Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

Der Gang über die Schwelle – ein Naturritual

Die vergangenen Monate des Coronalockdown haben den meisten von uns einiges abverlangt. Von vielen Menschen, die ich durch diese Zeit hindurch begleiten durfte, habe ich erfahren,
dass ihnen die Natur bei der persönlichen Krisenbewältigung eine sehr wichtige Unterstützung war, eine Beruhigungs-, Trost- und Seelennahrungs-Quelle in der allgemeinen Verunsicherung. Ich hörte, dass sie sich angewöhnten, täglich alleine lange Spaziergänge zu machen, was ihnen half, sich im Kontakt mit den Naturelementen zu zentrieren und Kraft zu tanken.
Inspiriert von einem uralten schamanischen Ritual möchte ich Sie heute anregen, ihren nächsten Spaziergang ganz bewusst einmal anders zu gestalten, nämlich als „Schwellengang“. Dieser benötigt als Voraussetzung allerdings Ihre Bereitschaft, die Natur nicht nur zu „benutzen“: für Erholungszwecke, als Projektionsfeld für Sehnsüchte, zum trendigen „Waldbaden“, zur Stärkung der Immunkräfte u.a. Vielmehr möchte ich Sie einladen, sich mit der Haltung des Staunens, des Nichtwissens, der Offenheit und der Neugier auf den Weg zu machen, und zwar mit der Bereitschaft, sich überraschen zu lassen und einem kleinen Ausschnitt der Natur als ihren „Lehrmeister“ zu begegnen. Diese innere Haltung, die der Natur mit Respekt begegnet und alles, was existiert als beseelt ansieht, stammt menschheitsgeschichtlich aus einer archaischen Zeit, mit der wir z.B. über unser Stammhirn und dort über unser Atemzentrum in jedem Atemzug immer noch unmittelbar verbunden sind.

1. Vorbereitung:
Dieses Ritual lässt sich überall dort durchführen, wo Natur in der Nähe ist, ob im Garten hinterm Haus, im Park, im Wald oder in der Wildnis, spielt dabei keine Rolle. Es lässt sich auch bei jedem Wetter durchführen, wobei es für das erste Mal natürlich angenehmer ist, wenn es draußen weder kalt noch nass ist.
Nehmen Sie sich insgesamt ungefähr 60–90 Minuten Zeit, statten Sie sich aus mit Schuhen mit weicher Sohle, so dass Sie die Beschaffenheit des Bodens unter Ihren Füßen gut spüren können. Stecken Sie sich einen Stift ein, ein Heft zum Schreiben und eine Uhr. Mehr braucht es nicht. Handy, Fotoapparat, Picknick, einen vollen Rucksack mit Survival-Ausstattung und andere Ablenkungsverführer lassen Sie wenn irgend möglich daheim oder im Auto. Entscheiden Sie, wo ihr Ausgangs- und Rückkehrpunkt sein soll (z.B. am Rand des Waldparkplatzes, am Parkeingang, am Gartentor…) und ziehen Sie dort auf dem Boden gut sichtbar einen Strich. Dies ist Ihre Schwelle. Ich empfehle meist, die Schwelle dort zu installieren, wo ein ungepflasterter Weg beginnt.

2. Die Schwelle:
Sobald sie nun mit einem bewussten Schritt über diese Schwelle hinweggetreten sind, lassen Sie alles zurück, was Sie an Alltagsgedanken umtreibt. Alle Lästigkeiten, alle To-Do-Listen, alle Verantwortlichkeiten sind vorübergehend bedeutungslos. Sie werden spüren, wie Sie mit diesem bewussten Schritt über die Schwelle in einen veränderten Wahrnehmungsmodus umschalten, eine andere Wirklichkeit betreten, wie Sie ganz gegenwärtig sind, hellwach und dabei gleichzeitig entspannt.

3. Der Weg (ca. 15 Minuten):
Lassen Sie sich nun von Ihren Füßen führen, ohne irgendeinen Plan, wo diese Sie hintragen sollen. Spüren Sie die Erde unter Ihren Füßen, gehen Sie sehr verlangsamt und atmen Sie mit jedem zweiten Schritt durch Ihre Fußsohle hindurch in den Boden aus. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Mund unter Ihren Fußsohlen, durch den hindurch Sie bei jedem zweiten Schritt ausatmen. Geben Sie dem Ausatem mit, was Ihnen lästig ist, ausatmend sickert alles Überfällige in die Erde hinein. Lassen Sie sich überraschen, wohin Ihre Füße Sie mit diesen sehr bewussten, verlangsamten Schritten führen möchten. Vermutlich werden Sie sich dabei ertappen, dass Sie eine Idee im Kopf haben, wo Sie gerne hingehen möchten, wo ein besonders
schöner Platz zum Verweilen wäre. Indem Sie diese Vorstellungen ausatmend im Gehen loslassen, öffnen Sie sich dafür, dass Ihre Füße und ihr Atem Sie an einen völlig unvorhergesehenen Ort führen werden. Lassen Sie sich überraschen, ihr Körper wird Ihnen mit deutlichen Empfindungen signalisieren, wenn Sie ihn gefunden haben.

4. Die Einkehr / die Lehrzeit (15–20 Minuten):
Am Platz angekommen, sind Sie vielleicht irritiert oder verwirrt, warum ausgerechnet dieser Platz Sie „gerufen“ hat? Es wird seinen Grund haben. Umrunden Sie diesen Ort, damit geben Sie
ihm eine für Sie wahrnehmbare Grenze. Dann lassen Sie sich dort nieder, im Sitzen oder auch im Stehen. Sie lauschen, spüren, schnuppern und schauen sich um, wo Ihre Füße Sie hingeführt haben.
In diesem Augenblick fällt ihr Blick auf einen kleinen Ausschnitt dieser Naturfülle oder Ihr Atem bleibt an einer Stelle außerhalb von Ihnen ruhen. Dies kann ein Stein sein, eine Blüte, ein
Zweig, ein Blatt, ein Wassertropfen, ein Baum… Egal wie groß oder klein, wie schön oder „hässlich“, geeignet ist dabei ein Naturobjekt (Pflanze, Tier, Mineral, Pilz …), das sich in Ihrer Nähe befindet und sich nicht fortbewegt. Stellen Sie sich vor, dass dieses „beseelte Wesen“ jetzt mit Ihnen Kontakt aufnimmt.
Richten Sie nun Ihre ganze Aufmerksamkeit darauf. Lassen Sie Ihren nächsten Ausatem hinüberströmen, es an einer Stelle berühren und den nächsten Einatem wieder zu sich zurückkehren.
Bauen Sie auf diese Weise eine Atembrücke auf, auf der Sie hin und hergleiten, so dass Sie das Naturwesen mit dem Atem an verschiedenen Stellen berühren, es immer besser kennenlernen und der Kontakt sich intensiviert.
Nachdem Sie auf diese Weise eine Weile hin- und hergependelt sind, gleiten Sie nun mit Hilfe Ihrer Vorstellungskraft in dieses Naturwesen hinein, versetzen sich in es hinein, verschmelzen
mit ihm. Seien Sie offen für das, was Sie unzensiert erfahren von diesem Wesen, diesem Baum, diesem Stein, dieser Feder, diesem Wassertropfen. Ihr biologisch-wissenschaftliches
Vorwissen dürfen Sie dabei getrost vorübergehend in Urlaub schicken.
Wie ist die Existenz dieses Wesens?
Was macht es aus?
Wie ist es verbunden mit allem?
Was lehrt es Sie?
Wie ist seine Zeitwahrnehmung?
Hat es eine Botschaft an Sie?

