können von einer musiktherapeutischen Begleitung profitieren, da Musik es ermöglicht, eine Brücke zu den eigenen Wurzeln und Heimatgefühlen zu schlagen, die im aktuellen Erleben in der Fremde verschüttet sind. In unserer musiktherapeutischen Arbeit stehen deswegen die Suche nach den persönlichen Ressourcen, die Herstellung von Sicherheit und die Stärkung des Selbstempfindens im Vordergrund. Wir nutzen die Musik als Stütze und Anker und im Sinne ihrer strukturierenden Funktion. Trotz verbaler Sprachbarrieren sind uns in der Musiktherapie durch das gemeinsame Singen und Improvisieren keine, außer eventuell kulturelle, Grenzen gesetzt. Für viele Teilnehmer ist allein die Möglichkeit, sich nach langer Zeit wieder auf eine vertraute Weise Ausdruck zu verschaffen, eine wirkliche Bereicherung.
Wir passen unsere Herangehensweise allerdings der Art der Einrichtung an. In zentralen Erstaufnahmen werden ausschließlich offene Angebote gemacht, wobei der therapeutische Aspekt nur sekundär zum Tragen kommt. In diesen Einrichtungen geht es vielmehr um ein allgemeines Miteinander und um das Anknüpfen an Vertrautes.
In Folgeunterbringungen steht die Therapie deutlich mehr im Fokus. Hier schauen wir gemeinsam mit der Einrichtung, welche Personen therapiebedürftig sind, und bemühen uns um ein festes Setting. Die Musiktherapie findet dann in einem kleinen Gruppensetting statt, wobei die Musiktherapie in Form von Patenschaften für die jeweiligen Personen finanziell unterstützt werden sollen.

Mit welchen Anliegen, Leiden oder Krankheiten können sich Menschen an Sie wenden?
In der Regel ist es noch so, dass wir auf die Menschen zugehen und ein offenes Angebot in der Einrichtung starten. Diejenigen, die sich angesprochen fühlen oder neugierig sind, kommen dann dazu. Es gibt für diese offenen Angebote keine Indikation.
In den Folgeunterkünften schauen wir dann mit den Sozialarbeitern bzw. den jeweils Zuständigen, welche Personen eine therapeutische Begleitung benötigen. Dabei sind Anzeichen für eine posttraumatische Belastungsstörung, aggressives oder depressives Verhalten erste wichtige Indikatoren für uns.

Wie klingt die Musik, die Sie mit Patientinnen machen oder die Sie ihnen vorspielen?
Die Musik, die wir gemeinsam machen, ist sehr dynamisch, zum Teil gewaltig im Ausdruck und oft sehr berührend. Nicht selten mischen sich die verschiedensten kulturellen Klänge miteinander. Unter den Trommelschlag aus Eritrea mischt sich der Gesang eines Romamädchens, das sich mit dem Schellenkranz in der Hand tanzend durch den Raum bewegt. Ein Vater sitzt mit seinem Sohn eben noch am Eingang des Zelts und wird im nächsten Moment von dem Sog der Musik zum Klatschen in die Menge geholt. Bevor das nächste Lied erklingt, hören wir das Solo eines jungen Mannes aus Afghanistan, dem wir eine Trompete organisieren konnten. Nach gebanntem Staunen und viel Applaus stimmt sich die Runde wieder auf einen Rhythmus ein, und ein Lied in kurdischer Sprache wird mit viel Gefühl vorgetragen, während die restlichen Teilnehmer den Background ausgestalten. So entstehen immer neue Klangteppiche, in die die vielfältigsten kulturellen Anteile mit einfließen. Kleine Anfangs- und Endrituale runden jede Begegnung ab.

