Zum Mitmachen
Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Sabine Rittner
„Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Stimmsolo mit Resonanzantwort aus der Gruppe
Mit dem Titelzitat von Martin Buber (1923) möchte ich Sie einladen zu einem von mir bereits Anfang der 80er Jahren entwickelten Stimmimprovisationsprozess, der mich seither in meiner Seminar- und Therapiegruppenarbeit begleitet. Es handelt sich um einen ausführlichen, ritualisierten stimmlichen Spiegelungsprozess, der die Gemeinschaft als Resonanzraum nutzt. Dazu sollten mindestens fünf Personen oder mehr anwesend sein. Die maximale Anzahl beträgt etwa zwölf Personen, alles darüber hinaus würde den Prozess zu langwierig und anstrengend machen.
Sollte keine Gruppe zur Verfügung stehen, so lassen sich die ersten Schritte der tönenden Stimmungserkundung bis zum Stichwort „Gruppenresonanz“ gut alleine ausführen, auch wenn dann auf die Resonanzantwort der Gemeinschaft leider verzichtet werden muss. Die Reflexionsfragen können in diesem Fall für sich selbst schreibend beantwortet werden.
Was Sie benötigen
– Einen sicheren, gut geschützten Raum,
– die eigene Stimme,
– eine wohlklingende, mittelgroße Klangschale.
Die Teilnehmer:innen sitzen im Kreis, auf Stühlen oder Sitzkissen. Die Dauer der Sequenz ist abhängig von der Gruppengröße: pro Person sollten mindestens 8–10 Minuten Zeit zur Verfügung gestellt werden + ganz am Ende eine Zeit in Stille fürs Notizenmachen + erst danach Zeit für verbales Einzelfeedback + Zeit für die Nachbesprechung in der Gruppe. Für eine Gruppe von beispielsweise 5 Teilnehmer:innen würde ich nicht weniger als 75 Minuten veranschlagen.
Eingangsfrage
Gelegentlich fordere ich am Beginn dazu auf, sich kurz zu überlegen, was man als Teilnehmende:r in einer verbalen Befindlichkeitsrunde jetzt eigentlich mitteilen würde – ohne dies jedoch auszusprechen. Dann gebe ich folgende Frage in den Raum: „Was ist JETZT – wie bin ich jetzt da – was möchte in diesem Augenblick gehört werden?“ Ich erläutere, dass das, was sich stimmlich gleich entfalten wird, nicht planbar oder gar innerlich vorab komponierbar ist. Es darf spannend sein, sich überraschen zu lassen von dem, was aus der Tiefe des Augenblicks heraus geboren werden und seine Stimme erheben will.
Demo
Bei dieser Stimimprovisations-Sequenz fange ich als Leiterin ausnahmsweise an, gebe als Protagonistin ein ausführliches Klangbeispiel, um den Ablauf zu veranschaulichen, den Rahmen abzustecken und den Möglichkeitsraum für die freie, sehr behutsam sich entfaltende, improvisatorische Stimmäußerung „ohne Netz und doppelten Boden“ zu öffnen. In mein eigenes, absolut authentisches Erkunden und Entfalten des beispielhaften Stimm-Prozesses gebe ich mitten hinein verbal und nonverbal wenige, kurze Erläuterungen zum Ablauf.
Wichtig ist, folgendes Erkennungszeichen für das Einsetzen der stimmlichen Resonanz der Gruppe zu verabreden: Sobald die Solo-singende Person eine von ihr gefundene Tonfolge deutlich erkennbar mehrfach wiederholt, setzt die Gruppe mit ein, greift auf, schwingt sich ein auf den Rhythmus, wiederholt und erweitert dann nach und nach behutsam die angebotene Melodie, reichert sie an, ohne ihre Stimmung, ihre besondere Qualität, ihren Charakter zu sehr zu verändern.
Nachfolgend möchte ich Sie jetzt ansprechen, als wären Sie die erste Teilnehmerin/der erste Teilnehmer der Gruppe, die/der mit ihrem/seinen Stimmbeitrag beginnt.
Ablauf
– Solo:
Schlagen Sie die Klangschale, die vor Ihnen steht, an. Damit „öffnen Sie den Vorhang“ für Ihren ganz eigenen Raum des stimm-klanglichen Erkundens und Entdeckens.
– Im Verklingen beginnen Sie damit, Ihren Ausatem hörbar zu machen und mit ihm alle Geräusche emporsteigen lassen, die jetzt entstehen möchten: Seufzen, Hauchen, Stöhnen, Ächzen, Säuseln, auch stimmlose Konsonanten…
Falls ihre Arme, Schultern, Kopf… sich dabei leicht mitbewegen möchten, lassen Sie es zu.
– Diese Atemgeräusche gehen allmählich über in leises Tönen, in eine explorierende Vokalisation auf angenehmer Tonhöhe, es entstehen Klänge mit stimmhaften Konsonanten und Vokalen. Öffnen Sie dabei den Mund, lassen Sie die Zunge und den Unterkiefer sich mitbewegen.
– Lauschen Sie staunend, neugierig, was da emporsteigt, was gehört werden möchte. Nach und nach entdecken Ihre Klänge einen weiten Tonraum – von tief unten im Körper bis weit hinauf.
– Aus all dem bis jetzt Gehörten und Gespürten kristallisiert sich allmählich eine Tonfolge heraus, eine kleine Melodie, und Sie pflücken diese staunend – wie eine Blüte auf einer Frühlingswiese –, indem Sie sie aufgreifen und wiederholen. Mögen es nur drei wiederkehrende Töne sein oder eine Vielfalt an Tönen. Aus dem Augenblick geboren schält sich immer deutlicher Ihre Melodie heraus, ihr ganz eigenes, kleines Lied. Manchmal mögen sich auch Laute oder Worte zu der Melodie dazugesellen, lassen Sie sich überraschen. Ganz von alleine hat sich auch ein passender Rhythmus gefunden. Wiederholen Sie Ihre Melodie einige Male, singen Sie sie nach und nach deutlicher, kraftvoller.
– Gruppenresonanz:
Dies ist nun das zuvor verabredete Erkennungszeichen für die Gruppe, die von Ihnen angebotene Melodie behutsam aufzugreifen, sie mitzutönen, sich von ihr ergreifen zu lassen. Die Gruppe wird versuchen, Ihre Melodie in Ihrer ganz eigenen Stimmung und Ausdrucksweise zu wiederholen, um sie dann nach einer Weile mehr und mehr auszubauen, zu erweitern, zu vergrößern. Vielleicht werden weitere Stimmen hinzugefügt, vielleicht Variationen mit eingebaut, die jedoch der Stimmung Ihres Liedes immer noch gerecht zu werden versuchen. Spüren Sie, ob Sie weiterhin mittönen möchten oder ob sie aufhören zu singen, um dieses Resonanzgeschenk der Gruppe lauschend und staunend noch intensiver aufnehmen zu können. Wie weit können Sie diese Klangantwort an sich heranlassen, sich von ihr berühren lassen: bis in Ihren Außenraum, bis an Ihre Kleidung, bis unter die Haut oder bis tief in Ihren Herzraum hinein?
Trauen Sie sich, dieses Geschenk wirklich anzunehmen?
– Nachklang:
Erst wenn es angekommen ist, wenn Sie wirklich „gesättigt“ sind, wenn es genug ist, erst dann geben Sie die Klangschale anschlagend das Zeichen, so dass der Gesang verklingt und der „Vorhang sich wieder schließt“. Genießen Sie den Nachklang und warten Sie einen Moment ab, bevor Sie die Klangschale an die nächste Person weitergeben. In diesem Übergang lassen Sie sich Zeit, nachzuspüren.
Reflexionsfragen
– 1. Was hat mir meine Stimm-Improvisation „erzählt“, was habe ich über mich erfahren? Habe ich etwas Neues entdeckt, vielleicht sogar etwas Überraschendes preisgegeben?
– 2. Konnte ich den Resonanzgesang der Gruppe lauschend „nehmen“, mich von ihm berühren lassen? Fühle ich mich gehört, gemeint, verstanden von der Gruppe? Konnte ich den Resonanzgesang bis tief in meinen Herzraum hinein schwingen, mich von ihm „nähren“ lassen?
Oder bin ich beim geschäftigen Machen geblieben, habe mich abgelenkt, alt bekannte Melodiepatterns abgerufen? Habe ich mich verschlossen, weil es mir vielleicht zu viel Exponierung war, zu nah wurde?
– 3. Was hätte ich in einer verbalen Befindlichkeitsrunde über mich berichten wollen? Und was hat sich von mir stattdessen nonverbal gezeigt und stimm-klanglich mitgeteilt?
„Der Mensch wird am Du zum Ich.“
(Martin Buber, 1923)
Methodische Hinweise für Musiktherapeut:innen
– Es handelt sich um eine sehr intensive Intervention, die auf der fachlichen Basis von viel Stimmimprovisationserfahrung und therapeutischer Sorgfalt begleitet werden sollte.
– Diese Sequenz beinhaltet verschiedene Tiefungsebenen und ist im therapeutischen Setting entsprechend unterschiedlich einsetzbar: von musikalisch-spielerisch übend, zur erlebniszentrierten Ebene des Verbundenheitsgefühls in der Gemeinschaft bis hin zur konfliktzentrierten Ebene mit dem Evozieren von Erfahrungen des Mangels oder auch des Nachgenährt-Werdens bei fehlender früher Spiegelung in sicherer Bindung.
– Mit ihr lässt sich in ein- und demselben Gruppensetting auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig arbeiten. Von einem Teilnehmer mag der Ablauf vielleicht als eine nette, spielerische, musikalische Nachahm-Übung erlebt werden, während es für eine andere Teilnehmerin tiefste, schmerzhafte, mangelnde Spiegelungs- und Bindungserfahrungen an die Oberfläche spült und – ohne verbalisiert werden zu müssen – im stimmlichen Resonanzprozess sogleich heilsam wandelt.