5. Die Zeit des Ausdrucks (10–20 Minuten):
Kehren Sie nun auf der Atembrücke wieder ganz zurück in Ihren menschlichen Körper. Lassen Sie mit dem nächsten Ausatem Töne entstehen, Gesten, Bewegungen, die dem Ausdruck verleihen, was Sie jetzt empfinden, was Sie spüren, was Sie fühlen, was Sie berührt, was Sie emotional bewegt. Vielleicht ist es anfangs ein Atemhauch-Geräusch, ein leises Summen, ein Grummeln… Nach und nach öffnet sich der Mund und es entströmen ihm Geräusche, Vokale, Laute, Töne, die sich immer weiter entfalten möchten zu einer kleinen Melodie. Erlauben Sie ihrem Körper, sich dabei zu bewegen mit dem, was er hört und spürt. Es kann sich auch eine Kommunikation zwischen den Geräuschen der Umgebung und Ihnen entfalten. Sollte jetzt ein innerer „Zensor“-Teil sich einschalten, der Ihnen diesen hörbar bewegten Ausdruck verweigern möchte, so sprechen Sie ihn an und bitten ihn, beiseite zu treten. Denn dieses Summen, dieser Gesang, diese Bewegungen, dieser Tanz sind ihr Geschenk, das Sie dem Wesen, dem Sie begegnet sind, und diesem Ort machen.
Anschließend erlauben Sie sich, das Erlebte in intuitivem Schreiben auszudrücken: vielleicht möchte ein Gedicht entstehen, eine Geschichte, in der sich die Botschaft, die Weisheit Ihres „Lehrmeisters“ aus der Natur kreativ ausdrückt.
Erst im Anschluss daran stellen Sie sich folgende Fragen, wenn Sie möchten: Was hat diese Begegnung mich gelehrt? Wie hat sie mich verändert? Was habe ich über das Naturwesen und über mich erfahren dürfen? Was berührt mich emotional, was irritiert mich, was verunsichert mich?

6. Der Rückweg (ca. 15 Minuten)
Bedanken Sie sich bei Ihrem „Natur-Lehrmeister“. Es ist dabei absolut „gleich-gültig“ wie klein oder groß dieser war, wie hübsch oder hässlich, wie bedeutsam oder scheinbar banal die Botschaft. Bedanken Sie sich auch bei dem Ort dafür, dass Sie dort zu Gast sein durften. Verabschieden Sie sich und öffnen Sie bewusst wieder die Grenze dieses Ortes. Auf Ihrem Rückweg wird vielleicht Ihr Lied Sie summend begleiten und Sie lassen im Gehen diese Begegnung in sich nachklingen. Zurückgekehrt an Ihren Ausgangspunkt treten Sie mit einem bewussten Schritt wieder über die Schwelle und kehren ganz zurück in Ihre Gewohnheitswirklichkeit, in Ihr Alltagsbewusstsein.

7. Nachklang:
Lassen Sie sich ruhig noch Zeit mit dem zer-analysierenden „Warum, Wieso, Weshalb“, die tiefere Bedeutung dieser Begegnung muss sich Ihnen nicht sofort erschließen. Manchmal offenbart
sie sich spontan, häufig aber auch erst viel später.
Abschließen möchte ich mit einem meiner Lieblingsgedichte von Rilke:

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
Rainer-Maria Rilke, 1914

Literaturtipps
Metzner, Ralph (1999). Green Psychology. Transforming Our Relationship to the Earth. Rochester, Vermont, USA: Park Street Press.
Rilke, Rainer-Maria, Tagebücher 2014. Erschienen in: Rilke Werke. Kommentierte Ausgabe. Band 2: Gedichte 1910–1926. Berlin: Suhrkamp.
Eine detaillierte Anleitung zum Tönen in der Natur, die vor langer Zeit hier in der MuG erschienen ist: Rittner, Sabine (2006). Hilfe zur Selbsthilfe: Kleine Hilfen mit Atem, Stimme, Körper. Eine Entdeckungsreise. Musik und Gesundsein 12 (2006), S. 28.
Storl, Wolf-Dieter (2004). Naturrituale. Mit schamanischen Ritualen zu den eigenen Wurzeln finden. München: AT-Verlag.

Schwerpunktthema I

Zwischen den Kulturen – musiktherapeutische Identitätssuche

Von Udo Baer

Am Beispiel einer musiktherapeutischen Einzelarbeit werde ich zentrale Aspekte interkultureller Arbeit vorstellen.

Als Elena zu mir kam, hieß sie Helen. Ihren 40. Geburtstag hatte sie in der Psychiatrie mit einem Stück Marmorkuchen gefeiert. Dort hatte sie sich zwei Wochen aufgehalten, um eine wahnhafte Episode mit aggressiven Attacken ausklingen zu lassen. „Ich möchte nie mehr in die Psychiatrie. Sorgen Sie dafür!“ Mit diesen Worten hatte sie mich begrüßt. Die Erfüllung dieses Auftrags konnte ich ihr nicht versprechen, aber ich konnte ihr versichern, dass ich mein Bestes versuchen würde, und dass Musiktherapie in jedem Fall helfen würde. Also legten wir los.

„Ich bin immer dazwischen.“
Helen wurde Mitte der 70er Jahre als Elena in Polen in einer Kleinstadt nahe Krakau geboren. Ihr vor kurzem verstorbener Vater war Pole, der Großvater väterlicherseits Bulgare. Die Mutter war deutscher Herkunft, Kriegswaise, sprach polnisch mit einem leichten Akzent, ohne mehr als einige deutsche Worte zu kennen. Beide Eltern arbeite ten in Polen als Ingenieure. Helen war als Textildesignerin in einer bekannten Modefirma tätig.
Als ich Helen bat, am Klavier mit einigen Tönen etwas über sich zu erzählen, begann sie äußerst nervös und hektisch nach Klängen zu suchen. „Das geht nicht. Ich finde mich nicht.“ Sie erzählte, dass sie sich „immer schon“ als ruhelos und dahintreibend empfunden habe. Suchend, aber ohne zu wissen, was sie suche.
„Versuchen Sie, das auf dem Klavier zu spielen.“
Sie tat es, helle Töne, zerrissen, abgehackt, unruhig.
„War das schon immer so?“
„Seit ich in Deutschland bin.“
„Und davor?“
Davor klang es zwei Oktaven tiefer, ruhiger, getragen.
Sie war zwölf gewesen, als die Familie nach Deutschland auswanderte. Auch wenn die Mutter nach Abstammung Deutsche war und in Polen oft darunter gelitten hatte, als „Hitlermädchen“ diskreditiert zu werden, waren alle in Deutschland fremd und erlebten sich als Ausländer. Zwischen dem vorher und nachher, zwischen Polen und Deutschland, gab es keine Verbindung, nur ein „Dazwischen“: „Ich bin immer dazwischen“, erzählte Helen, „des arbeitewegen finde ich auch keinen Ton für mich. Wir wollten Deutsche sein und ich lernte schnell Deutsch und paukte viel für die Schule. Doch wir hatten nie deutsche Freunde, zuhause gab es nur Besuch von Polen und im Urlaub fuhren wir immer nach Hause, nach Polen. Hier waren wir nicht richtig und da auch nicht, da waren wir die Reichen aus Deutschland, die nicht mehr richtig polnisch sprachen.“
Dieses Dazwischen-Sein ist mir bei zahlreichen Menschen aus anderen Ländern und anderen Kulturen begegnet. Mögen sie noch so perfekt die deutsche Sprache sprechen und äußerlich integriert sein, innerlich befinden sich viele im Dazwischen, im Niemandsland zwischen den Kulturen, zwischen alter und neuer Heimat. Erst recht gilt dies für viele Jugendliche der zweiten Generation, in Deutschland geboren, in türkischen (oder anderen) Enklaven aufgewachsen. Das Dazwischen-Sein festzustellen und zu beklagen, ist ein erster Schritt, um sich überhaupt mit diesem Befinden beschäftigen zu können.