Schildern Sie doch mal eine typische Situation aus Ihrer Arbeit.
Eine sehr typische Situation, die uns in verschiedenen Kontexten begegnete, wäre folgende: Zwei Musiktherapeutinnen sind gerade in einer Einrichtung und gestalten ein offenes Angebot, wobei hauptsächlich gesungen und auf kleinen Instrumenten musiziert wird. Die Runde wird immer größer, Väter bringen ihre Kinder mit, und die beiden Gruppenleiterinnen versuchen die Atmosphäre trotz des vielen Kommens und Gehens positiv zu gestalten, sodass der musikalische Strom nicht abreißt. Doch dann kommt ein Mann auf das Gelände, der einen Fußball bei sich trägt. Innerhalb von 30 Sekunden ist das Zelt, bis auf drei kleine Mädchen, leer. Die musikalische Spannung fällt jäh in sich zusammen und wird auf das leise Rasseln der Mädchen reduziert. Die Musiktherapeutinnen setzen sich zu ihnen und begleiten das Spiel, bis schließlich nach mehreren Minuten das erste Kind vom Fußballspielen zurückkommt und die Runde nach und nach wieder wächst.

Das klingt schwierig, aber auch irgendwie bewegend…
Eine Situation, wie oben beschrieben, vereint mehrere Aspekte: Sie ist schwierig, weil der Mann so unvorhersehbar auf das Gelände kam und den Therapeutinnen die Arbeitsgrundlage fast völlig nahm. An dieser Stelle waren Flexibilität, Kreativität und Gelassenheit der Therapeutinnen sehr gefordert.
Lustig war es insofern, als deutlich wurde, welche Magnetwirkung ein Fußball auf unsere Gruppe hatte und wie schnell sich ein halbwegs sicher geglaubtes Setting verändern konnte. Und glücklich war letztendlich, dass die Therapeutinnen diesen rapiden Abbruch mit den drei Mädchen überbrückten und so zum Ende hin noch einmal etwas Neues entstehen konnte.

Welche Idee im Bereich der Musiktherapie würden Sie gerne verwirklichen, wenn Sie ausreichend Zeit und Mittel hätten?
Wenn ausreichend Zeit und finanzielle Mittel zur Verfügung stünden, würden wir gerne eine kleine Evaluation unserer Arbeit machen und uns intensiver mit den kulturellen Unterschieden in der Musik und dem gemeinsamen Musizieren auseinandersetzen.

 

Bei Fragen und Interesse an der aktiven Mitarbeit im Verein wenden Sie sich bitte per E-Mail (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!) an uns oder besuchen unsere Webseite unter www.musiktherapie-initiative.de.

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Asklepios Westklinikum Hamburg

Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Von Constanze Eigenwald Anna-Lena Fiedler

Vorstellung der Institution
Das Westklinikum Hamburg liegt in Rissen, dem westlichsten Stadtteil Hamburgs, der an Schleswig-Holstein grenzt. Rissen, das zu den Elbvororten gerechnet wird, war ursprünglich ein beschauliches Elbdorf. Man merkt dem Ort durchaus noch seine ländlichen Wurzeln an. Es bietet mit dem Falkensteiner Forst, dem Wildgehege am Klövensteen, dem Naturschutzgebiet Wittenberger Heide und den wildromantischen Elbwiesen an der Unterelbe viele Naherholungsgebiete.
Das Klinikum wird seit dem Jahr 1946 in der ehemaligen Luftwaffenkaserne Rissen betrieben. Bis 2001 war es als Deutsches-Rotes-Kreuz- und Freimaurer-Krankenhaus Hamburg-Rissen bekannt und gehört seit 2001 zum Unternehmensverbund der Asklepios-Kliniken.
Aufgrund seiner seit 2008 bestehenden Zusammenarbeit mit der Kieler Christian-Albrechts-Universität gehört es zu den akademischen Lehrkrankenhäusern und ist Schwerpunktversorger mit Abteilungen wie Chirurgie, Innere Medizin, sprechende Medizin (Psychosomatik und Psychiatrie) und Geriatrie.
In dem Klinikum mit insgesamt 440 Betten arbeiten ca. 750 Mitarbeiter.
Die psychosomatische Abteilung besteht seit 25 Jahren und ist sowohl auf stationäre (mit 85 Betten) als auch auf tagesklinische (40 Plätze) sowie ambulante Behandlung spezialisiert. Auf mehreren Stationen konzentriert sich die Behandlung auf unterschiedliche Schwerpunkte. So gibt es die Station und Tagesklinik für Essstörungen, eine Station für Jungerwachsene, eine Kriseninterventionsstation und eine Station für Schmerz-, Alter- und Depressionsschwerpunkte. Die Therapien in der Abteilung greifen auf ein breites Methodenspektrum zurück: tiefenpsychologische sowie kognitiv-verhaltenstherapeutische Einzel- und Gruppentherapien, Musik- und Kunsttherapien, Körpertherapien, Sozialberatung, Feldenkrais, Shiatsu, verschiedene Achtsamkeits- und Entspannungsverfahren sowie physikalische Therapien und Krankengymnastik. Außerdem kommen medikamentöse und medizinisch-somatische Behandlungen zur Anwendung.
Musiktherapie ist auf zwei Stationen verankert, in denen hauptsächlich Depressionen, Erschöpfungssyndrome, Panikstörungen und weitere Angsterkrankungen behandelt werden. Somatoforme Beschwerden und funktionelle Störungen, Traumafolgestörungen, chronische Schmerzerkrankungen, Störungen der Krankheitsverarbeitung und Alterskrisen ergänzen das Spektrum. Die Behandlungsdauer auf beiden Stationen beträgt 4–8 Wochen.