– Als Anleitende:r empfehle ich, nicht ständig reinzusprechen in das Geschehen, sondern mittönend mit der eigenen Stimme und Präsenz den Raum zu halten und durchaus auch mitzugestalten.
Folgende Ausnahmen gibt es allerdings:
– Falls ein:e Teilnehmer:in meint, ganz schnell „etwas abliefern“, eine bekannte Melodiefloskel reproduzieren zu müssen, erlaube ich ihr/ihm, sich nochmals Zeit zu lassen, zu lauschen, zu erspüren, was darunter wirklich gehört werden möchte.
– Wenn ich während des Prozesses höre, dass sich die improvisierten Stimm-Gesänge von einer zur nächsten Person floskelhaft wiederholen, wenn sich die Beiträge „festrasten“ in Patterns oder Maschen, auch dann greife ich behutsam ein und fordere auf, sich nochmals Zeit zu nehmen, um das ganz Eigene zu erspüren, zu erlauschen und sich ausdrücken zu lassen.
– Ebenso interveniere ich, wenn die Gruppe übereifrig nach allerersten klingenden „Gehversuchen“ der Person, die an der Reihe ist, ungeduldig vorschnell mittönt. In solch einem Fall bremse ich den Eifer und fordere auf, sich in Geduld zu üben und dem Suchprozess der tönenden Person noch mehr Raum zu geben.
– Es ist sowohl möglich, dass die Solo-Person nach dem Einsetzen des Gruppengesanges weiterhin mitsingt, als auch, dass sie ihren Gesang beendet, um lauschend besser aufnehmen zu können, was zurückschwingt, was ihr klanglich gespiegelt wird von der Gruppe.
– Es lässt sich feststellen, dass die Solo-Sänger:innen nach der ersten Aufregung recht schnell mit geschlossenen Augen in innerliche Stimm-Trance-Suchprozesse eintauchen. Die auf das vereinbarte Zeichen hin einsetzende Gruppe lenkt diese Wahrnehmungsveränderungen wieder in den Raum hinein, in den Kontakt, manchmal hin zu einer stimminduzierten Gruppentrance, bei der gemeinsam die Zeit vergessen wird.
– Es gibt Runden, in denen viele Tränen des Angerührtseins und des Schmerzes fließen und andere wiederum in der ansteckende Freude, Heiterkeit und Beschwingtheit sich breit machen.
– Ich empfehle, die Klangschale reihum im Kreis weiterzugeben. Wichtig ist dabei, dass das Weitergeben der Klangschale möglich ist, wenn man sich noch nicht bereit fühlt für diese (nur am Beginn) etwas aufregende Exponierung.
– Es ist aber auch möglich, Zeichen der Bereitschaft abzuwarten, dass jemand anderes aus der Gruppe weitermachen möchte und dazu die Klangschale aktiv zu sich holt. Ich bevorzuge die erste Variante. Eine Wahlmöglichkeit kann den ausgiebigen Prozess, der von allen Beteiligten viel Konzentration erfordert, manchmal unnötig zäh werden lassen und in die Länge ziehen.
– Für die Arbeit im Freien in der Natur ist dieser intensive Selbsterfahrungs-Stimmprozess definitiv nicht geeignet. Es braucht dafür einen geschützten, sicheren, möglichst vertrauten Raum und einen ausgiebigen Zeitraum.
– Wundern Sie sich nicht, wenn die Teilnehmenden am Ende dieser intensiven Stimm-Resonanz-Sequenz sehr berührt, in der Tiefe genährt, vielleicht aufgewühlt, aber auch wohlig erschöpft sind. Es empfiehlt sich, im Anschluss eine Pause in Stille zu lassen.
„Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit wir in Therapien lernen können – als Patient oder Patientin ebenso wie als Therapeut oder Therapeutin? Wir benötigen zuvorderst reale und gefühlte Sicherheit. Dies ist, wie uns die Bindungstheorie lehrt, die Voraussetzung dafür, dass wir explorieren und lernen können. Emergente Prozesse entstehen on the edge of chaos (Galatzer-Levy), wenn wir, mit der nötigen Sicherheit im Rücken, Altes aufgeben und Neues wagen wollen. Wie entscheidend wichtig hierbei die spontane, implizite Begegnung zwischen Patientinnen, Patienten und Therapeutinnen und Therapeuten ist, verdeutlicht Eckhart Neumann (…). Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass diese Begegnungen vor allem unwillkürliche resonant-korporale, also »Leib-Begegnungen« sind (…).“ (aus dem Vorwort von M. Naumann-Lenzen zu E. Neumann, 2023).
Literaturtipps
Rittner, Sabine (2021). Vokale Musiktherapie. In Decker-Voigt et al. (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie. Göttingen: Hogrefe.
Rittner, Sabine (2008). Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie / in der Musiktherapie. In Musiktherapeutische Umschau, Themenheft „Die Stimme im therapeutischen Dialog“, Bd. 29, 3/2008, S. 201–220. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht.
Buber, Martin (1923). Ich und Du. Ditzingen: Reclam.
Neumann, Eckhart (2023). Resonanz und spontane Entwicklung in der Psychotherapie. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, IFS- und Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und körperorientierter Therapie. Sie war 30 Jahre lang tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Bewusstseins- und Musiktherapieforschung). Sie arbeitet weiterhin in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching, Lehrtherapien), leitet Seminare, bildet aus, hält Vorträge und tritt international in Kunst-Performances auf. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie – Depression.
Weitere Informationen: www.Sabine-Rittner.de
Schwerpunkthema
Generationenwechsel in der Musiktherapieausbildung: Work in Progress
Monika Smetana
Hans Ulrich Schmidt hat es in seinem Beitrag zum Schwerpunktthema „Übergänge“ (Schmidt, 2024, S. 20f.) bereits angesprochen: Viele Musiktherapieausbildungen sind derzeit von einem Generationenwechsel erfasst, teils auf Leitungsebene, teils auch in den Lehrkörpern. Im Themenheft „Generationen“ der Musiktherapeutischen Umschau 2024 wurden die aktuellen Prozesse und Potenziale eines moderierten Übergangs von einer zur nächsten Generation anhand der Wiener Musiktherapieausbildung ausführlich beschrieben (Smetana, Fitzthum, Schmucki & Stegemann, 2024).
Die Wiener Schule eignet sich meiner Einschätzung nach sehr gut dafür, sich mit dem Thema „Generationen“ in einem weitgefassten Sinne zu befassen. Nicht nur handelt es sich dabei um die älteste akademische Musiktherapieausbildung Europas (seit 1959 an der damaligen Akademie, heute: Universität für Musik und darstellende Kunst Wien beheimatet), sondern ist auch ihre Beschäftigung mit historischen Fragestellungen ziemlich rege (Fitzthum & Mössler, 2021). So wurde die Wiener Schule der Musiktherapie innerhalb der letzten Jahrzehnte zum Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Untersuchungen: Forschungsarbeiten zu den Vorläufern ihrer Entwicklung sowie zu der beginnenden Institutionalisierung von Musiktherapie in Wien und zahlreiche Abschluss- und Diplomarbeiten zu unterschiedlichen historischen Einzelfragestellungen der Wiener Schule wurden verfasst1. Die Dissertation von Karin Mössler (2008) bietet eine umfassende Aufbereitung ihrer Entwicklungen ab 1957, in der Inhalte, (psycho-) therapeutische Ausrichtungen sowie deren Transfer zwischen Theorie und Praxis und insbesondere auch die Konturierung einer Generationenfolge von den Pionier:innen bis zur beginnenden dritten Generation vor dem Hintergrund des Schulenbegriffs untersucht wurden. In dem oben genannten Beitrag (Smetana et al., 2024) konnten wir bereits eine vierte Generation seit 2020 ergänzen.
Generationenwechsel in der Wiener Musiktherapieausbildung
Die Wiener Schule beschäftigt sich gerne mit sich selbst – nicht primär, um spezifische Alleinstellungsmerkmale gegenüber anderen Schulen und Ansätzen hervorzuheben oder abzugrenzen, sondern vielmehr mit dem Ziel einer gründlichen Reflexion des tradierten und sich immer wieder erneuernden musiktherapeutischen Handlungswissens, um den Anforderungen und Herausforderungen der alltäglichen therapeutischen Arbeit in den verschiedenen Anwendungsbereichen der Musiktherapie im Gesundheitswesen in ihrer Vielfalt gerecht zu werden.
Vier Generationen werden mittlerweile also in der Wiener Schule beschrieben. Die bereits gut erforschte Generationenfolge wird nicht an äußeren Einflüssen oder vergleichbaren Zuschreibungen wie etwa den Babyboomern, den Millenials, der Generation X, Y, Z oder Alpha etc. festgemacht, sondern orientiert sich daran, welche Studierenden von welchen Lehrenden unterrichtet wurden. Von einem Generationswechsel wird demnach dann gesprochen, wenn die Mehrzahl der Lehrenden durch die von ihnen ausgebildeten Musiktherapeut:innen abgelöst wird.
So kann ich mich eindeutig der dritten Generation zuordnen, die maßgeblich von Lehrenden der zweiten Generation geprägt wurde („Elaborationsphase“, Absolvent:innen des von Prof. Schmölz geleiteten Lehrgangs für Musiktherapie). Seit etwa 2020 besteht nun das Lehrendenteam vorwiegend aus Kolleg:innen der dritten Generation (Absolvent:innen des Kurzstudiums und Diplomstudiums seit 1992), wodurch wir, verbunden mit der Umstellung vom Diplomstudium auf die Bachelor-/Master-Struktur, jetzt von einem Generationenwechsel zur vierten Generation sprechen.
