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Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Von Sabine Rittner

Heilsames Tönen im achtsamen Körperkontakt
Heute möchte ich diese Rubrik einem Thema widmen, das manchen klinisch psychotherapeutisch Ausgebildeten heikel erscheinen mag: das Tönen im achtsamen Körperkontakt. Hierbei handelt es sich um eine nonverbale Begegnung über Hand-Körper-Berührung und Stimmklang. Diese uralte Methode zur Unterstützung der Selbstheilungskräfte, das Besingen, wird manchmal auch „Sound healing“ oder „Sound focussing“ oder „Voice healing“ oder mit vielen anderen Bezeichnungen versehen. Mastnak (1992) unternahm vor mehr als 30 Jahren einen ersten Versuch der fachlichen Fundierung dieser uralten Heilmethode. 2008 habe ich sie als wichtige und legitime Methode in der Musiktherapie methodisch eingeordnet. Als Anregung zur alltagtstauglichen Selbstbehandlung wurde sie bereits 2006 von mir in dieser Übungsrubrik der MuG beschrieben („Der Gesang der heilsamen Muster“). Heute möchte ich sie differenzierter und als gegenseitige Partner-Be-Hand-lung erläutern.
Es ist sinnvoll, diese Begegnung in einem ausgeruhten Zustand durchzuführen, so dass beide Beteiligten sich entspannen und dabei gleichzeitig innerlich wach und präsent ihre Aufmerksamkeit bündeln können. Dieser Trancezustand spiegelt sich auf der Ebene der Hirnwellen in Form eines paradoxen Zustands hellwacher und gleichzeitig tiefer Entspanntheit (Alpha- und Theta-Dominanz mit Beta IBeteiligung) wieder. Dabei befindet sich unser Gehirn in einem Zustand der Synchronisation, in dem Suchprozesse und Lösungsfindungen, sowie die selbstwirksame Nutzung der Körperintelligenz optimal unterstützt werden.
Als Abkürzungen verwende ich im Folgenden:
E – für die/den Empfangende:n
G – für den/die Gebende:n

Vorbereitungen
Die Beteiligten sollten sich an einem ruhigen, geschützten Ort befinden und ihr Magen sollte leer sein. Der Zeitbedarf für diese Sequenz beträgt pro Durchlauf etwa 20–25 Minuten.

  • Entscheiden Sie miteinander, wer für den ersten Durchlauf die Rolle von E einnimmt und wer G ist.
  • G wird auch Zeithüter:in sein und stellt sich dafür gut sichtbar eine Uhr bereit. Außerdem wird eine große, halbvoll mit Wasser gefüllte Schüssel vorbereitet und ein Tuch dazu.
  • E findet eine entspannende Körperposition im Sitzen oder Liegen, in der der Atem frei fließen kann. Falls erforderlich, unterstützen Sie die Körperlagerung mit Kissen oder einer gerollten Decke.

Einstimmung

  • E richtet seine/ihre Aufmerksamkeit auf eine Stelle des Körpers, die ihre/seine Zuwendung benötigt. Es kann sein, dass diese sich im Moment unangenehm bemerkbar macht, z.B. in Form einer Anspannung, eines Druckgefühls oder eines Schmerzes. Vielleicht zeigt sie sich aber auch auf andere Weise.
  • E zeigt G diese Stelle, die Zuwendung möchte und an der er/sie sich Berührung wünscht. Wichtig: dies geschieht ohne verbale Erläuterungen, Begründungen oder gar Anamnesen.
  • Hier noch NICHT vorschnell in den Körperkontakt gehen! G findet für sich jetzt in Ruhe eine Körperposition heraus, in der sie/er mühelos(!) diese Stelle mit einer oder beiden Händen berühren kann. – Im weiteren Verlauf sollte diese Position sofort verändert werden, sobald sie für G anstrengend wird, denn das mühsame Aushalten einer unbequemen Position würde die Wirksamkeit deutlich reduzieren.
  • G sammelt sich vor der Kontaktaufnahme erst einmal, kommt zur Ruhe und zentriert sich.
  • Dann führt G unterstützend folgende Energieübung durch: Beide Handflächen vor dem Herzen zusammenlegen und sehr langsam hinauf führen bis weit über den Kopf. Nun die Hände öffnen und seitlich herunterführen, verbunden mit der Vorstellung, eine lichtvolle Hülle um sich und den Partner E herum zu ziehen. Diese Bewegung mehrmals zu allen Seiten hin ausführen. Dabei wird die zu behandelnde Person E in diesen gemeinsamen Energieraum mit eingehüllt.