Behandlungsstruktur am Beispiel der Kriseninterventionsstation
Die Kriseninterventionsstation umfasst 28 Betten. Der Schwerpunkt der Behandlung liegt auf der Gruppenpsychotherapie. Die Patienten werden je nach Erkrankungsbild und Indikation einem von drei Kreativtherapieverfahren zugeteilt, welche die höchste Behandlerfrequenz darstellt. Sie erhalten wöchentlich vier Sitzungen (à 90 Minuten) Gruppenmusiktherapie, Tanz- und Bewegungstherapie oder Kunsttherapie. Zusätzlich zum Kreativverfahren erhalten die Patienten zwei Mal Gruppenpsychotherapie und zwei kürzere Einzeltherapie-Sitzungen. Eine engmaschige Betreuung durch Visiten begleitet die Behandlung. Zusätzlich können je nach Indikation Feldenkrais, Shiatsu, Funktionsgymnastik, Krankengymnastik, Nordic Walking und Psychoedukation verordnet werden. Umrahmt wird die therapeutische Behandlung von Morgen- und Abendangeboten, welche von den Patienten stationsübergreifend wahrgenommen werden. Es besteht die Möglichkeit am Chor, der Meditation, Yoga sowie an Angeboten wie „Am Morgen vorgelesen“ und „Bewegung am Abend“ teilzunehmen. Ein hoch qualifiziertes Pflegepersonal steht den Patienten durchgehend zur Verfügung.

Aufnahme zur Gruppenmusiktherapie
Der Patient wird zunächst vom Pflegepersonal mit der Station vertraut gemacht. Nach der psychologisch-diagnostischen Aufnahme und eingehender ärztlicher Untersuchung wird die umfassende Anamnese des Patienten im multiprofessionellen Team vorgestellt. Ein Behandlungsfokus wird entwickelt und das kreativtherapeutische Verfahren bestimmt. Im Verlauf der Behandlung wird täglich die Entwicklung des zu behandelnden Patienten durch Teamsitzungen der Behandler begleitet.
Wird eine interaktionell psychodynamische Gruppenmusiktherapie festgelegt, wird ein Vorgespräch vereinbart, in welchem nach musiktherapeutischer Anamnese ein therapeutisches Arbeitsbündnis erarbeitet wird.