Den großen Veränderungen im Lehrendenteam der Wiener Ausbildung begegnete man zunächst, indem Übergaben von bisherigen zu neuen Lehrveranstaltungsleitungen bewusst vonstatten gingen, Abschiede gewürdigt und gefeiert wurden; auch gab es die Idee eines „Weisen-Rates“ als Anlaufstelle für Fragen und Anliegen jüngerer Lehrender. Das Angebot eines eintägigen „Generationen-Workshops“ unter der Leitung eines externen Coaches diente der Identifizierung weiterer Bedürfnisse und Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Rolle ehemaliger Lehrender am Institut und der für einen guten Austausch notwendigen Strukturen. Insbesondere die Beschäftigung mit Selbstbildern, vermuteten Fremdbildern und Erwartungen zwischen den aus unterschiedlichen Generationen stammenden Teilnehmenden ermöglichte neue Erkenntnisse und Anstöße für weitere Teamprozesse. Deutlich wurde dabei, dass es gar nicht so sehr um formalisierte Maßnahmen zur Übergabe z.B. von Konzepten und Lehrinhalten geht – diese erfolgen hauptsächlich informell im persönlichen Austausch – als darum, Formate für gemeinsame Denkräume und offenere Plattformen für Wissenstransfers im gemeinsamen, team- und generationenübergreifenden Diskurs zu finden.
Eine Möglichkeit dazu eröffnete sich bei unserer Instituts-Teamklausur vergangenen Herbst, als zu den etwa 20 Teilnehmenden aus dem aktiven Lehrendenkreis noch weitere fünf „ehemalige“ Kolleg:innen dazu stießen, um aktuelle studiengangsbezogene Themen mit zu diskutieren, sich schließlich aber auch zu aktuellen Prozessen des Generationenwechsels in der Wiener Musiktherapie-Ausbildung auszutauschen, uns „upzudaten“, was uns beschäftigt und wo wir stehen, persönlich und als Team.
Folgende Begebenheit daraus berührte mich persönlich sehr:
V., eine der aktuell jüngsten Lehrenden, die seit vorigem Jahr ein Pflichtpraktikum in der Kinder- und Jugendpsychiatrie leitet, berichtet, wie hilfreich es für sie war, immer ein offenes Ohr zu finden, sowohl bei ihrer Kollegin S., die das Praktikum interimistisch für ein Jahr übernommen hatte, als auch bei ihrer in den Ruhestand gegangenen Vorgängerin H. Sehr vieles durfte sie aus deren Erfahrungsschatz und bewährten Materialien schöpfen, konnte dies zugleich aber mit ihren eigenen Ideen und Herangehensweisen verknüpfen und an eine neue Institution transferieren. Die ebenfalls anwesende Vorgängerin H. erzählt, dass sie vieles davon bereits von B. vermittelt bekommen habe, die das Praktikum nach fast 20-jähriger Leitung sehr plötzlich aus gesundheitlichen Gründen abgeben musste. An dieser Stelle schaltet sich E. ein – auch eine anwesende ehemalige Lehrende, die Ende der 1980er-Jahre mit der Leitung des Praktikums betraut war: Auch wenn sie sich methodisch sehr von ihrer Vorgängerin A. abgrenzen musste, die das Praktikum als behavioristisch ausgerichtete Pionier:in der Wiener Musiktherapie ab 1971 geleitet hatte, sei das Ansehen der Musiktherapie in der Institution bereits damals bemerkenswert gewesen. Wie hilfreich es doch für sie als Lehrende gewesen war, an Etabliertes anknüpfen zu können, nicht um den Platz der Musiktherapie kämpfen zu müssen, sondern offene Türen vorzufinden. Damit war den Studierenden ein Rahmen geboten, bereits sehr früh im Studium eigenständige klinische Erfahrungen unter sehr intensiver Begleitung und Supervision machen zu können.
Identität durch Kontinuität und Veränderung
In diesem kurzen Gedankenaustausch zwischen den Generationen wurde spürbar, was gemeint ist, wenn wir manchmal von einer „DNA der Wiener Schule“ sprechen: Wurzeln heutiger Lehr- und Lernkonzepte der vierten Generation reichen zurück bis in die Pioniergeneration. Kontinuität und Weitergabe haben dazu geführt, dass wesentliche Kernelemente erhalten bleiben können, auch wenn Neues dazu kommt und Veränderung stattfindet, die teils aktiv von den Lehrveranstaltungsleitungen persönlich geprägt wird, teils auch den von außen gegebenen Anpassungsnotwendigkeiten unterliegt. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, ein klinisches Praktikum, das 1962 von der Ausbildungsbegründerin Edita Koffer-Ullrich an der Kinderklinik Lainz initiiert und später von Albertine Wesetzky an der von Andreas Rett geleiteten Abteilung am Rosenhügel etabliert wurde, mit dem heutigen Kinder- und Jugendpsychiatrie-Praktikum am Landesklinikum Tulln in Verbindung zu bringen. Und doch lässt sich anhand der Entwicklungslinien der Ausbildungsgeschichte und der damit verbundenen Generationenfolgen ein klarer Strang in der Tradition und Kontinuität dieses klinischen Praktikums über mehr als 60 Jahre vom Sonderlehrgang bis zum heutigen Bachelorstudium rekonstruieren.
Aus der Generationenperspektive betrachtet kann man sich vorstellen, dass die medizinischen, sozialen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt gesundheitspolitischen Kontexte von 1962 und 2024 gänzlich verschieden voneinander sind. Waren es damals Kinder mit sog. „Entwicklungsstörungen“ (u.a. Rett-Syndrom), die im Fokus der ersten musiktherapeutischen Behandlungserfahrungen angehender Musiktherapeut:innen standen, so ist man heutzutage in diesem Feld mit gänzlich anderen Realitäten und Herausforderungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert: Depression, Suizidalität, selbstverletzendes Verhalten, Trauma und Sucht stehen oft im Vordergrund und treffen mit der Vielschichtigkeit von belastenden Lebensereignissen, Krisen und emotionaler wie sozialer Vernachlässigung zusammen. Die Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter haben sich verändert, sind – bedingt durch u.a. gesellschaftliche, technologische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen – komplexer geworden, sowohl im Hinblick auf die Herausbildung und Stabilisierung von Identität als auch auf neu hinzugekommene Anforderungen wie etwa die Entwicklung von Kompetenzen im Umgang mit digitalen und sozialen Medien.
Auch die methodischen Herangehensweisen der Musiktherapie haben sich verändert, erweitert und differenziert, ebenso wie das therapeutische Beziehungsverständnis, die Pluralität und Diversität der für unsere Arbeit hilfreichen Konzepte und Möglichkeiten. Der von A. Wesetzky vertretene pädagogisch-behavioristische Ansatz verlor in Wien schon ab den 1980er Jahren an Bedeutung, als sich das psychotherapeutische Paradigma in der Wiener Musiktherapie im Zusammenwirken humanistischer und tiefenpsychologischer Denk- und Handlungsansätze durchsetzte. Die therapeutischen Mittel, insbesondere auch das verfügbare Instrumentarium, der Einbezug elektronischer Medien und die Zugänglichkeit von Musik eröffnen heute neue Möglichkeiten der nonverbalen Kontaktgestaltung und verfeinern den differenziellen Einsatz des musiktherapeutischen Handwerkszeugs.
An dieser Stelle nun noch einmal zurück zu der beschriebenen Erfahrung in der Teamklausur: Zu bemerken, dass besonders wichtige Bestandteile der Lehr- und Lernkultur einer Musiktherapieausbildung sowohl bewahrt als auch erneuert werden können, stärkt das Gefühl von Identität. Zur Ausbildungskultur gehört das Vorhandensein von Strukturen – im beschriebenen Fall waren das die institutionellen Rahmenbedingungen und ein gewisses Ansehen des klinischen Praktikums bei der ärztlichen Leitung – ebenso dazu wie das Zugestehen von Gestaltungsfreiräumen und Möglichkeiten, es „anders“ zu machen als bisher. Auch die Bereitschaft Klieines Teams, Veränderungsprozesse und Paradigmenwechsel zu durchleben, die durchwegs konfliktreich und schmerzhaft sein mögen, ist Bestandteil einer Kultur über die Generationen hinweg. Dass das Entdecken von so etwas wie einer „DNA“ in der Tradition eines einzelnen klinischen Praktikums, das ja nur eines von zahlreichen Rädchen eines Studienganges darstellt, so ein warmes, besonderes Gefühl in der Teamklausur bewirkte, zeigt mir, wie wertvoll das Bewusstsein für Geschichtlichkeit und das Wissen um Kontinuität sein kann – für die ältere Generation, um loszulassen und für die jüngere Generation, um souverän, verantwortungsvoll und zuversichtlich arbeiten zu können.
Was beschäftigt junge Menschen heute?
Ein Blick auf die aktuellsten Ergebnisse der 19. Shell-Jugendstudie 2024 (Albert et al., 2024), die auf den Daten von 2.509 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren in Deutschland basieren, zeigt eine überraschend hoffnungsfrohe Tendenz. Auch wenn sich das Resümee im Untertitel der Studie als „Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt“ ausdrückt, verdeutlicht die Studie, dass Jugendliche in Deutschland trotz Sorgen um Klimawandel, Krieg und wirtschaftliche Unsicherheiten mehrheitlich optimistisch in die Zukunft blicken. Politisches Interesse und Engagement sind gestiegen und soziale Gerechtigkeit sowie Nachhaltigkeit sind zentrale Themen. Die Ergebnisse zeigen auch auf, dass sich viele Jugendliche sehr differenziert mit den aktuellen Krisen auseinandersetzen, deren Konsequenzen einschätzen und in Bezug auf das eigene Leben auch spüren, sich aber nicht grundlegend entmutigt fühlen. Bedenkt man, dass das Durchschnittsalter der Studierenden im neuen Bachelor-Studium Musiktherapie – also der vierten Generation der Wiener Schule – zum Studieneintritt 24,3 Jahre beträgt2 und geht man von Ähnlichkeiten zwischen österreichischen und deutschen Populationen aus, so ist anzunehmen, dass ein großer Teil von ihnen unter die in der Shell-Studie repräsentierte Generation junger Erwachsener fällt.