Hinter dem Verlorensein: die Trauer
Ich bat Helen, mit Seilen im Therapieraum einen Raum für „Polen“ (was immer sie gerade damit verbindet) und einen Raum für „Deutschland“ zu legen. Sie legte die Seile so, dass in einer Ecke ein kleiner Raum für „Polen“ entstand und gegenüber ein großer Raum für „Deutschland“. Die Fläche zwischen diese Räumen war der Raum des „Dazwischen“. Aufgefordert, sich einen Platz zu suchen, der ihrem jetzigen Befinden entspreche, stellte sie sich in den Raum des Dazwischen. „Ja, so ist das gerade. Ich bin zwar in Deutschland und ich bin es nicht.“ Ihr Blick ging hin und her, häufiger zum
Polen-Raum. Sie wirkte auf mich einsam und verloren. Als ich ihr dies mitteilte, lehnte sie das Wort „einsam“ ab, da sie ja mit zahlreichen Menschen zusammen sei. „Aber verloren, das trifft es gut. Ich komme mir oft so verloren vor.“
„Wenn Menschen sich verloren fühlen, kann es sein, dass sie etwas verloren haben. Ich schlage Ihnen ein Experiment vor, um dem Verlorensein vielleicht ein wenig mehr auf die Spur zu kommen. Bitte suchen Sie sich von den Instrumenten eins aus und gehen Sie damit wieder dorthin, wo Sie jetzt stehen.“
Sie wählte ein Blechxylofon und begann zu spielen. Erst scheppernd und schrill und wirr und wild, dann abwechselnd mit kleinen melodischen Bruchstücken. Sehr intensiv und sehr konzentriert. Sie war dabei mehr dem polnischen Raum zugewendet. Schließlich blieb sie bei einem Ton „hängen“, wiederholte ihn mehrmals. Tränen stiegen in ihre Augen.
„Was ist jetzt?“, fragte ich.
„Ich denke an meine Schulfreundin.“
Und sie erzählte von der Freundschaft, die durch die Auswanderung zerbrach. Bei späteren Besuchen waren sie sich fremd geworden.
Während sie erzählte, spielte sie oft den „Ton der Freundschaft“, wie sie ihn nannte. Dabei wurde sie traurig und wandte sich immer mehr dem „Polen“-Raum zu.
„Was haben Sie noch zurückgelassen?“
Sie erzählte und erinnerte sich immer mehr: die geliebte Großmutter, deren Kaninchen, die Lieblingsbücher, den Baum vor dem Fenster usw. Traurig zwar, doch diese Trauer war nicht verkrampft, sondern löste sich. Gegen Ende der Stunde spielte sie ein „Lied der Trauer“ auf dem Balafon, ergreifend und loslassend zugleich.
Die folgenden Stunden waren von weiterer Trauerarbeit gezeichnet. Der Prozess war schmerzhaft, aber lohnend. Trauern ist das Gefühl des Loslassens (Baer/Frick-Baer 2006). Wird aus der festgefrorenen Trauer ein Prozess des Trauerns, kommt ein fließender Prozess des Loslassens in Gang. Dazu ist es notwendig, zuerst einmal hinzuschauen und das zu betrachten wovon es loszulassen gilt. Helen war nicht mehr bewusst gewesen, was sie verloren hatte. Der konkrete Schmerz hatte sich in dem diffusen Befinden des Verlorenseins aufgelöst. Vom Verlorensein zu der Beschäftigung mit dem zu gelangen, was ein Mensch verloren hat, ist ein Weg, den ich mit zahlreichen KlientInnen zwischen den Kulturen beschritten habe. Ich kenne keine
Klientin und keinen Klienten mit einem interkulturellen Hintergrund, bei dem dieses Thema nicht von wesentlicher Bedeutung war.
Die Trauer tritt in der Regel nicht offen auf, sondern äußert sich in Unruhe und ähnlich diffusem Befinden. Wird dieser Unruhe näher nachgespürt oder wird sie zum Klingen gebracht, taucht das Gefühl des Verlorenseins auf. Der Schriftsteller W. G. Sebald bezeichnet es in seiner Erzählung „Die Ausgewanderten“ als „mir unbegreifliches Gefühl der Unverbundenheit“. Oft hat der Umstand, dass den Menschen die Tatsache, dass sie etwas verloren haben, entglitten ist, damit zu tun, wie der Abschied erfolgte. Eine Klientin beschrieb ihn, sie sei aus ihrer Heimat „herausgerissen“ worden. Helen sagte, sie sei nach Deutschland „versetzt“ worden. Als ihre Trauer wieder lebendig geworden war, erinnerte sie sich, dass alle sehr traurig waren, als sie die alte Heimat verließen, „selbst der Vater hat geweint“. Doch dann war es so, als hätte es „keine Zeit mehr“ gegeben zu trauern. Der Abschiedsschmerz war wie weggewischt, Trauern war verboten. Ich beobachte oft, dass je mehr Verlorensein entsteht, je weniger um das Verlorene getrauert werden durfte oder konnte.


Hinter dem Druck: die Scham
„Ich durfte zu Hause nur Deutsch sprechen. Wenn mein Vater von mir ein polnisches Wort hörte, bekam ich eine Ohrfeige.“ Als Helen in den Raum für „Deutschland“ ein Musikinstrument setzte und es spielte, erklang eine Atmosphäre, die sie als „Druck“ beschrieb. Die Familie musste viel arbeiten, um Geld zu verdienen und so zu leben wie die Deutschen. Die Eltern lernten auch ein wenig Deutsch, sprachen aber Polnisch untereinander. Die Tochter sollte „es einmal besser haben“ – deswegen der Druck hinsichtlich der Sprache. Der große Maßstab, nach dem in der Familie „alles“ bewertet wurde, war die Leistung, die schulische Leistung, die Leistung im Studium, die berufliche Leistung und das Geld, das verdient wurde.
Bei Familien, die auswandern oder fliehen mussten, ist dieser Druck besonders häufig und intensiv anzutreffen und scheint eine existenzielle Bedeutung zu haben. Die materielle Not des Übergangs macht ebenso Druck wie die Sorge um die Zukunft der Kinder. Den größten Druck macht das Ringen um die Identität. Wenn die eigene Identität verloren geht oder neu definiert werden soll, ist dies eine
große Anstrengung, die nach innen bedrückt und nach außen eine Atmosphäre des Drucks ausstrahlt.
Manche Familien, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind, versuchen, ihre alte Identität zu bewahren. Doch auch diese wird brüchig, vor allem aber für die Heranwachsenden der zweiten Generation. Bei polnischen und anderen osteuropäischen Familien ist oft eine große Anstrengung zu beobachten, unsichtbar zu werden, um in Deutschland wie Deutsche zu wirken und nicht aufzufallen.