Grundlagen der psychodynamischen Arbeitsweise in der Musiktherapie
In der interaktionell psychodynamischen Gruppenmusiktherapie wird sich der Patient zunächst im Gruppengespräch wiederfinden. Das sich entwickelnde Gruppenthema wird im Verlauf der Sitzung in die freie Improvisation mit Musikinstrumenten „übersetzt“ und findet hier seine nonverbale Ausdrucksform. Besondere Berücksichtigung finden dabei die sich herausbildenden Erlebnis-, Einstellungs- und Verhaltensmuster, unbewusste (Re-)Inszenierungen, aber auch psychovegetative und physiologische Reaktionen.
Der Therapeut gestaltet die musikalische Handlung aktiv mit. Wie in den verbalen Interventionen wird der Patient hier nonverbal über stützende, konfrontierende, spiegelnde Improvisationstechniken begleitet. Eine musikalische bzw. instrumentale Vorbildung des Patienten ist nicht nötig, da die musiktherapeutische Improvisation keinerlei Ansprüche an Fähigkeiten oder Virtuosität stellt.
Der nonverbale Charakter der Musik eröffnet den Zugang zu menschlichen Erfahrungsqualitäten, die vor der Zeit des Spracherwerbs liegen. So gelangt der Patient zu tiefem archetypischen Material, zu welchem er in ausschließlich verbalen analytischen Therapien nur selten gelangt. Er hat so die Möglichkeit, frühkindlich verdrängten Konflikten ungefiltert im musikalischen Kontakt/Beziehung zu begegnen. Das Konfliktpotenzial wird in der Improvisation „ungefährlich“ (Instrument als Übergangsobjekt) ausagiert und reflektierbar. Alte Emotionen werden mobilisiert, vergangene Erfahrungen intensiviert und vertieft und psychische Abwehrmechanismen werden gemildert. Im folgenden Gruppengespräch wird die Bewusstwerdung unbewusster Motivationen und Konflikte bearbeitbar.
Wenn man dem topographischen Modell Freuds folgt, in welchem vom seelischen Geschehen zwischen (unbewussten) Primärprozessen und Sekundärprozessen (bewusste Prozesse) ausgegangen wird, stellt man fest, dass Musik einzigartig mit der psychischen Energie korrespondiert.

Abschließend
Die intensiven Erfahrungen in der interaktionell psychodynamischen Musiktherapie werden durch die Gruppenpsychotherapie und die einzelpsychotherapeutischen Gespräche stützend begleitet.
Im Verlauf der Behandlung wird mit dem Patienten eine individuelle poststationäre Weiterbehandlung besprochen. Es besteht die Möglichkeit, nach der Entlassung auf der Station an einer poststationären Gruppenpsychotherapie oder Gruppenmusiktherapie teilzunehmen.

Die Autorinnen:

C. Eigenwald
Diplom-Musiktherapeutin, Studium an der FH Magdeburg-Stendal, Mitglied im Arbeitskreis „Musiktherapie in der Psychosomatik“ (DmtG). Seit 2006 im Bereich der Psychosomatik tätig, seit 2011 tätig in der Psychosomatik Rissen.

A.-L. Fiedler
Dipl. Musiktherapeutin DmtG, Psychotherapie HPG, Gruppenpsychotherapie, Musiktherapeutische Schmerztherapeutin.

Inhaltsverzeichnis

Editorial
Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Asklepios Westklinikum Hamburg
Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Constanze Eigenwald/Anna-Lena Fiedler

Praxisvorstellung
Musiktherapie-Initiative e. V.
Tina Posselt

Patienteninterview
Burnout, Depression, Sucht
Alexandra Takats

Schwerpunktthema
Gegen den Strom schwimmen lernen
Der co-abhängige Fall Frau Freundlich
Jens Flassbeck

Schwerpunktthema II
Tabu trifft … Musiktherapie. Zur Arbeit mit Kindern
und erwachsenen Kindern suchterkrankter Eltern
Waltraud Barnowski-Geiser

Ausbildung
Master „Musiktherapie für Menschen mit Behinderung
und Demenz“ der Hochschule für angewandte Wissenschaften
Würzburg-Schweinfurth
Jasmin Werner/Tim Oberhauser

Tagungsberichte Forschung Wissen
Begegnungen – Musiktherapie und ihre Identität
Sylvia Kunkel

Eindrücke der Werkstatt für musiktherapeutische
Forschung in Augsburg vom 12.–13.02.2016
Danielle Busboom

Psychotherapie, Musik und Religion
Jörg Zimmermann

Capriccio celebrale
Vom Rausch der Klänge – Musik und Sucht(-therapie)
Thomas Stegemann

Menschen und Orte: News und Hochschulnachrichten

Buch und Medien: Bücher zum Schwerpunktthema

Zum Mitmachen
Musiktherapeutisches im Alltag
Musik als Weg – Vom Gedankenlärm in die Stille
Selma Suzan Emiroglu

Praxismodelle
Kleines Mitmachkonzert/Mitmachmusik
Hans-Helmut Decker-Voigt

Kolumne AufgeMuGt
Vom Umgang mit ppt
Hans-Helmut Decker-Voigt