Musiktherapie-Studierende im Fokus
Aus der Alters-Spannbreite der aktuell aktiven Wiener Musiktherapiestudierenden mit Geburtsjahren zwischen 1985 und 2005 geht hervor, dass die Generationen Y und Z ausgewogen vertreten sind. Ich möchte nun gar nicht auf die den einzelnen Generationen zugeschriebenen Merkmale eingehen, etwa in Bezug auf unterschiedliche Verortungen zwischen pluralistischen und individualistischen Lebenshaltungen, die Einstellung zu Arbeit und Erfolg oder den Stellenwert von Familie und Partnerschaft.
Vielmehr scheint mir die Annahme lohnend, dass viele zentrale Themen über die vergangenen Jahrzehnte hinweg Bestand haben – etwa die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Problemen – diese heute aber viel tiefer und vielschichtiger betrachtet werden als früher. Im Rahmen der Musiktherapieausbildung tragen die Studierenden wesentlich dazu bei. Einige Beispiele:
- Zur Zeit der zweiten Generation beschäftigte man sich intensiv mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft, mit einem Fokus auf Frauenrechte, emanzipatorische und feministische Aspekte. Studierende von heute haben einen durchaus umfassenderen Blick auf genderrelevante Themen und deren Erweiterung durch diskriminierungssensible Konzepte der Machtkritik oder Intersektionalität.
- Galt die Aufmerksamkeit nach der Psychiatriereform Ende der 1970er Jahre den Rechten von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden, so geht es heute vielfach um die Sensibilisierung für und Antistigmatisierung von psychischen Erkrankungen jeder Art, darum, den Zugang zu institutioneller Unterstützung entgegen gesellschaftlicher Isolation und Tabuisierung psychosozialer Belastung zu ermöglichen und schließlich auch um gesundheitsökonomische Fakten.
- War Umweltaktivismus damals noch ein relativ neues Thema, dem sich vereinzelte lokale und nationale Initiativen widmeten, so bringen viele Studierenden heute bereits sehr mannigfaltige Erfahrungen und Kompetenzen durch klimapolitische Engagements und politischen Aktivismus mit. Neben einem aktuell institutsintern organisierten Gedankenaustausch in Form eines „ThinkTanks“ mit Musiktherapiestudierenden gibt es auch universitätsweite partizipative Plattformen und Initiativen z.B. zur Auseinandersetzung mit der Klimakrise und der Rolle von Kunst/Musik im Kontext des Klimawandels, in die Studierende sich aktiv einbringen können.
- Auch die Fortschritte in Technologie und Digitalisierung beschäftigten die Menschen aller Generationen und unterliegen insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten einem rasanten Wandel. Als „Digital Natives“ verfügen die meisten Studierenden heute nicht nur über vielfältige mediale Skills, sondern sind auch sehr sensitiv gegenüber der ethischen Verantwortung etwa im Umgang mit sensiblen Daten oder der konstruktiven Nutzung von künstlicher Intelligenz.
Mit ihrem Wissen und ihrem Engagement bereichern Studierende nicht nur den akademischen Diskurs, sondern sie können auch die Erfahrung machen, dass die Themen, die sie beschäftigen, Relevanz haben und sie mit ihren Kompetenzen wie auch ihren Bedürfnissen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung und Weiterentwicklung des Musiktherapiestudiums (und darüber hinaus) nehmen können.
Es liegt nahe, dass es gewisse Übereinstimmungen zwischen den Themen der Studierenden und jenen der Patient:innen, insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt. Auch das lässt sich als eine wichtige Ressource verstehen und bringt mit sich, dass die im Rahmen der Musiktherapieausbildung eingebrachten Kompetenzen und Erfahrungsbereiche der heutigen Studierenden auch maßgeblich zur Weiterentwicklung und Zukunft des musiktherapeutischen Berufes beitragen werden.
Was hat das nun mit der Wiener Schule zu tun?
Der Blick auf die Geschichte der Wiener Musiktherapieausbildung über die Generationen lässt erkennen, dass es sich bei der Wiener Schule um kein statisches Modell handelt, vielmehr um ein dynamisches, sich veränderndes, auch ein sich anpassendes, in dem Prozesshaftigkeit und Weiterentwicklung eine große Rolle spielen. Sie bietet einen breiten Boden, der die Integration zeitgemäßer Themen ermöglicht. Dass im Laufe ihrer Geschichte bereits viele Prozesse, auch schwierige und konfliktreiche, durchlebt worden sind, mag wesentlich zur Toleranz gegenüber Veränderung und Wandelbarkeit beigetragen haben und begünstigt die Offenheit für neue Entwicklungen.
Ein aktuelles Forschungsprojekt in Kooperation zwischen dem Wiener Institut für Musiktherapie (WIM) und dem WZMF – Wiener Zentrum für Musiktherapieforschung widmet sich der inhaltlichen Aktualisierung des klinisch-differenziellen Verständnisses der Wiener Schule im Sinne einer Standortbestimmung3. Mit dieser Bestandsaufnahme wird bewusst das Kollektiv von Musiktherapeut:innen mit Bezug zur Wiener Schule genutzt, um Prägungen durch die Ausbildung wie auch hinzugekommene Konzepte, die für die musiktherapeutische Praxis relevant sind, zu identifizieren. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass über die bekannten Kernelemente hinaus neue Themen und Bezugsfelder auftauchen, die nach Integration streben. Es wird eine wichtige Aufgabe dieses Projekts sein, einen Rahmen für den generationenübergreifenden Diskurs bereitzustellen, in dem sich jene Inhalte herauskristallisieren können, die für gegenwärtige und zukünftige Generationen relevant, zeitgemäß und identitätsstiftend sind und an die Herausforderungen der Zeit anschließen können. Insofern schauen wir mit optimistischer Freude in die Zukunft und sind neugierig auf die Entwicklungen in den nächsten Generationen.
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt Dr. Elena Fitzthum für den wertvollen Gedankenaustausch während der Manuskripterstellung.
Literatur
Albert, M., Quenzel, G., de Moll, F., Leven, I., McDonnell, S., Rysina, A., Schneekloth, U. & Wolfert, S. (2024). Jugend 2024–19. Shell Jugendstudie. Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt. Verfügbar unter: https://www.shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie-2024.html [30.12.2024].
Fitzthum, E. & Mössler, K. (2021). Wiener Schule der Musiktherapie. In H.-H. Decker-Voigt & E. Weymann (Hrsg.), Lexikon Musiktherapie (3., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl age; S. 675–680). Göttingen: Hogrefe.
Mössler, K. (2008). Wiener Schule der Musiktherapie: Von den Pionieren zur Dritten Generation (1957 bis heute). Wien: Praesens.
Schmidt H.-U. (2024). Übergänge. Musik und Gesundsein, 46, 20–23.
Smetana M., Fitzthum, E., Schmucki, A. & Stegemann, T. (2024). Wie können Übergänge gestaltet und moderiert werden? Musiktherapeutische Umschau, 41(1), 97–108.
1 Ausführliche Literaturangaben können bei der Autorin erfragt werden.
2 Diese Angabe beruht auf der Berechnung der Daten aller bisherigen fünf Kohorten von Bachelor-Studierenden mit Studieneintritt 2020–2024. Der Median beträgt 22,8 Jahre bei einer Spannweite von 19,4 bis 37,6 Jahren.
3 https://www.mdw.ac.at/wzmf/wienerschule/
Monika Smetana
Professorin für Musiktherapie und stv. Leitung des Instituts für Musiktherapie der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Musiktherapeutin in freier Praxis, Vorstandsmitglied des Wiener Instituts für Musiktherapie (WIM), Redaktion der Musiktherapeutischen Umschau.
mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Metternichgasse 12, 1030 Wien, Österreich
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Praxisvorstellung
Community Music Therapy in Kapstadt, Südafrika. Musiktherapie als Teil des interdisziplinären Projekts „Creative Resilience Program“
Rabea Beier
Inmitten der Herausforderungen Südafrikas bietet das Creative Resilience Program, ein Community Music Therapy-Projekt der Non-Profit-Organisation MusicWorks, jungen Menschen eine Möglichkeit, durch Musik ihre innere Stärke zu entdecken und Resilienz aufzubauen. Mit der Idee, Community Music, Entwicklungshilfe und Musiktherapie zu kombinieren, besuchen Community Musiker:innen gemeinsam mit Musiktherapeut:innen und Entwicklungshelfer:innen Schulen in den Randbezirken Kapstadts und bieten dort musikbasierte Interventionen an.
Kontext: Aufwachsen in den Cape Flats
Neben den beeindruckenden Landschaften sind die Regionen um Kapstadt ein risikobehafteter Ort, besonders für Kinder der Randbezirke. Diese Bezirke, auch Cape Flats genannt, sind Townships, die in der Zeit der Apartheid entstanden. Im Zuge dessen wurden die nicht-weißen Südafrikaner:innen aus der Innenstadt vertrieben und bildeten Siedlungen außerhalb der Stadt. Durch anhaltende Auswirkungen der Apartheit und neokoloniale Strukturen sind die Cape Flats noch heute von Armut, Bandenkriminalität, Prostitution, Alkohol und Drogenmissbrauch sowie von vielen HIV-Infektionen geprägt. In Khayelitsha, einem der größten Townships der Cape Flats, sind beispielsweise ca. 27 % der Erwachsenen HIV-positiv. circa 14.000 Kinder und Jugendliche sind Aids-Waisen. Viele der Kinder und Jugendlichen sind Opfer und/oder Zeug:innen häuslicher Gewalt, Missbrauchs und erleben Bandengewalt auf den Straßen (Chetty, 2015; Fouche & Stevens, 2018; Weber & Bowers-Du-Toit, 2018).