In dem Drang, nicht als Zugewanderte gesehen zu werden, ist oft Scham enthalten, die Scham, „anders“ zu sein, die Scham, „nicht richtig“ zu sein. Helen erzählte oft davon, dass sie sich in der Schule geschämt hatte, weil sie die Sprache nicht konnte, oft Worte verwechselte und zudem manchmal ausgelacht wurde. Die Scham verstärkte den Druck, zu lernen und „es den andern zu zeigen“. Doch die Scham ging noch tiefer.
Einmal beschäftigte sie sich mit ihrer Mutter. Sie saß am Klavier und improvisierte, was ihr zu ihrer Mutter einfiel und was sie ihr gegenüber empfand. Wieder war viel Druck in den Klängen und in der Atmosphäre, so wie auch die Beziehung zwischen Helen und ihrer Mutter sehr bedrückend und von Druck gekennzeichnet war, ohne dass Helen benennen konnte, was denn den Druck produzierte. Sie spielte und spielte und verstummte plötzlich.
„Was ist jetzt?“
„Ich weiß nicht. Es ist still und so leer …“
„Lauschen Sie der Stille und der Leere. Wie klingt sie?“
Helen lauschte, lange Zeit.
„Ich höre Schritte.“
„Wie klingen sie?“
„Da kommt jemand die Treppe hoch. Langsam.“
„Hören Sie zu, lauschen Sie.“
„Das ist meine Mutter. Es ist Abend. Sie ist müde und kommt von der Arbeit zurück.“
Und sie erzählt, dass ihre Mutter vormittags und abends putzen ging. Wenn sie am Abend nach Hause kam, hörte Helen schon an den Schritten, wie müde sie war. „Wenn sie sehr müde
war, hat sie danach geweint. Das sollte ich nicht mitbekommen, aber ich habe es trotzdem gehört.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„Wie ging es Ihnen, wenn Sie Ihre Mutter weinen gehört haben?“
„Ich habe mich geschämt, weil sie ja für mich gearbeitet hat, damit ich zur Schule gehen kann und studieren kann. Und ich habe abends oft dagesessen und im Radio Musik gehört. Und sie hat gearbeitet.“
Ich bat sie, einen Raum der Scham zu gestalten. Sie legte mit einem Seil einen kleinen Raum aus und baute um den Raum herum eine Mauer aus Kissen.
„Der Raum der Scham ist zwar klein, da ist aber viel drin. Drumherum ist ein Mauer, damit die Scham unsichtbar bleibt. Das ist die Fassade, das ist der Druck. Dass ich mich geschämt habe, habe ich außer Ihnen noch niemanden erzählt.“
„Was ist in dem Raum an Vielem drin?“
Helen stellte vier Musikinstrumente hinein: eines für die Mutter, die sich furchtbar geschämt habe, dass sie als Putzfrau arbeitete, was niemand wissen durfte; eines für den Vater, der sich schämte, dass er vom Ingenieur zum einfachen Arbeiter „abgestiegen“ war; eines für sie selbst, die sich schämte, dass sie anders als die anderen war und dass sie ihrer Mutter nicht helfen konnte; und eines für die Besuche aus Polen, die sich ihrer Armut schämten. „Viel Scham, nicht wahr?“, meinte sie. „Und eine dicke Mauer drum herum.“ In der Weiterarbeit spielte sie die „Posaunen von Jericho“ mit einer Blockflöte, um die Mauer aufzuweichen. Als ihren „Schamfresser“ entdeckte sie ihren Mut, die eigene Scham zu zeigen und sich mit der Mutter über das Schämen auszutauschen. Ihrer beider Beziehung
verlor danach an Druck.
Auch in anderen Therapien mit KlientInnen, die zwischen Kulturen wanderten, bin ich oft der Scham begegnet. Armut und Anderssein können Anlass sein, sich zu schämen, Beschä- mungen tun ihr Übriges. Oft ist die Auswanderung auch wie bei Helens Eltern mit einem Verlust des sozialen Status’ verbunden, was Scham hervorruft. Nun haben Menschen, die sich schämen, selten die Neigung, ihre Scham öffentlich kund zu tun. Die Scham wird eher unsichtbar und unhörbar und erscheint wie die von Helen als Stille und Leere. Immer lohnt es sich, in der Therapie mit Menschen wie Helen, aus welchen Ländern sie auch kommen, auf die Scham zu achten und darauf, wie insbesondere die existenzielle Scham über Generationen weitergegeben wird. Ein solches Thema wird selten am Anfang stehen, es braucht Vertrauen.

Hinter den Brüchen: die Sehnsucht
Als Helen einen Erfahrungsprozess musizierte, erklang ein wellenförmig ansteigendes Crescendo, das plötzlich dramatisch abbrach. „So geht es mir immer wieder. Ich lass mich auf etwas ein, ich freue mich – und dann kommt die Katastrophe.“ In der Musiktherapie haben wir die wunderbare Möglichkeit, solche Prozesse erklingen zu lassen und im Erklingen zu variieren, mit ihnen zu spielen und Veränderungen zu erproben. Dabei werden Lebensmuster in Mustern des Musizierens hörbar und biografische Zusammenhänge deutlich. Ich bat Helen, das „so geht es mir immer wieder“ zu musizieren. Sie tat es auf dem Klavier, eine Viertelstunde lang und durchlebte dabei eine Fülle von Emotionen.
Bei der Arbeit mit Erregungskonturen ist es oft entscheidend, hilfreich zu fragen, was vor Beginn eines Prozesses geschah. Auch hier erklang Verlorensein – und hier wurde vor allem eine brennende Sehnsucht hörbar. Helen gab der Sehnsucht einen Raum, der fast das ganze Therapiezimmer ausfüllte. „Die Sehnsucht tut immer so klein und unscheinbar. In Wirklichkeit ist die aber so groß.“ Sie wollte genauer wissen, wonach sie sich eigentlich sehnte, und legte verschiedene Instrumente in den Sehnsuchtsraum. „Bitte spielen Sie, improvisieren Sie, lassen
Sie ihre Sehnsucht erklingen. Wenn Sie sich zuhören, werden Sie hören, wonach Sie sich sehnen.“
Sie spielte und probierte vieles aus. „Zuerst dachte ich, ich sehne mich danach zurück, wie es früher war, wieder nach Polen. Aber das war es nicht. Das ist vorbei.“ Helen macht damit eine Erfahrung, die ich von vielen Menschen zwischen den Kulturen kenne. Oft ist die Sehnsucht zuerst einmal rückwärtsgewandt. Doch viele entdecken in der Sehnsucht neue Qualitäten. Helen entdeckte in ihrem Raum der Sehnsucht: „Ich will selbstverständlich werden.“


Aktion Brückenschlag
Das große Drama der Verbindungslosigkeit begann für Helen mit dem abrupten Verlust ihrer polnischen Heimat. „Plötzlich war ich im Westen. Plötzlich war alles anders.“
In jeder Therapie mit entwurzelten Menschen geht es irgendwann darum, diesen Weg von dem einen Ort zum anderen noch einmal zu gehen und damit einen inneren Weg zu beschreiten, der eine Verbindung ermöglicht, einen Brückenschlag, einen Übergang. Gelingt dieser Übergang, verbindet sich auch innerlich in dem Menschen etwas und wächst ein Boden für die Entwicklung der eigenen Identität bis hin zu einem Boden des Selbstverständlich-Seins.
Helen baute irgendwann das gleiche Szenario wieder auf, wie am Anfang beschrieben: auf der einen Seite die polnische Heimat und Vergangenheit, auf der anderen Seite die deutsche Gegenwart. Doch diesmal verlor sie sich nicht im Dazwischen, sondern stand auf der polnischen Seite, wohin sie über die Trauerarbeit wieder Zugang gefunden hatte. Sie sagte: „Hier komme ich her. Damals bin ich wie ein Vogel von hier nach drüben geflogen und war so schnell da drüben, dass ich den Übergang gar nicht mitbekommen habe. Jetzt muss das anders gehen, jetzt will ich es anders probieren.“
„Was sehen Sie in dem Zwischenraum vor sich oder was hören Sie dort?“
„Das ist wie ein Fluss, nicht tief, aber doch kraftvoll, und ich stehe am Ufer und ich höre das Rauschen des Wassers.“
„Wie können Sie hinüberkommen?“
„Da sind Steine im Fluss. Ich kann nicht alle sehen, aber ich sehe den nächsten und ich möchte probieren, dorthin zu gehen, um zu sehen, ob es doch wieder einen nächsten gibt und ich darüber einen Weg finde.“
So begann die Aktion Brückenschlag. Sie betrat den ersten Stein und die nächsten folgten. Auf jedem Stein spielte sie Musik oder sang sie, denn in der Zwischenzeit hatte sie den Mut gefunden, ihre Stimme zu entdecken. Auf dem ersten Stein erklang ein herzzerreißendes polnisches Kinderlied. Als sie voller Tränen dieses Lied gesungen hatte, sah sie den nächsten Stein und konnte dorthin gehen. Von diesem Stein aus blickte sie zurück und spielte eine Abschiedsmusik an ihre Freunde, dankte ihnen für ihre Freundschaft in ihren Kinderjahren. Den nächsten Stein konnte sie nur erreichen, indem ich ihr von diesem Stein aus die Hand reichte und Halt gab. Und so ging es weiter, Stein für Stein, Klang für Klang durchquerte sie den Fluss.
Diese Aktion Brückenschlag war der entscheidende Prozess auf dem Weg zur Selbstverständlichkeit. Das, was vorher übersprungen worden war, konnte sich verbinden. Solche Schlüsselprozesse, in denen sich das Drama und die Lösung verdichtet, können eine Form wie bei Helen annehmen oder einen anderen kreativen Ausdruck finden. Wesentlich ist der Prozess eines Übergangs, der bewusst und schrittweise erfolgt und in dem jeder Aspekt des Erlebens erklingen darf.
Die Zugehörigkeit erstreckt sich nach solcher Arbeit nicht mehr auf die Frage: „Bin ich Polin oder Türkin oder Armenierin oder Tunesier oder Deutscher?“ Die KlientInnen fühlen sich eher den Menschen zugehörig, mit denen sie ein ähnliches Schicksal verbinden und ähnliche Herausforderungen und Aufgaben. Dieser Prozess ist auch ein Weg vom Erdulden zum Aktivwerden, ein Schritt ins Handeln, ein Akt, das eigene Schicksal in die Hände zu nehmen, nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen. Die Frage Deutscher oder Pole wird dann nicht mehr so wichtig, Helen sagte am Ende der Therapie:
„Ich nenne mich jetzt Elena, das war ich eigentlich immer und das bin ich wieder geworden. Ich bin die deutsche Elena.“