Durchführung

  • Erst jetzt, nach dieser sorgsamen Vorbereitung und Einstimmung, nimmt G behutsam mit einer oder beiden Händen an der verabredeten Körperstelle Kontakt auf mit E, dabei beobachtet G den Atemrhythmus von E.
  • Jetzt wird unbedingt eine Feinjustierung der Berührung mit verbalem Kontakt durchgeführt: Wie fest, wie sanft soll die Berührung sein…? Vielleicht einen cm höher, tiefer…? Mit einer Hand oder mit beiden Händen berühren? E findet spürend in aller Ruhe heraus, wo und wie der Kontakt wirklich stimmig ist.
  • G lässt nun einen Vokal-Klang entstehen und tönt diesen über die „Klangmembran“ der Handinnenflächen in die Berührungsstelle hinein. Vielleicht spürt G es in den Handflächen, vielleicht nutzt er/sie aber auch ihre/seine Vorstellungskraft dazu.
  • G findet experimentierend heraus, über welche Tonhöhe die Vibration in der Hand-Berührungsstelle am besten ankommt und welcher der Vokale (a, e, i, o, u, ä, ö, ü) dort am besten schwingt – keine Angst, dies einfach auszuprobieren!
  • Während G diesen Klang sich mühelos mehr und mehr entfalten lässt, schaut sie/er ihm innerlich dabei zu und genießt seine Wirkung einige Minuten lang, ohne etwas „zu machen“, ohne etwas bestimmtes „bewirken zu wollen“. Dies ist die große Kunst, sich respektvoll, staunend, neugierig, lauschend leer zu machen und den Vokalklang in einer empfangenden Haltung zu tönen.
    Achtung: Es findet hier keine Massage statt, kein „Wegmachen“ von irgendetwas, kein Bearbeiten der Stelle, kein visionäres Eindringen und Diagnostizieren!
  • Nach wenigen Minuten: E tönt auf Aufforderung von G mit und singt von innen her in die
    Berührungsstelle hinein, mit der Vorstellung, dass sich die Schwingungen von innen und die von außen dort in der Körperstelle begegnen. Das Geben und das Empfangen heben sich jetzt auf.
    Wichtig: Die gesamte Klang-Berührungs-Phase dauert max. 8–10 Minuten, auf keinen Fall überdosieren. Weniger ist für diese intensive Begegnung mehr!
  • G kündigt über die Hände an, dasssie/er sich verabschieden wird, beendet das Tönen, löst dann die Berührung und entfernt langsam die Hände.

Ausklang:

  • Zum Abschluss umfasst G in Stille die Fußsohlen von E, ohne zu tönen. Dazu den Platz zu den Füssen wechseln und von oben mit 4 Fingern (ohne den Daumen) die Sohlen umfassen. G atmet mit E – Dauer ca. 1–2 Minuten.
  • G löst die Hände.
  • G hüllt E bei Bedarf in eine Decke.
  • Mit einer abschließenden Energiebewegung schließt G nun wieder sein/ihr Energiefeld, den Eigen-
    Raum, wie ich ihn nenne. Dazu werden die Hände von unten an beiden Seiten seitlich mit den Handflächen nach oben langsam hinaufgeführt bis über den Kopf (als ob sich „Flügel schließen“). Dann von oben herab die Handflächen wieder vor der Brust zusammenführen.
  • Zum Abschluss gönnen sich nun beide Beteiligten eine Ruhezeit, ein Nickerchen, eine Integrationsphase in Stille von etwa 5 Minuten.
  • G und E kehren nun mit einem genüsslichen Räkeln, Gähnen und Strecken zurück, öffnen die Augen und richten Ihre Aufmerksamkeit wieder auf den umgebenden Raum.
  • Danach zieht G bei Bedarf seine/ ihre Hände durchs Wasser der zuvor bereit gestellten Wasserschüssel. Mit dieser symbolischen Geste gibt sie/er an das Wasser ab, was er/sie evtl. von E aufgenommen haben könnte und was nicht zu ihm/ihr gehört.
  • Es folgt ein kurzes, max. 5-minütiges Nachgespräch miteinander, bei dem E beginnt zu berichten, danach G – hier wird von der konkreten Erfahrung berichtet, bitte keine zerpflückenden oder tiefbohrenden Analysen an dieser Stelle.
  • Danach kann je nach Setting der Rollenwechsel erfolgen.