Die Organisation Music Works
Nachdem zwei Musiktherapeutinnen in Teilzeit und auf freiwilliger Basis musiktherapeutische Interventionen in einer Schule in den Cape Flats
angeboten haben, gründeten sie 2002 MusicWorks; 2003 wurde die Organisation als „Music Therapy Community Clinic“ registriert. In den folgenden Jahren wurden die musiktherapeutischen Interventionen in weiteren Schulen angeboten, zudem wurden Musiker:innen weitergebildet, als Community Musiker:innen das Team zu unterstützen. Heute bietet Music-Works sowohl musiktherapeutische Angebote in Einzel- und Gruppensettings in öffentlichen Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Tageskliniken als auch Interventionen der Community Music und Community Music Therapy in verschiedenen Schulen an. Zudem werden Fachkräfte verschiedener Professionen weitergebildet, um selbst Musik als Methode einsetzen zu können. MusicWorks ist eine rein aufsuchend arbeitende Organisation, die Angebote finden ausschließlich in den Räumlichkeiten der Communities, Schulen, Kliniken etc. statt.
Als Leitbild für die Programme wurde die „Theory of Change“ entwickelt. Diese basiert darauf, dass Bildungsprozesse auch die Förderung der sozio-emotionalen Entwicklung beinhalten sollten.
In Abhängigkeit von den verschiedenen Programmen und damit verbundenen Ausrichtungen sollen sichere Orte („Safe Spaces“) für die Teilnehmenden geschaffen werden, in denen durch die Fachkräfte psychosoziale und emotionale Unterstützung gewährt wird. Die Teilnehmenden sollen lernen, sich freier und selbstbewusster (musikalisch und verbal) auszudrücken. Zudem zielen die Interventionen auf eine Steigerung des Selbstbewusstseins, Möglichkeiten der (Selbst-)Reflexion und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit ab (in der „Theory of Change“ als „Outcomes“ betitelt). Die Programme verfolgen das Ziel, Kreativität anzuregen und darüber hinaus durch die Vermittlung eines Gefühls der Bestätigung ermutigende Erfahrungen anzuregen. MusicWorks ermöglicht durch Kooperationen einen Zugang zu weiteren Institutionen psychosozialer Unterstützung. Diese Aspekte sollen zu stärkeren Gemeinschaften und positiven Entwicklungen im sozialen Raum führen. Dahingehend lassen sich die Projekte der Organisation als Community Music Therapy einordnen (MusicWorks, 2021).
Theoretische Verortung der Community Music Therapy
Die Community Music Therapy (kurz: CoMT) ist eine Form der Musiktherapie, welche Klient:innen als Akteur:innen ihrer Umwelt begreift und diese in den therapeutischen Prozess mit einbezieht. Dabei umfasst der Begriff „Therapie“ neben der geläufigen Definition einer kurativen Intervention ebenfalls Gesundheitsförderung und -erhaltung, Prävention, Empowerment und sozialen Wandel (Stige & Aarø, 2011). Stige veröffentlichte 2002 eine praxisorientierte Beschreibung der CoMT, wobei der Schwerpunkt auf der Gesundheitsförderung durch prophylaktische Maßnahmen und Stärkung sozialer Netzwerke liegt. Hier orientiert sich die CoMT an der Salutogenese nach Antonovsky (1997), die sich entgegen der Pathogenese auf die Erhaltung und Förderung von Gesundheit konzentriert (Stige, 2002; Stige & Aarø, 2011). Für die praktische Umsetzung bedeutet dies unter anderem, kulturelle und soziale Teilhabe aktiv umzusetzen und über die mikrosystemische Ebene Klient:innen in ihrer Lebenswelt zu begreifen (Stige, 2002).
Mit dem Akronym „PREPARE“ umschreiben Stige und Aarø (2011) sieben Qualitäten, die als Schlüsselmerkmale die CoMT charakterisieren:
P – Participatory
R – Resource-oriented
E – Ecological
P – Performative
A – Activist
R – Reflective
E – Ethics-driven
Der Ansatz der Community Music Therapy (CoMT) ist partizipatorisch und ressourcenorientiert, indem er Klient:innen und Gruppen in ihren Umweltkontext einbindet und bestehende persönliche und gemeinschaftliche Ressourcen mobilisiert, statt neue zu schaffen. Durch eine ökologische Haltung werden bestehende Prozesse in der Community aufgegriffen, und Veränderungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene sollen sich gegenseitig positiv beeinflussen. Die performative Dimension ermöglicht es den Teilnehmenden, durch Musizieren neue Rollen zu erkunden und nachhaltig in ihren Alltag zu integrieren. Die Praxis erfordert eine aktivierende, reflektierende Haltung der Musiktherapeut:innen, um ethische Standards einzuhalten, Menschenrechte zu fördern und Klient:innen als aktive Akteur:innen ihrer Umwelt zu stärken, anstatt sie zu pathologisieren (Stige & Aarø, 2011).
Umsetzung in der Praxis: das Creative Resilience Program
Für die Auseinandersetzung mit den Elementen der Community Music Therapy ist das Creative Resilience Program (kurz: CRP) der Organisation MusicWorks von besonderem Interesse. Ursprünglich sollte das Programm der im Zuge der Covid-19-Pandemie entstandenen sozialen Isolation entgegenwirken. Aufgrund der positiven Rückmeldungen wurde die Projektlaufzeit wiederholt verlängert und 2021 zum Creative Resilience Program umbenannt. Mit dem Fokus auf die Lebenswelt und den sozialen Raum der Kinder wurde konzeptionell die Ressourcenaktivierung zur Stärkung der Resilienz verankert und das Projekt an verschiedenen Schulen etabliert. Heute gilt es intern als „Flagship“ der MusicWorks-Projekte (MusicWorks, 2021).
Grundsätzlich ist das CRP als Weiterentwicklung des Music for Life-Programmes, einem Community Music-Projekt der Organisation, zu verstehen. Während im Music for Life-Programm Community Music durch Musiker:innen als außerschulisches Nachmittagsprogramm angeboten wird, wird das CRP durch Community Musiker:innen und Musiktherapeut:innen gemeinsam angeleitet. Zwar basiert das CRP auch auf freiwilliger Teilnahme, es findet allerdings vormittags statt und ist in den Stundenplan der Kinder der sechsten Klassen eingebunden. Damit sind die Adressat:innen zwischen elf und vierzehn Jahren alt. Um mit kleineren Gruppen arbeiten zu können, werden die Klassen aufgeteilt (MusicWorks, 2021).
Über die Arbeit am Leitbild der „Theory of Change“ hinaus basiert das CRP konzeptionell auf dem Circle-of-Courage-Modell. Dieses Modell stützt sich sowohl auf die entwicklungspsychologische Forschung als auch auf Erkenntnisse indigener Kulturen und beschreibt, wie mit den vier Werten Generosity (Großzügigkeit), Belonging (Zugehörigkeit), Mastery (Bewältigung) und Independence (Unabhängigkeit) Kindern ein entwicklungsförderliches Umfeld geschaffen werden kann. Nach diesem Modell werden Kinder mit einer stärkenorientierten Grundhaltung und der Vermittlung der genannten Werte durch die pädagogische bzw. therapeutische Haltung zu einem Mehr an Resilienz empowert (Brendtko et al., 2013).
Im CRP wird dieses Modell musikalisch umgesetzt: Kindern, die beispielsweise Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung erfahren, sollen geschützte Räume für psychosoziale und emotionale Entwicklung geschaffen werden. In den Gruppen können neue, positive Erfahrungen mit Gruppenprozessen und einem Gefühl der Zugehörigkeit entstehen. Der musikalische und/oder verbale Ausdruck von Gefühlen und das Teilen von Erfahrungen (beispielsweise im Songwriting oder in Improvisationen) kann bei der Verarbeitung von Traumata unterstützen und zudem ein Empowerment durch Peer-Group-Prozesse anstoßen (Fouché & Stevens, 2018). Darüber hinaus wird im CRP die Musik genutzt, um Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein erfahrbar zu machen, was ebenfalls einen positiven Effekt auf die Identitätsbildung der Teilnehmenden hat. Dies soll die Kinder auch unterstützen, neue Hoffnung zu schöpfen und erweiterte Perspektiven für ihr Leben zu entwerfen. Als weiteres, lebensweltbezogenes Ziel soll Kreativität und Spielfreude bei den Kindern angeregt werden, die in einer eher weniger kindgerechten Umgebung aufwachsen. Durch den Einbezug von Betreuer:innen, Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen sollen die angestoßenen Prozesse gefestigt und die sozial-emotionale Entwicklung der anvertrauten Kinder weiter gefördert werden (MusicWorks, 2020). Die Projektdurchführung erfolgt durch ein multiprofessionelles Team, bestehend aus Community Musiker:innen, Entwicklungshelfer:innen und Musiktherapeut:innen. Das begünstigt, dass in den Sessions des CRP sowohl spielerisch-musikalische Schwerpunkte gesetzt werden als auch psychosoziale Themen intensiver bearbeitet werden können.
In der Community Music Therapy werden häufig musikbezogene Traditionen und Rituale aus den Familien und kulturellen Kontexten der Schüler:innen als Ausgangspunkt für Interventionen und Aktivitäten genutzt. Ein Beispiel hierfür sind die Gumboot- Tänze aus Südafrika, die ursprünglich von Minenarbeitern entwickelt wurden, um in widrigen Arbeitsbedingungen Gemeinschaft herzustellen und miteinander zu kommunizieren. Markant für diese Tänze ist die Verbindung von Bewegungselementen mit rhythmischen Schlägen auf Gummistiefel; als Aktivität im Rahmen des CRP werden diese Tänze sowohl gemeinsam getanzt als auch die Bedeutung und der Ursprung dessen mit den Kindern und Jugendlichen erarbeitet. Dadurch erfahren die Teilnehmenden die positiven individuellen und kohäsiven Outcomes durch das Tanzen selbst. Darüber hinaus wird ein reflektierter Zugang zur Bedeutung und Symbolik der Tänze hinsichtlich Gruppenzusammenhalt und Resilienz geschaffen. In einem Kontext ermöglicht Intervention den Schüler:innen, ihre kulturelle Identität zu stärken und soziale Verbindungen zu festigen (Fouche & Stevens, 2018). Ein weiteres Beispiel ist das Spiel auf Djemben und Marimbas, die in Südafrika eine zentrale Rolle der musikalischen Traditionen spielen und den Kindern häufig bereits vertraut sind. Auch diese Interventionen fördern ein Gemeinschaftserleben und Zugehörigkeitsgefühle, gleichzeitig ermöglicht es den Schüler:innen, Emotionen auszudrücken und kann als positive Auszeit im Schulalltag als ein Moment des eigenen Kompetenzerleben zu einem positiven Selbstkonzept beitragen (Fancourt et al., 2016).