Der Autor:

Ulrich Baer
Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Musiktherapeut, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ und Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Literatur
Baer, U., Frick-Baer, G. (2004): Klingen, um in sich zu wohnen. Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie. Neukirchen-Vluyn
Baer, U., Frick-Baer, G. (2006): Vom Trauern und Loslassen. Bibliothek der Gefühle Band 8. Neukirchen-Vluyn
Baer, U., Frick-Baer, G. (2016): Flucht und Trauma. Gütersloh
Sebald, W. G. (2002): Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt am Main

Praxisvorstellung

Praxisvorstellung

Praxis für Musiktherapie

Von Christoph Salje

1981
Krachend flog die Haustür auf – etwas zu heftig, aber mein Vormittag in der Schule war einfach zu doof gewesen! Meiner Mutter murmelte ich ein „Hallo“ in die Küche, während ich direkt in mein Zimmer stampfte, den Ranzen verächtlich in die Ecke schleuderte und die Tür hinter mir schloss. Voller Wut und Frustration über das Geschehen am Vormittag setzte ich mich ans Klavier und hämmerte auf die Tasten ein. Die lauten, schrägen Toncluster taten so gut! Bilder der letzten Stunden wechselten sich vor meinem inneren Auge ab und meine Finger lieferten am Klavier den dramatischen Soundtrack dazu. In die Erinnerungen mischten sich mit der Zeit immer neue Szenen, geschaffen in reiner Phantasie, verstärkt von meiner improvisierten Klaviermusik: Wie ich meine Lateinvokabeln nun doch plötzlich perfekt aufsagen konnte (weil ich sie vielleicht ernsthafter geübt habe?). Wie ich dem doofen Matthias in unserem Streit eben doch etwas richtig Starkes erwidern konnte, statt, wie in Wirklichkeit geschehen, zu verstummen. Wie ich im Sportunterricht so wie sonst eigentlich immer auch heute beim Bodenturnen den Handstandüberschlag sauber hingekriegt habe. Die Musik veränderte sich weiter unter meinen Händen, längst war sie ruhiger geworden, und nun wurde sie harmonischer, ja, sanfter. In ihr spiegelte sich die Veränderung in meinem Gemüt wider: Ich fand meinen Frieden mit mir selbst,
war beruhigter, weil ich spürte, dass ein Tag wie dieser auch anders verlaufen konnte, dass ich etwas anders machen konnte. Einzelne Töne klangen lang nach, gesellten sich zueinander zu Wohlklängen in der Unendlichkeit angehaltener Zeit.
Leises Klopfen an meiner Tür. Meine Mutter steckte vorsichtig den Kopf herein und meinte, dass wir nun wohl zu Mittag essen könnten. Sie kannte diese Situationen von mir.
Wie oft war es mir ein Bedürfnis, meine Emotionen erst einmal dem Klavier anzuvertrauen, bevor ich überhaupt richtig darüber reden konnte! Dabei war es beileibe nicht nur wütende Musik, die dabei entstand. Ganze Triumphmärsche und Jubellieder klangen mitunter durch das Haus! Oder auch Trauermusik oder Liebeslieder für den heimlichen Schwarm. Meine Musik aus dem Moment heraus war ebenso wichtig für mich wie vergänglich, sie verklang und hinterließ ihre Spuren in mir.

Musiktherapeut – ein Traumberuf für mich
Jahre später in der elften Klasse las ich von der Methode der Musiktherapie. Sofort verstand ich ihre Wirkweise und ihr Potential. Mein Vorhaben, Psychologie zu studieren, gab ich in diesem Moment auf, um nun ohne einen „Plan B“ diesen Beruf anzustreben.
Mein Studium der Musiktherapie habe ich ab 1992 in Heidelberg begonnen. Durch die studienintegrierten Praktika konnte ich bereits Kontakte
knüpfen, die sofort im Anschluss an das Studium zu einer Anstellung im „Institut für ambulante Heilpädagogik und Psychotherapie“ in Hamburg-
Harburg führten. Während der ersten Jahre meiner Berufstätigkeit lag mein Tätigkeitsschwerpunkt in der Arbeit mit verhaltensauffälligen und/oder entwicklungsverzögerten Kindern und Jugendlichen. In dieser Phase erwarb ich diverse Zusatzqualifikationen, neben einem musiktherapeutischen Entspannungstraining erlangte ich Zertifikate in Sensorischer Integration sowie Schmerztherapie. Auch meine Prüfung für die Zulassung als Heilpraktiker (Psychotherapie) legte ich in dieser Phase ab.
In dem Wunsch, mehr in der Nähe meines Wohnortes zu arbeiten, auch um Familie und Beruf besser zu vereinbaren, gründete ich 2004 die Praxis für Musiktherapie, die sich inzwischen in Hamburg-Eppendorf befindet.

Wie arbeite ich heute?
Mein Tätigkeitsschwerpunkt hat sich seitdem sehr verändert und ich arbeite überwiegend mit erwachsenen Patientinnen und Patienten mit verschiedenen Problemen: Menschen mit Lebenskrisen, die sie ohne Hilfe nicht bewältigen können, die mithilfe gezielter musikalischer Improvisationen nach neuen Handlungsoptionen suchen, eigene Ressourcen entdecken oder sich selbst emotional klarer verorten wollen. Dabei haben einige Probleme ihren Ursprung weit in der Frühzeit der eigenen Biographie, in einem Bereich, für den die Worte fehlen, das Erlebte dennoch schmerzlich präsent ist. Hier einen Ausdruck zu finden für all das Hässliche, Verletzende, Abwertende oder Überfordernde, für all das,
was einer Menschenseele widerfahren kann, ist der erste Schritt für eine gesunde Integration der Vergangenheit in den Lebenslauf. Im gemeinsamen Spiel mit mir als verlässlichen Partner oder auch mit mir in der Rolle einer zerstörerischen Kraft, die es früher einmal gab, und die in unserer Improvisation wieder lebendig und besiegbar werden kann.
Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen finden Linderung durch eine Kombination aus Entspannungsansätzen und psychischen
Bewältigungsstrategien, die sie individuell durch spezifische musikalische Interventionen entwickeln: Sie finden beispielsweise einen Klang für ihren Schmerz, können dieses Leiden hörbar machen – und wieder zum Verstummen bringen. Auf diese Weise kann der bzw. die Betroffene zunehmend auch im Alltag erleben, wie der Schmerz zumindest zum Teil kontrolliert werden kann, anstatt ihm ohnmächtig ausgeliefert zu sein.
Auch kommen Patientinnen und Patienten mit einer neurologischen Störung zu mir. Die Förderung von Sprache und Motorik in dem Freude
spendenden und motivierenden Medium Musik kann dann als Therapieziel gleichwertig neben der psychischen Stabilisierung nach einem plötzlichen Krankheitsereignis, wie z.B. nach einem Schlaganfall, stehen. Das Erleben von Selbstwirksamkeit und der hörbare Ausdruck eigener Gefühle trotz vielleicht eingeschränktem Sprechvermögen führen zu mehr Ausgeglichenheit und Zufriedenheit.