Die wohltuende, heilsame Wirkung dieser Stimm-Klang-Behandlung beruht auf unmittelbaren körperlichen (wie z.B. Durchblutungsverbesserung, Endorphinausschüttung) und auch auf energetischen Veränderungen, die sich mit Hilfe der Berührung, des Atems, des Klanges und der Aufmerksamkeitsfokussierung eingestellt haben.
Sollte kein Gegenüber/Partner:in zur Verfügung stehen, so kann diese Sequenz auch in Form einer fürsorglichen Behandlung mit sich selbst durchgeführt werden. Dazu wählen Sie eine für die eigenen Hände leicht erreichbare Körperstelle aus. Wenn Ihr Organismus diese Art der Hinwendung einige Male gut kennengelernt hat, so lässt sich diese Information auch in Alltagssituationen abrufen, indem Sie Ihre Hand unauffällig an die betroffene Körperstelle legen oder sogar nur in Ihrer Vorstellung dort hineinatmen und sich dabei an den wohltuenden Klang erinnern. Sollten bei Ihnen während dieser Übung unangenehme Gefühle auftauchen, so ist es ratsam, sie unter fachkundiger Begleitung durchzuführen. Symptome, die trotz mehrfacher Selbstbehandlung nicht verschwinden, sollten selbstverständlich von einem guten Arzt/Ärztin angeschaut werden.

Methodische Hinweise für Musiktherapeut:innen

  • Diese Sequenz kann sehr gut in der Einzel-Musiktherapie-Behandlung als körper-musiktherapeutische Intervention eingesetzt werden, allerdings ist dafür zuvor eine sorgsame Abklärung des Einverständnisses der/des Patient:in für den Körperkontakt erforderlich.
  • Das verbale Feedback zur Feinjustierung der Berührung ist besonders am Beginn wichtig, sollte aber jederzeit möglich sein. Die Vereinbarung eines gestischen STOP-Signals kann zusätzlich sinnvoll sein.
  • Wichtig: Der/die Empfangende (bzw. der Patient/die Patientin) muss in jedem Moment die Kontrolle über die Situation behalten und Einfluss nehmen können!
  • Ein vertiefendes, explizit körpertherapeutisches Arbeiten in der Musiktherapie-Sitzung sollte nur durchgeführt werden, wenn dies vom Kontext her adäquat und für den Prozess erforderlich ist. Hierfür ist eine fundierte körperpsychotherapeutische Zusatzausbildung sinnvoll.
  • Wird diese Sequenz in einer Gruppe gemeinsam im Raum durchgeführt, so führt der/die Therapeut:in/Gruppenleiter:in durch die Abfolge der Schritte hindurch und hat dabei die Zeit im Blick. In der Stimm-Klang-Phase kann leise, unterstützend und Raum haltend mitgetönt werden.
  • Die Phase des stimmlichen Betönens im Körperkontakt sollte 8–10 Minuten nicht überschreiten. Hier ist weniger mehr.
  • Entscheidend für die Förderung der Selbstwirksamkeit ist, dass der Therapeut/die Therapeutin nicht zu viel „bewirken will“, nicht zu „therapeutisch bemüht“ ist, nicht unbedingt etwas „gezeigt bekommen will“ von der Ursache des Symptoms. Es geht darum, respektvoll und nicht invasiv zu sein. Es handelt sich um eine Anregung zur Stärkung der Selbstheilungskräfte, nicht darum, etwas „wegmachen zu wollen“. Dies würde die Selbstwirksamkeit des Empfangenden vermindern.
  • Wichtig ist, hinterher sorgsam eine gute Ablösung und Reorientierung für beide Beteiligten durchzuführen.
  • Im Nachgespräch ist es sinnvoll, sich auszutauschen, das Erfahrene jedoch nicht zu zer-analysieren oder zu zer-reden. So bleibt das Erlebte lebendig und kann weiterwirken. Gegebenenfalls kann in der Folgesitzung vertiefend nachbesprochen werden.