Eine weitere gängige Methode des Creative Resilience Programs stellt das Songwriting dar. Mithilfe positiver Affirmationen und Phrasen entwickeln die Teilnehmenden gemeinsam mit den Fachkräften empowernde Lieder, die ebenfalls darauf abzielen Selbstbewusstsein und Resilienz zu stärken. Durch das kreative Schreiben und Singen der Lieder sollen positive Selbstbilder entwickelt sowie negative Erfahrungen verarbeiten werden. Das gemeinschaftliche Arbeiten an Song-Projekten soll zudem Peer-Prozesse anregen und soziale Unterstützung fördern.
Für eine authentische Umsetzung dieser Methoden ist ein multidisziplinäres Team von zentraler Bedeutung. Eine Besonderheit des CRP ist die die Beteiligung von Fachkräften, die selbst aus den Cape Flats stammen, da sie die kulturellen und sozialen Hintergründe der Kinder aus eigener Erfahrung kennen. Sie treten als Entwicklungsbegleiter:innen auf, die den Schüler:innen zeigen, wie persönliche Herausforderungen überwunden und Potenziale entfaltet werden können. Das vermittelt den Kindern Hoffnung und Perspektiven, während sie gleichzeitig kulturelle Werte und Traditionen in die musiktherapeutische Arbeit einbringen.
Reflexion der professionsbezogenen Verortung von Community Music Therapy im Kontext MusicWorks
Die interdisziplinären Bezüge und Offenheit der theoretischen Grundlagen führen unter anderem dazu, dass die CoMT im deutschsprachigen Raum unter der Frage „Ist das Musiktherapie?“ kontrovers diskutiert wird (Thurn, 2021). Die Erweiterung des Therapiebegriffs um die Aspekte „care“ und „service“ sowie der Einbezug von sozialen Konstruktionen zur Förderung mentaler Gesundheit (Stige & Aarø, 2011) erschweren die Abgrenzung zur Community Music, Musikpädagogik und der Musik als Methode Sozialer Arbeit zusätzlich.
Diesbezüglich beschreibt auch Aigen (2012), dass sowohl das Übertreten von Musiktherapeut:innen in gesellschaftliche, soziale und politische Handlungsfelder als auch das Vordringen von angrenzenden Disziplinen wie Community Music in psychosoziale Felder Konfliktpotenzial birgt. Die Entwicklung neuer Praxisformen der jeweiligen Disziplinen, ohne dass die theoretischen Fundamente der benachbarten Disziplinen berücksichtigt werden, kann einen Legitimationsdruck auf die jeweils anderen professionellen Verständnisse ausüben (Aigen, 2012).
Während musikbasierte Angebote positive, intraindividuelle Wirkungen als wertvolle Nebenprodukte verzeichnen, bedeutet eine Therapie eine konfliktbehaftete, innere Auseinandersetzung mit Prozessen. Zwar gilt das langfristige Ziel der Heilung von psychischen Erkrankungen oder zumindest Symptomlinderung, der Prozess ist jedoch häufig zunächst unbequem und birgt eine Reihe an potenziellen Nebenwirkungen (Stegemann & Weymann, 2020). Das gilt besonders für außerklinische Handlungsfelder, in denen Projektteilnehmende zu Patient:innen werden. Die durch aktuelle Entwicklung wachsende Zahl an Angeboten der Musiktherapie an (Musik-)Schulen (vgl. dazu Jordan et al., 2018) und auch das CRP beinhaltet demnach das Risiko, ohne klinische Induktion, therapeutische Auseinandersetzung anzuregen. Angeregte Prozesse, durch die Abwehrmechanismen oder Bewältigungsstrategien aufgebrochen werden, können beispielsweise im Schulsetting häufig nicht aufgefangen werden. Eine „Pauschalbehandlung“ ist demnach weder für Schüler:innen ratsam noch stärkt es den beruflichen Stand der Musiktherapie als psychotherapeutisches Verfahren (Gerland, 2017).
Im CRP werden diese Faktoren durch die Freiwilligkeit der Teilnahme und Interdisziplinarität etwas entschärft. Ein Wechsel zwischen den Wirkungsebenen oder zu einer Fachkraft mit Peer-Haltung ermöglicht auch im Musizieren selbst, dass die therapeutische Intensität genommen werden kann. Bei Bedarf können, so berichten die Fachkräfte, therapeutische Prozesse angemessen aufgefangen werden oder entsprechende Schüler:innen werden weitervermittelt. Dahingehend kann das Beispielprojekt als ein good-practice-Beispiel fungieren. Es zeigt, wie durch eine Wertschätzung der Expertisen der drei Disziplinen, eine stetige Praxisreflexion und Kommunikation eine konstruktive Zusammenarbeit gelingen kann. Dies ist auf den Anwendungskontext bezogen und bedeutet nicht die Möglichkeit einer simplen Übertragung auf andere Settings. Auch birgt es bei zunehmender Überschreitung der Grenzen das Risiko eines Identitätsverlusts der einzelnen Professionen.
Eine weitere Auseinandersetzung mit dem Kontext verdeutlicht, dass Angebote wie das CRP oder auch Community Music Therapy im Allgemeinen häufig als „schnelle Lösungen“ für tiefgreifende gesellschaftliche Ungleichheiten genutzt werden. Das bestätigen auch O’Grady & McFerran (2007) aus dem australischen Kontext. In Südafrika betrifft dies beispielsweise den erschwerten Zugang zur sozialarbeiterischen Einzelfallhilfe, einer Psychotherapie oder einem Klinikaufenthalt. Bei pathologischen Befunden oder auch dem Bedarf von professioneller Sozialer Arbeit kann ein Projekt wie das CRP dennoch eine wertvolle Unterstützung bieten und vor allem durch die Netzwerke weitere Hilfen vermitteln.
Nachklang
Im Rahmen eines Praktikums verbrachte ich knapp zwei Monate mit der Organisation MusicWorks. Damit die Non-Profit-Organisation weiterhin musiktherapeutische Hilfe anbieten kann, ist sie stetig auf Spenden und eine Kommunikation ihrer Arbeit nach außen angewiesen. Weitere Informationen sind unter https://musicworks.org.za/ zu finden.
Literatur
Aigen, K. (2012). Community Music Therapy. In G. E. McPherson & G. F. Welch (Hrsg.), The Oxford Handbook of Music Education: Bd. 2. Aufl . (S. 138–154). Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199928019.013.0010.
Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifi zierung der Gesundheit. dgvt.
Brendtko, L. K., Brokenleg, M., & Van Bockern, S. (2013). The Circle of Courage: Developing Resilience and Capacity in Youth. International Journal for Talent Development and Creativity, 1(1), 67–74.
Chetty, R. (2015). Social complexity of drug abuse, gangsterism and crime in Cape Flats’ schools, Western Cape. Acta Criminologica: African Journal of Criminology & Victimology, 3.
Fancourt, D., Perkins, R., Ascenso, S., Carvalho, L. A., Steptoe, A., & Williamon, A. (2016). Effects of Group Drumming Interventions on Anxiety, Depression, Social Resilience and Inflammatory Immune Response among Mental Health Service Users.
PLOS ONE, 11(3), e0151136. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0151136.
Fouche, S., & Stevens, M. (2018). Co-creating Spaces for Resilience to Flourish. Voices: A World Forum for Music Therapy, 18(4).
https://doi.org/10.15845/voices.v18i4.2592.
Gerland, J. (2017). Dimensionen des Übergangs in pädagogischen und therapeutischen Handlungsfeldern. Kritisch-wertschätzende Überlegungen zu Musiktherapie und -pädagogik. In Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (Hrsg.), Jahrbuch Musiktherapie (Bd. 13, S. 37–48). Reichert Verlag.
Jordan, A.-K., Pfeifer, E., Stegemann, T., & Lutz Hochreutener, S. (Hrsg.). (2018). Musiktherapie in pädagogischen Settings – Impulse aus Praxis, Theorie und Forschung. Waxmann.
MusicWorks. (2020). Theory of Change. https://musicworks.org.za/wpmusicworks/about-us/theory-of-change/.
MusicWorks. (2021). Creative Resilience Program. MusicWorks. https://musicworks.org.za/wpmusicworks/how-music-works/programmes/creative-resilience-programme/.
O’Grady, L., & McFerran, K. (2007). Community Music Therapy and Its Relationship to Community Music: Where Does It End? Nordic Journal of Music Therapy, 16(1), 14–26. https://doi.org/10.1080/08098130709478170.
Ruud, E. (2005). Community Music Therapy. https://www.hf.uio.no/imv/personer/vit/emeriti/evenru/even.artikler/CMTherapy.pdf
Stegemann, T., & Weymann, E. (2020). Ethische Fragen und Aspekte. In H. U. Schmidt, T. Stegemann, & C. Spitzer (Hrsg.), Musiktherapie bei pschychischen und psychosomatischen Störungen (S. 75–78). Elvesier.
Stige, B. (2002). Culture Centered Music Therapy. Barcelona Publishers.
Stige, B. (2015). Culture-Centered Music Therapy. In J. Edwards (Hrsg.), The Oxford Handboook of Music Therapy (S. 538–556). Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199639755.013.1.
Stige, B., & Aarø, L. E. (2011). Invitation to Community Music Therapy. Routledge. https://doi.org/10.4324/9780203803547.