Offen für neue Impulse
Es war meine nebenberufliche Tätigkeit als Chorleiter, die 2009 fast zufällig zu einer Kooperation mit einem Hamburger Krankenhaus führte: Eine Sängerin arbeitete dort in der Verwaltung und war auf der Suche nach Wegen, die Behandlungsangebote auf der dortigen Palliativstation zu erweitern. Eine mehrwöchige Testphase mit einem musiktherapeutischen Angebot durch mich war rasch überzeugend für die medizinischen Kolleginnen und Kollegen wie auch für die Geschäftsführung: Die unheilbar kranken Menschen, die auf der Palliativstation wegen starker Symptome wie Schmerz, Übelkeit oder Luftnot behandelt wurden, profitierten in der Einzelmusiktherapie von individuell gestalteten Entspannungsangeboten zur Symptomlinderung sowie von stützenden Gesprächen im Rahmen der Krankheitsverarbeitung. Im aktiven musikalischen Spiel erlebten sie, die schwerstkrank oftmals äußerten „Ich bin nicht mehr ich selbst!“, nun wieder ein Gefühl von Autonomie und Selbstwirksamkeit: „Das bin ich also auch!?“ Durch die Musiktherapie konnte die Lebensqualität dieser Personen meist deutlich gesteigert werden.
In dieser Phase im auslaufenden ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wurden in Hamburg mehrere neue Palliativstationen in Krankenhäusern eingerichtet und Hospize eröffnet. Durch Kontakte innerhalb der Palliative-Care-Szene entwickelte sich meine berufliche Ausrichtung so, dass ich mittlerweile mit den Palliativstationen dreier verschiedener Kliniken sowie einem Hospiz kooperiere. Es ist eine Tätigkeit, die mich immer wieder dankbar sein lässt, mit meiner Methode so unmittelbar tiefgreifend hilfreich sein zu können. Dieser Schwerpunkt bildet – ebenso wie meine Chöre – eine weitere wichtige Säule in meiner Beruflichkeit. Die dortige Teamarbeit ist ein ausgleichender Kontrast zu meiner Praxistätigkeit.

Probleme der Musiktherapie fordern Lösungen!
Diese inhaltliche Zufriedenheit in meinem Beruf ist umso wichtiger, als die Rahmenbedingungen nicht einfach sind, insbesondere vor dem Hintergrund der berufsrechtlichen Lage der Musiktherapie in Deutschland. Viele juristische Fragen sind für die Musiktherapie als Disziplin hierzulande ungeregelt. Vor allem die Tatsache, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für eine musiktherapeutische Behandlung nicht übernehmen können, ist ein stark limitierender Faktor: Nicht jeder, der von einer solchen Behandlung profitieren könnte, hat die Möglichkeit, sie auch zu erhalten. Aus diesem Grunde engagiere ich mich in meiner „Freizeit“ seit vielen Jahren berufspolitisch. In der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft, dem größten Interessenverband in Deutschland, setze ich mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen ehrenamtlich für berufsständische Fragen ein, entwickle Zukunftskonzepte für unsere Disziplin und arbeite an ihrer Anerkennung. In diesem Rahmen biete ich auch deutschlandweit Seminare für Mitglieder an. Ebenso wichtig ist mir die Förderung des Nachwuchses, weshalb ich
mit großer Freude Lehraufträge in den musiktherapeutischen Studiengängen in Heidelberg, Berlin und Hamburg erfülle.

Meine berufliche Heimat
Meine berufliche Heimat bleibt jedoch meine Praxis. Und die verändert sich in einem beständigen ruhigen Entwicklungsprozess. Neue Methoden
und Interventionen lerne ich in Fortbildungen, neue Erkenntnisse aus der Musiktherapieforschung fließen in meine Arbeit ein. Das Instrumentarium aus bekannten und ungewöhnlichen Instrumenten, mit Trommeln, Orff-Instrumenten und therapeutischen Neuentwicklungen ist über die Jahre stetig gewachsen. Ich liebe den Blick in den ruhigen Hinterhof mit dem Grün des angrenzenden Gartens – ein gern genutzter Kurzurlaub für das Auge bei leidiger Schreibtischarbeit.
Und immer wieder nehme ich nach Feierabend oder auch zwischen meinen Terminen ein Instrument zur Hand und spiele drauf los. Einfach für mich selbst, weil es mir guttut. So wie damals am Klavier in meinem Kinderzimmer.

Christoph Salje
Dipl. Musiktherapeut (FH)/DMtG, Heilpraktiker (Psychotherapie), Berufsständischer Beirat der DMtG
Lehraufträge:
Hochschule für Musik und Theater
Hamburg, Institut für Musiktherapie
Masterstudiengang Musiktherapie, Berlin
Career College, UdK Berlin
SRH Hochschule Heidelberg, Bachelor und Masterstudiengänge der Musiktherapie

Praxis für Musiktherapie
Erikastraße 100
20251 Hamburg
040 / 57 139 139
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.Musiktherapiepraxis.com

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Musiktherapie in der Alpenklinik Santa Maria

Von Constanze Rüdenauer-Speck

Klinik

Auf meinem Weg zur Arbeit sind täglich 400 Höhenmeter zu bewältigen, denn ich fahre auf dem 105 Kurven starken Oberjochpass zur Alpenklinik. Die in Hochtallage der Allgäuer Alpen auf 1200m Höhe gelegene Rehabilitationsklinik für chronisch kranke Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene hat sich als Hochgebirgszentrum zur Behandlung von Allergien und Atemwegserkrankungen national wie international einen Namen gemacht. Hier in der Kurgemeinde Bad Hindelang-Oberjoch gibt es die „beste Luft Bayerns“ – eine Messstation des Landesamtes für Umweltschutz steht auf dem Klinikgelände und weist die Luft als besonders arm an Pollen aus. Auch Hausstaubmilben können sich so viele Meter über Normalnull nur schwer ansiedeln, sodass die jährlich ca. 1.800 Patienten mit ihren Angehörigen endlich wieder frei durchatmen können. Träger der Alpenklinik Santa Maria mit ihren rund 150 MitarbeiterInnen ist die Katholische Jugendfürsorge der Diözese Augsburg e. V., eines der größten Sozialunternehmen Bayerns mit Einrichtungen der Medizin, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Beruflichen und Schulischen Bildung.
Gemeinsam mit der Klinik Hochried in Murnau und der Fachklinik Prinzregent Luitpold in Scheidegg bildet die Alpenklinik Santa Maria den Verbund der KJF Rehakliniken, der größte private Anbieter im Bereich der Kinder- und Jugendrehabilitation. Seit der Entstehung im Jahr 1949 hat sich die Klink auf die Behandlung von Kindern- und Jugendlichen mit Atemwegs- und Hauterkrankungen spezialisiert. Zu den Indikationen der Alpenklinik die Alpenklinik Santa Maria den Verbund der KJF Rehakliniken, der größte private Anbieter im Bereich der Kinder- und Jugendrehabilitation.
–– Allergisches und nichtallergisches Asthma bronchiale
–– Allergische Rhinokonjunktivitis
–– Nahrungsmittelallergien
–– Atopische Dermatitis
–– Adipositas
–– Störungen der sozialen Interaktionen
–– Fütter- und Essstörungen
Aufgenommen werden können bis zu 180 Patienten vom Säuglingsalter bis zur Volljährigkeit. Ein Teil der Jugendlichen reist ohne Eltern ins Oberjoch, gehört zur Gruppe der „Wanderfalken“. Bei den restlichen Patienten reist in der Regel ein Elternteil als Begleitperson mit an. Viele kommen wiederholt in die Alpenklinik und erreichen so Stabilität in der Bewältigung chronischer Haut- und Atemwegserkrankungen. Dazu kommen noch eine Krankenstation als Außenstelle der Augsburger Fachklinik Josefinum und unsere sog. „Igel-Gruppe“, eine Wohngruppe als Langzeitrehabilitationsmaßnahme im Rahmen der Eingliederungshilfe.
Die Patienten der Station für Fütter- und Essstörungen werden „Eichhörnchen“ genannt. Dies sind Kinder mit genetischen Erkrankungen, ehemalige Frühgeborene, Kinder mit einem äußerst gering ausgeprägten Hungergefühl oder selektivem Essverhalten. Der familienzentrierte, multimodale Ansatz macht dieses Therapieangebot bundesweit einzigartig, sodass Familien aus ganz Deutschland es nutzen.
Strukturierte Schulungsprogramme bei allen Schwerpunkt-Indikationen für Patienten und Begleitpersonen, Vortragsreihen und Gesprächskreise bilden zusammen mit umfassenden labortechnischen Untersuchungen und Messungen, medizinischen Bädern und Eincreme-Workshops die Basis jeder Reha. Hinzu kommen die psychologische Betreuung und Beratung und folgende Therapien:
–– Ernährungstherapie
–– Ergotherapie
–– Mototherapie
–– Sporttherapie
–– Physiotherapie
–– Musiktherapie
Während des vier- bis sechswöchigen Aufenthalts besuchen alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen die zur Klinik gehörende Sophie-Scholl-Schule, ein staatlich genehmigtes und schulartübergreifendes Förderzentrum mit zugehöriger Schule für Kranke, welches auch den „Igeln“ einen Schulabschluss ermöglicht. Die Schule wurde für ihr Konzept mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Schulpreis, den Kanzlerin Angela Merkel persönlich überreichte. Komplettiert wird das Klinikleben durch die pädagogische Betreuung für alle Altersstufen sowie ein vielfältiges Freizeitange bot, vom „Bergabenteuer“ und Rafting im Sommer bis zu Skikursen und Schneeschuhwandern im Winter.

Musiktherapie in der Alpenklinik
Das therapeutische Spektrum wurde im Herbst 2018 um die Musiktherapie erweitert und eine Stelle mit einem Umfang von 32 Wochenstunden geschaffen. Die Konzeption meiner Arbeit konnte ich eigenverantwortlich gestalten und auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ausrichten und wachsen lassen. Die Lebensqualität und soziale Teilhabe unserer jungen Patienten und ihrer häufig mitbelasteten Familien auszugleichen oder zumindest deutlich zu verbessern, stellt allgemein unser vorrangiges Therapieziel dar. Die Musiktherapie als künstlerische Psychotherapieform unterstützt hier die medizinische Behandlung gezielt durch die Förderung der emotionalen Verarbeitung körperlicher Erkrankung, das Aufspüren von Ressourcen und die Reduktion von Stress und Spannungszuständen. Bezogen auf einzelne Indikationen bedeutet dies für die Kinder und Jugendlichen mit Asthma eine Musikalisierung ihrer Atemwege durch Singen und Musizieren. Hier spielt das „Urinstrument“ der Alpen, das Alphorn, eine wichtige Rolle und hilft dabei, körperliche Beeinträchtigung auszugleichen und ein positives Körpergefühl aufzubauen. Adipöse Patienten werden darin unterstützt, sich von ihrer oft gehemmten Ausdrucksfähigkeit zu lösen. Im geschützten Rahmen können sie sich jenseits von Leistungs- oder Schönheitsidealen zeigen und ihr Selbstwertgefühl verbessern. Zum gemeinsamen Improvisieren steht ihnen neben den Alphörnern ein großes Instrumentarium zur Verfügung.
Ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit stellt die Behandlung von Neurodermitis und Fütter-Essstörungen dar. Besonders jüngere Kinder mit Hauterkrankungen befinden sich oftmals in einem schwer zu durchbrechenden Teufelskreis aus Jucken – Kratzen – nicht schlafen können – noch mehr Juckreiz. Hier hat sich die Klangwiege als sehr hilfreich erwiesen, wie die folgende Fallvignette zeigt: Als der sechsjährige B. 2019 das erste Mal zu mir in die Musiktherapie kam, hatte er bereits seit ca. einem Jahr nicht mehr richtig schlafen können. Seine Haut war am ganzen Körper gerötet und aufgekratzt, seine Hände rieben und strichen ohne Unterlass überall da über seine Haut, wo er irgendwie hinkam. Die Klangwiege gefiel ihm von Anfang an. B. genoss es sehr, darin liegend von mir bespielt zu werden und er kratzte weniger. Nach einer Woche kam der Kindsvater auf mich zu: „B. hat erstmals wieder schlafen können! Ich habe rückwärts die Therapiepläne studiert, um zu sehen, was wir an diesen Tagen gemacht haben. Da war er hier bei Ihnen in der Klangwiege – kann das sein?“ In Abstimmung mit dem behandelnden Arzt intensivierten
wir die Therapiefrequenz und legten die Termine in den Spätnachmittag, um B. gezielt im Tagesausklang zu entspannen und auf das folgende Eincremen einzustimmen. Tatsächlich: B. zeigte sich im Verlauf seiner Rehamaßnahme immer ruhiger und fröhlicher. Er entwickelte sogar auch große Lust zum eigenen musikalischen Ausdruck und trommelte lautstark auf die Pow Wow. Ich machte eine Tonaufnahme der Klangwiege, welche die Eltern auch zuhause würden einsetzen können; ohne Vibration dann zwar, aber ich erwartete, dass B.s Körpergedächtnis dies ausgleichen würde. Ein Jahr später kam B. wieder und die Eltern berichteten, dass zwischenzeitlich B.s Haut so gut war wie noch nie in seinem
jungen Leben und er zu einem glücklichen Schulkind geworden war. Aktuell war seine Haut leider etwas schlechter, die durch die Corona-Pandemie veränderten Lebensumstände stressten ihn. B. betrat den Musiktherapieraum und marschierte wie selbstverständlich direkt zur Klangwiege und legte sich hinein, als wolle er sagen: „Da bin ich wieder. Einmal ein Klangbad bitte!“