Weber, S., & Bowers-DuToit, N. (2018). Sexual violence against children and youth: Exploring the role of congregations in addressing the protection of young girls on the Cape Flats. HTS Teologiese Studies / Theological Studies, 74(3). https://doi.org/10.4102/hts.v74i3.5089.
Rabea Beier
Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promotionsstudentin (Dr. phil.) am Institut für Musikpädagogik der Universität Münster. Bachelor in Sozialer Arbeit an der Hochschule Bielefeld mit dem Schwerpunkt „Musikalische Bildung“. Masterstudium Musiktherapie an der Theologischen Hochschule Friedensau, Schwerpunkt: Musikpädagogik, Musiktherapie und Soziale Arbeit im Rahmen von Community Music Therapy. Internationalen Projekte wie beispielsweise MusicWorks in Südafrika. Forschungsschwerpunkte: Diversitätssensibilität im Kontext der Musikvermittlung in sozialen Handlungsfeldern und in der kulturellen Bildung.
Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Musiktherapie am Landesbildungszentrum für Blinde in Hannover
Tabea Zimmermann
Wenn ich gefragt werde, was mir am meisten am Berufsfeld der Musiktherapie gefällt, antworte ich: die Vielfältigkeit. Es gibt so viele verschiedene Arbeitsfelder, so viele Möglichkeiten, die das Medium der Musik im therapeutischen Kontext bietet, und kein Tag ist wie der andere. Eines dieser Arbeitsfelder ist das Landesbildungszentrum für Blinde (LBZB) in Hannover. Dort habe ich, als Teil meines Masterstudiums der Musiktherapie, mein erstes musiktherapeutisches Praktikum absolviert und bin für mein abschließendes Praktikum, welches über zwei Monate ging und die eigenständige Anleitung von 60 Therapiestunden einschloss, zurückgekehrt. Auf den folgenden Seiten möchte ich Sie gerne dorthin mitnehmen und Ihnen einen kleinen Einblick in die musiktherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung und teilweise mehrfacher Behinderung geben.
Vorstellung des LBZBs
Das LBZB hat den landesweiten Auftrag für die Bildung, Ausbildung und die berufliche Rehabilitation von blinden und hochgradig sehbehinderten Menschen in Niedersachsen zu sorgen. Es ist eng vernetzt mit den vier Landesbildungszentren für Hörgeschädigte (LBZH) in Niedersachsen. Zu den Bildungszentren gehören sowohl Schulen, teilweise mit Berufsbildung, als auch Wohnangebote. Ziel ist die Unterstützung von Menschen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigung und deren Familien ab dem Tag der Geburt auf dem Weg zu einem möglichst qualifizierten Bildungsabschluss. Darunter fallen beispielsweise Diagnostik, Beratung, Förderung, Bildung, Erziehung, Ausbildung und Rehabilitation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Das Team des LBZB ist multiprofessionell qualifiziert und ermöglicht so den Menschen mit Sehbeeinträchtigung eine umfassende und individuelle Förderung mit dem Ziel der gesellschaftlichen, inklusiven Teilhabe1.
Musiktherapie im LBZB
Die Musiktherapie im LBZB wird im Einzelsetting angeboten. In Zusammenarbeit mit dem Multidisziplinären Team der Einrichtung sowie im Austausch mit den Eltern werden Klient:innen gefunden, für die Musiktherapie sinnvoll erscheint. Die wöchentlich stattfindende Therapie ist ressourcenorientiert und sehr individuell, da sich die Klientel der Einrichtung, aufgrund von zusätzlichen Behinderungen neben der Sehbeeinträchtigung, auf sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufen befindet. Je nach Klient:in variieren daher die Ziele. So liegt bei vielen der Fokus auf der Suche nach alternativen Kommunikationsmöglichkeiten, beispielsweise im Instrumentalspiel, mit der Stimme oder dem Körper als nonverbale Kommunikationsmittel, gerade für die Klient:innen, die sich (noch) nicht mit verbaler Sprache ausdrücken. In Bezug auf Menschen mit schwerer Behinderung, zu denen viele der Klient:innen in der Musiktherapie zählen, nennt der Sonderpädagoge Prof. Dr. Fröhlich2 die Störung der Kommunikation als die eigentliche Behinderung, weshalb das Finden alternativer Kommunikationsmöglichkeiten eines der wichtigsten Ziele ist. Fröhlich betont dabei, dass eine Kommunikationsstörung nicht allein einer Person zugeschrieben werden kann, da alle an der Kommunikation beteiligten Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, von ihrem Nicht-Gelingen betroffen sind. Eine Kommunikationsstörung ist demnach etwas, was beide Kommunikationspartner:innen behindert2. In der Therapie steht die Beziehung zwischen Klient:in und Therapeut:in im Vordergrund, da diese die Basis für die therapeutische Arbeit darstellt. Der Musiktherapieraum lädt durch zahlreiche Musikinstrumente zum Mitspielen ein. So können im gemeinsamen Musizieren Spielfreude und Selbstvertrauen erlebt und Handlungsräume kreativ und spielerisch erweitert werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Erleben von Selbstwirksamkeit und Urheberschaft, indem sich Klient:innen als Urheber:innen der eigenen Klänge erfahren. Urheberschaft erleben blinde Kinder nur eingeschränkt, da sie in Interaktionen oft kaum bemerken können, ob Geräusche aus der Umwelt oder Äußerungen von Menschen als Reaktionen auf ihr Verhalten geschehen, oder unabhängig davon auftreten3. Gerade für Menschen, bei denen zu der Sehbeeinträchtigung noch weitere Behinderungen hinzukommen, ist das Erleben von Selbstwirksamkeit eine wichtige Erfahrung, die in vielen Bereichen nur eingeschränkt möglich ist4. In der Musik können außerdem Gefühle nonverbal zum Ausdruck gebracht werden. Dies kann sowohl im eigenen Spielen geschehen als auch im hörbar machen der Gefühle in der Musik, welche die Therapeutin für die Klient:innen spielt5. Mit Klient:innen, die weniger stark beeinträchtigt sind, wird viel mit der jeweils eigenen Lieblingsmusikrichtung gearbeitet. Wünsche nach bestimmten Liedern werden dabei als Ich-Botschaften gesehen, welche das ausdrücken, was die Klient:innen bewegt. So können sie Anhaltspunkte für Gespräche bieten sowie die Findung und Stärkung der eigenen Person unterstützen. Hier können beispielsweise psychische Folgen von Blindheit bearbeitet werden3. Insgesamt geht es bei der Musiktherapie im LBZB darum, sich individuell auf die Themen und Bedürfnisse der Klient:innen einzulassen, die ebenso vielfältig sind wie die Klient:innen selbst.
Fallbeispiel aus der Musiktherapie am LBZB (anonymisiert)
Leo (8 Jahre) hat einen Förderbedarf in den Bereichen Sehen, geistige Entwicklung und Sprache. Er ist mit Blindheit (er ist vollblind) und einer kombinierten Entwicklungsstörung diagnostiziert. Er zeigt Züge des Autismusspektrums und es liegt eine Echolalie vor (das Wiederholen von Wörtern oder Sätzen, die andere gesagt haben, statt beispielsweise einer Antwort auf eine Frage). Bisher ist keine wechselseitige Kommunikation möglich, er wiederholt eher echolalisch Wörter und Sätze. Sein passiver Wortschatz ist gut, der aktive bisher noch eingeschränkt. Der Musiktherapeutin wurde außerdem berichtet, dass Leo in der Schule kaum spricht (was sich auch in der Musiktherapie so zeigt), zu Hause würde er jedoch viel sprechen. Es entsteht die Vermutung, dass Leo einen entspannten und für ihn sicheren Raum braucht, um sich verbal zu äußern. Auf Vorschlag der Klassenlehrerin und Wunsch der Eltern wird er in die Musiktherapie aufgenommen.
In den Wochen, in denen ich die Therapie mit Leo übernehme, nehme ich die Ziele „Förderung von Kontakt- und Interaktionsfähigkeit“ sowie „Selbst- und Fremdwahrnehmung“ in den Fokus.
Erste Therapiestunden
Zu Beginn der Therapie ist Leo viel am Klavier. Einen großen Raum nimmt die Instrumentalimprovisation ein. Da mir berichtet wird, dass er sich zurückzieht, wenn jemand zu ihm an das Klavier kommt, nehme ich ein anderes Instrument (die Gitarre) und lasse ihm so Raum, öffne jedoch gleichzeitig die Möglichkeit für musikalischen Kontakt. Ich spiele auf der Gitarre die Töne, die Leo am Klavier spielt, nach. Als ich diese auch stimmlich aufnehme und zwei Töne nachsumme, summt er diese ebenfalls. Nach einiger Zeit fällt mir auf, dass Leo nicht nur Impulse gibt, sondern diese auch aufnimmt. Es entstehen musikalische Dialoge, bei denen wir abwechselnd spielen oder singen. Zwischendurch hört er konzentriert zu und ist dann ausgelassen und lacht, wenn meine Antworten kommen. Es ist hier eine Art der Kommunikation möglich, die nicht auf die verbale Ebene angewiesen ist und somit eine niedrigere Hemmschwelle für Leo zu haben scheint. An dieser Stelle möchte ich eine Therapiestunde im Detail beschreiben, um einen Einblick in die Arbeit und die Wirkweise der Musiktherapie zu geben.
Ausgewählte Therapiestunde
Es ist die dritte Therapiestunde, die Leo und ich gemeinsam haben. Leo geht, wie in der letzten Stunde, zu Beginn zum Klavier. Da er eine Hand zur Orientierung braucht, gebe ich ihm diese, lasse ihn jedoch entscheiden, wo er hingeht. Da er den Musiktherapieraum bereits seit einigen Monaten kennt, ist dies möglich. Sobald er angekommen ist, setzt er sich auf den Hocker und beginnt zu spielen. Nachdem ich ein Begrüßungslied gesungen habe (bei dem er einige Zeilen mitsingt), nehme ich Elemente seines Spiels mit der Gitarre auf. Zunächst scheint er noch sehr für sich zu spielen, mit der Zeit wirkt es jedoch so, als würde er meine Reaktion abwarten. Nach einiger Zeit legt er sich auf den Klavierhocker und ich gehe dazu über, ruhige Akkorde auf der Gitarre zu spielen, um mich seiner Stimmung anzupassen. Nachdem ich eine Weile zu der Gitarre singend improvisiert habe, beginnt Leo ebenfalls zu singen. Zunächst nimmt er die Terz aus den letzten beiden Stunden auf, die ich in die Improvisation mit einfließen lassen habe. Dann fängt er an, laut und mit Elan zu singen, was ich in mein Gitarrenspiel und meinen Gesang aufnehme. Es folgt eine Improvisation zu zweit, bei der Leo schließlich seine hohe Stimmlage entdeckt und viel Freude daran zu haben scheint, hohe Töne zu singen und ebenfalls hohe Töne von mir zurückzubekommen. Das geht einige Minuten hin und her, während er freudig lacht. Nachdem die Improvisation ein Ende gefunden hat und es eine kurze Pause gibt, sagt er: „Der Leo macht immer…“, beendet den Satz jedoch nicht. Ich frage „Leo macht immer?“ Seine Antwort: „Leo macht immer“ und er singt daraufhin wieder hoch. Ich sage: „Tabea macht immer“ und singe tief. Das wechselt sich ein paar Mal ab, dabei gehe ich dazu über, auf der Gitarre zu spielen. Dann sagt Leo: „Der Tabea macht immer“ [sic] und wartet. Ich spiele auf den unteren Saiten eine chromatische Leiter von hoch nach tief. Dies wiederholen wir, während Leo den Satz mal schnell am Stück, mal in Silben getrennt sagt, worauf ich rhythmisch bei meinem Spiel eingehe. Dann fl üstert er den Satz einige Male und ich spiele jedes Mal leise die Leiter von hoch nach tief. Schließlich sagt er: „Leo macht immer“ und spielt ebenfalls eine chromatische Leiter auf dem Klavier (mit einigen fehlenden Tönen dazwischen). Etwas später lässt sich Leo auf den Boden sinken. Daraufhin sage ich: „Du kannst dich natürlich auch auf den Boden setzen.“ Und als er sich über den Teppich in meine Richtung schiebt, sage ich: „Kommst du zu mir auf den Boden?“, was er bejaht. Ich weise ihn darauf hin, dass hier die Gitarre liegt und er erforscht diese ein wenig, indem er sie abtastet und die Saiten anspielt. Auch hier entsteht ein kurzes Wechselspiel zwischen uns, bevor er wieder an das Klavier geht und für die letzten fünf Minuten dort spielt. Bei der Verabschiedung wiederholt er nicht wie sonst üblich im Sinne seiner Echolalie meine Verabschiedung: „Tschüß Leo“ sondern antwortet selbst mit „Tschüß!“.
Heute wird sehr deutlich, wie Leo Impulse von mir aufnimmt und darauf antwortet, sodass Interaktion stattfindet: Ich reagiere auf ihn und er auf mich. Insbesondere im Aufnehmen von „Leo/Tabea macht immer“ und der chromatischen Leiter auf dem Klavier kann dies beobachtet werden. Heute begegneten wir uns nicht nur auf der musikalischen Ebene, sondern benannten das jeweilige Gegenüber auch. Gleichzeitig gibt Leo in der Interaktion auch selbst vermehrt neue Impulse, auch auf sprachlicher Ebene (z.B. „Leo macht immer“). Als Leo mit diesem Satz beginnt, nutze ich die Möglichkeit, um mich als sein Gegenüber ebenfalls zu benennen. Neben der musikalischen und verbalen Ebene findet heute außerdem eine Annäherung im Raum statt, als Leo sich auf den Boden setzt und in meine Richtung rutscht. Auf musikalischer Ebene zeigt sich diese Annäherung auch, als er das Instrument ausprobiert, das ich bisher gespielt habe, die Gitarre. Ich habe den Eindruck, dass Leo mehr Vertrauen zu mir aufbaut und dementsprechend auch neben der musikalischen Ebene auf anderen Ebenen Kontakt aufbaut. Ich erinnere mich dabei an die erste Stunde, in der er am Klavier saß und ich bewusst nur über die musikalische Ebene Kontakt angeboten habe, sodass er über die letzten Stunden hinweg stets selbst entscheiden konnte, wie nah und auf welcher Ebene eine Annäherung und ein Beziehungsaufbau stattfand, während ich mich als offenes Gegenüber bereit für den Aufbau einer therapeutischen Beziehung gezeigt habe. Da die therapeutische Beziehung ein wichtiger Wirkfaktor in der Musiktherapie ist, ist diese Entwicklung sehr wertvoll6.
Der Fokus auf dem Dialog und dem Wahrnehmen des Gegenübers aus dieser Stunde schien sich in der Verabschiedung widerzuspiegeln, als ich auf mein übliches „Tschüß Leo“ nicht eine Wiederholung, sondern eine Antwort erhielt: „Tschüß“.
Therapiestunden der darauffolgenden Wochen
In den folgenden Therapiestunden findet sowohl sprachlich als auch in Leos Verhalten in der Musiktherapie eine deutliche Entwicklung statt. So spricht er z.B. den ersten eigenständigen Satz in der Musiktherapie: Als Reaktion auf eine Improvisation auf der Djembe sagt er: „Das war aber laut“. In der darauffolgenden Therapieeinheit findet der erste wechselseitige Dialog auf verbaler Ebene statt. Leo fragt dabei nach den Metallstäben, die er innerhalb der Cajon ertastet hat: „Was ist das?“ „Das sind Metallstäbe, die lassen die Cajon ein bisschen scheppern“, antworte ich. „In der Mitte“, sagt Leo und ich bestätige: „Ja genau, in der Mitte der Trommel“. Leo wirkt außerdem mit jeder Stunde freier und mutiger im Vergleich zu den ersten Musiktherapiestunden, in denen ich ihn kennengelernt habe. Er bewegt sich zu neuen Stellen im Musiktherapieraum, stellt aus sich heraus Fragen und probiert ohne Aufforderung ein neues Instrument (das Monochord) aus, das er durch sein Erkunden des Raumes entdeckt hat.
Kleine Ausblicke in andere Therapien (anonymisiert)
Das Fallbeispiel von Leo hat einen Ausschnitt aus einem Therapieverlauf eines Kindes am LBZB in der Musiktherapie gezeigt. Hätte ich ein anderes gewählt, wäre der Blick auf andere Entwicklungsverläufe und musiktherapeutische Arbeitsweisen gefallen. Das Fallbeispiel hätte auch von einem vierzehnjährigen Mädchen handeln können, das mit Hilfe der Methodik des therapeutischen Songwritings Themen wie das Leben mit Sehbeeinträchtigung, ihre Wut, oder ihre Liebe zu ihrer Familie in der Musiktherapie bearbeitet. Es hätte beschrieben werden können, wie ein schwer mehrfachbehinderter Junge große Freude zeigt, wenn er mit der wenigen Bewegung, die ihm mit einem seiner Arme möglich ist, die Gitarre zum Klingen bringen kann. Genau das, die Vielfältigkeit der Möglichkeiten des Mediums Musik, ist eine der großen Stärken der Musiktherapie.
Tabea Zimmermann
Musiktherapeutin (MA) und staatlich anerkannte Heilpädagogin (BA). Musiktherapeutisch tätig im Cochlear Implant Centrum Wilhelm Hirte und auf der Kinderstation der Medizinischen Hochschule Hannover.
1 LBZB – Landesbildungszentrum für Blinde (LBZB) (o.J.). Wir über uns. [Online] abgerufen am 13.12.2024, von: https://www.lbzb. niedersachsen.de/startseite/wir_uber_uns/
2 Fröhlich, A. (2010). Communico – Communico (lat.): Gemeinsam machen, mitteilen, teilnehmen lassen. In: Maier-Michalitsch, N.J., Grunick, G. Hrsg. (2010). Leben pur – Kommunikation bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. (S. 12–24). Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
3 Wrogemann-Becker, H. (2021). Sehbehinderung – Blindheit. In: Decker-Voigt, H.-H., Weymann, E. Hrsg. (2021). Lexikon Musiktherapie. (S. 565–568). 3. Vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl age. Göttingen: Hogrefe Verlag.
4 Reimer, S. (2016). Affektregulation in der Musiktherapie mit Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag.
5 Meyer, H. (2009). Gefühle sind nicht behindert: Musiktherapie und musikbasierte Kommunikation mit schwer mehrfach behinderten Menschen. Lambertus-Verlag, ProQuest Ebook Central, https://ebookcentral.proquest.com/lib/thhfriedensau/detail.action?docID=5476310.
6 Lutz Hochreutener, S. (2021). Praxeologie. In: Decker-Voigt, H., Weymann, E. Hrsg. (2021). Lexikon Musiktherapie. (S. 498–504). 3. Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe Verag.
Editorial
„Wie die Alten sungen, zwitschern heut die Jungen“?
Jede Institution beweist ihre Zukunftsfähigkeit, wenn es ihr gelingt, Generationenwechsel erfolgreich zu bewältigen. „WIR HABEN ES GESCHAFFT“ – so darf es das Herausgeberteam der MuG inklusive aller Mitautor:innen, Redaktionsmitarbeiter:innen & fleißigen Helfer:iInnen nach mehreren Jahrzehnten erfolgreichen Arbeitens stolz und fröhlich gen Himmel trällern.
Aus Anlass des 80. Geburtstags von Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt halten wir (H. U. Schmidt, T. Timmermann, P. Jürgens und T. Stegemann) in dieser Ausgabe als Quartett Rückschau auf dessen professionell mitmenschliche Lebensleistung.