Gleichsam von Bedeutung in der Behandlung von Neurodermitis ist das gemeinsame Singen von Mantren. Die Lieder variieren je nach Alter der Kinder und stammen aus allen großen Weltreligionen. Für dieses Gruppenangebot für Kinder zwischen viereinhalb und zehn Jahren habe ich für jedes Mantra, teilweise nach Ideen der Kinder selbst, ein Körpermantra entwickelt. Zu „Feeling“ cremen wir uns imaginär genüsslich mit der eigens entwickelten Santa-Creme ein. Lebensfreude pur springt über, wird zum Ohrwurm und Eltern berichten, ihre Kinder sitzen abends auf ihrem Bett und singen: „Feeling good today!“ oder „I am happy, I am good“. Mit älteren von Neurodermitis betroffenen Kindern und Jugendlichen sind im therapeutischen Songwriting Lieder entstanden, die inhaltlich von ihrem Leid zeugen, aber auch dahin fühlen lassen, wie es ist, gesund und frei zu sein. Die zwölfjährige M. entwickelte mit mir eine Rockballade und sang im Refrain: „Scheiß Neuro! Ich brauch’ dich nicht mehr! Ich will frei sein und noch ganz viel mehr…!“ Sie fühlte sich in ihrer Befindlichkeit verstanden und konnte musikalisch vor allem endlich mal eines ungestraft tun: aus ihrer Haut fahren. Die zehnjährige M.B. kreierte und besang den „Drachen Juckepuck“, den sie rufen kann, damit er ihr den Juckreiz nimmt. Dieses Lied wurde in das neueste Kinder-Schulungsheft unserer Klinik aufgenommen und man kann es fast täglich irgendwo durch die Klinik tönen hören. Die Eltern dieser Patientengruppe sind meist nicht minder belastet und für sie biete ich jede Woche eine eigene Gruppe Musiktherapeutische Tiefenentspannung MTE (nach Decker-Voigt) an.
Im Bereich der Fütter- und Essstörungen richtet sich das musiktherapeutische Angebot im familienzentrierten Ansatz individuell an die besonderen Bedürfnisse der kleinen Patienten, ihre Geschwister und Eltern. Je nach Behandlungsauftrag findet die Therapie im Einzelsetting oder zur Förderung einer positiven Mutter-Kind-Interaktion gemeinsam mit der Mutter statt. Als Teil des multimodalen Behandlungsansatzes bietet die Musiktherapie hier einen freien, nicht pflegerischen, kreativen Kontakt, der absichtlich nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thema Essen steht. Die Familien sollen vielmehr sich selbst wieder einmal freudig und unbelastet erfahren. Durch das Explorieren der Instrumente und das freie Spiel damit können selbstbestimmt und angstfrei wichtige Erfahrungen gemacht werden. Mit Körperinstrumenten wie Klangwiege oder Therapiemonochord können diese Kinder in ihrer Körperwahrnehmung gefördert werden und klangliche Geborgenheit erleben. Solche Erfahrungen zu integrieren und auf andere Bereiche zu übertragen, kann vielleicht bedeuten, im Anschluss mehr Lust und Bereitschaft zum Probieren neuer Speisen zu zeigen. Oder ein Kleinkind auf dem Schoß der Mutter greift in der Geborgenheit des von mir gespielten und gesungenen Wiegenliedes erstmalig zur Trinkflasche, deren Sauger es bisher im Mundbereich nie toleriert hatte. Der Einbezug von Geschwisterkindern dient neben einem besseren Verständnis der Familiendynamik auch der Würdigung und besonderen Wahrnehmung ihrer Persönlichkeiten, eben nicht nur „Bruder oder Schwester von …“ zu sein, sondern in ihren Bedürfnissen und Befindlichkeiten gesehen zu werden. Auch die Eichhörnchen-Eltern üben mit der MTE zweimal wöchentlich gemeinsam in der Gruppe ihren Körper, Gefühle und Gedanken achtsam wahrzunehmen, Verspannungen aufzuspüren, loszulassen und wieder neue Lebenskraft zu tanken.
Unsere Igel-Langzeitpatienten bleiben ein Jahr oder sogar länger bei uns. Manche von ihnen wünschen sich in der Musiktherapie, „einfach nur
ein Instrument zu erlernen“, was einen hin- und herwechselnden Grenzgang zwischen Pädagogik und Therapie bedeutet. Andere benötigen Unterstützung in der Verarbeitung ihrer schwierigen familiären Situation, aus der sie stammen, und Hilfen auf dem Weg zur Neuorientierung und Veränderung. Mit den Igeln kann ich mich tiefer in den Prozess hineinbegeben, als dies in der Reha möglich ist. Dennoch: Vier Wochen, mit Verlängerung sechs Wochen, mag für manche kurz klingen, aber es kann tatsächlich auch für die Rehapatientinnen und -patienten immer viel aufgefangen und angeregt werden. Behandlungsrelevante Themen zeigen sich plötzlich in der Musiktherapie oder Mutter und Kind können sich auf musikalischer Ebene auf Augenhöhe wieder neu begegnen. Gemeinsames Singen und Musizieren befördert schließlich jede Menge Oxytocin, so wundert es nicht, wenn durch chronische Krankheit belastete Beziehungen zu heilen beginnen. Die letzten Lücken in meinem Wochenplan füllen das Heilsame Singen „Simantra“ als freies Angebot für alle Begleitpersonen, die Eichhörnchen-Teamsitzungen, der Austausch mit den Kolleginnen der Psychologie und die Teilnahme an der Ärztesitzung zur Besprechung der Neuanreisen. 

Corona
Wie viele Rehakliniken wurde die Alpenklinik zu Beginn der Pandemie Ende März auf Anordnung des bayrischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege geschlossen. Unmit telbar danach wurden wir als Hilfskrankenhaus eingerichtet (und Gott sei Dank nicht benötigt!). Erst zum 17. Juni durfte der Klinikbetrieb mit 50 Patienten ab sechs Jahren plus Begleitpersonen wiederaufgenommen werden. Ein Konzept mit umfangreichen Maßnahmen und Regeln wurde erstellt und wird seitdem aktuellen Geschehnissen und Erfahrungen angepasst, sodass die Patientenzahl wieder langsam gesteigert werden kann. Auch die Musiktherapie in Zeiten von Corona gestaltet sich anders. Auf Singen und Blasinstrumente spielen wird vorsichtshalber verzichtet, zumal das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in der Klinik für Patienten wie Mitarbeiter Pflicht ist. Die Kinder und Jugendlichen kommen meist einzeln, die Bildung von Gruppen ist erschwert, da sie untereinander nur in bestimmten Kohorten Kontakt haben dürfen. Auch in der Einzelbegegnung heißt es Abstand wahren, sodass das Erklären eines Instruments und Zeigen eines Gitarrengriffs manchmal Einfallsreichtum erfordert. Jetzt kommt das große „Aber“: Was könnte besser geeignet sein Brücken zu bauen als die Musik? Selbst Masken und Abstand verhindern nicht, dass die Kinder durch Musik Resonanz, Nähe und Geborgenheit erfahren. Und: Die Situation befördert, was sowieso in meiner Absicht lag und was seitens des Ärzteteams sehr erwünscht ist, nämlich das Rausgehen in die Natur! Davon erzählt der letzte Abschnitt. 

Zukunftsmusik
Für die Outdoor-Musiktherapie war bisher im Therapieplan der Kinder wie auch bei mir die Zeit knapp und es war vom Wetter her schwer planbar. In diesem Sommer wandere ich mit meinen Patienten, wann immer es irgendwie geht, den Hang hinter dem Klinikgebäude hinauf, ziehe eine Auswahl an Instrumenten im Handwagen hinter mir her. Mit Blick auf unseren 1.876 m hohen Hausberg, den Iseler, genießen es die Kinder in und mit der Natur zu improvisieren – Vogelgezwitscher und Kuhglockenklang fließen in unsere Musik mit hinein. Hier brauchen wir auch keinen Mundschutz zu tragen und sehen uns lächeln. In wenigen Wochen wird ein 2019 von mir angestoßenes Projekt wahr werden: Der Klanggarten. Die durch Spenden finanzierten, speziellen wetterfesten Instrumente aus Großbritannien werden Ende August eintreffen und aufgebaut bzw. einbetoniert werden. Dann steht mit einem Grand Marimba, Congas, im Dreiklang gestimmten zwei Meter hohen Emperor Chimes und einem Mandalafon einem ganzjährig durchführbaren Gruppenangebot nichts mehr im Weg. Es sei denn, die Instrumente versinken in meterhohem Schnee…

 

Constanze Rüdenauer-Speck
Musikpädagogik mit Hauptfach Klavier an der Hochschule für Musik Karlsruhe. Abschluss: Diplom; Berufsbegleitende Weiterbildung Gemeinschaftsbildende Musiktherapie; Europäische Akademie der Heilenden Künste e. V. Gründung und Leitung der Freien Musikschule Ettlingen Forum Musicum für Musik, Ballett, Schauspiel. Eigene Praxis Musiktherapie Allgäu:
www.musiktherapie-allgäu.de.

Musiktherapeutin an der Alpenklinik Santa Maria KJF Rehaklinik für Kinder und Jugendliche
Riedlesweg 9
87541 Bad Hindelang-Oberjoch
http://www.santa-maria.de
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Heft 38 (2020) ist erschienen!

Musiktherapie mittendrin zwischen den Kulturen

 


Anliegen der Musiktherapie ist die Begegnung der Kulturen als fruchtbaren Prozess für alle Seiten zu gestalten. Neben den positiven, folgenreichen Aspekten dieser Arbeit in diesem Mittendrin-Sein in einem sich stets wandelnden Kulturverständnis werden auch Probleme und deren Lösungsansätze thematisiert.