Viel zu oft unterschätzen wir die Kraft einer Berührung.
Felice Leonardo Buscaglia, amerikanischer Prof. für Pädagogik

Literaturtipps und Infos
Mastnak, W. (1992). Sound Focusing. Therapie durch Stimme und gezielte Körperresonanz. Musiktherapeutische Umschau. Forschung und Praxis der Musiktherapie, 13(1), 30–47.
Rittner, S. (2006). Hilfe zur Selbsthilfe: Kleine Hilfen mit Atem, Stimme, Körper. Der Gesang der heilsamen Muster. In: Musik und Gesundsein 11/2006, 28.
Rittner, S. (2008). Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie / in der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau, Themenheft „Die Stimme im therapeutischen Dialog“, 29, 3/2008, 201–220.
Rittner, S. (2017). Die Bedeutung des Körpers in der Musikpsychotherapie. In: Musik und Gesundsein 31/2017, 21–24.

Unter www.sabinerittner.de finden Sie mehrere Videos mit einer von Sabine Rittner angeleiteten, tönenden Stimm-Meditation und einer Klangtrance-Reise kostenlos zum Mitmachen.

Sabine Rittner
ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin, IFS- und Traumatherapeutin
mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und körperorientierter Therapie. Sie war 30 Jahre lang tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Bewusstseins- und Musiktherapieforschung). Sie arbeitet weiterhin in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching), leitet Seminare, bildet aus, hält Vorträge und tritt international
in Kunst-Performances auf. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie – Depression.

Weitere Informationen: www.SabineRittner.de

Schwerpunktthema I

Das musikalische Lebenspanorama (MLP)
Von Isabelle Frohne-Hagemann

Das musikalische Lebenspanorama (MLP) (Frohne-Hagemann, 1996, 2001) ist ein musiktherapeutischer Beitrag zur psychotherapeutischen Biographiearbeit. Im Sinne eines Rundblicks (Panoramablick) auf Lebensthemen werden die Bedingungen und Narrative, die die eigene Biographie geprägt haben, erforscht, um sich selbst im Lebensganzen zu verstehen (vgl. auch Petzold, 1993, 2003). Das MLP findet Verwendung zu Beginn einer Therapie, um einen ersten Einblick in positive bzw. schädigende Musikerfahrungen zu gewinnen und es ist gleichzeitig eine Sammlung der zu bearbeitenden therapeutischen Themen im Therapieverlauf. Narrative, Rollen und Selbstbilder, die im Laufe des Lebens unter den jeweiligen familiären, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen und Einflüssen verinnerlicht wurden, werden mithilfe von Musik erarbeitet. So kann die Wirkung erschlossen werden, die Erinnertes, Vergessenes oder Verschwiegenes auf das Hier und Heute hat.
Musik ist aufgrund ihres sozialen und emotionalen Potenzials besonders geeignet. Es gibt fast keinen Bereich, wo Musik nicht unser Fühlen und Verhalten beeinflusst – man denke nur an Werbung – und eine emotionale und soziale Rolle in festgelegten Traditionen spielt, ob in der Kirche, bei Ehrungen, Hochzeiten, Beerdigungen, im Konzert, beim Fußball, bei Festivals usw.
Biographie wird in der Einzelsitzung mit der Musiktherapeutin1 (oder in der Therapiegruppe) in narrativer Praxis gemeinsam und im Austausch erarbeitet und durch Inszenierende Improvisation bearbeitet.
Im Gespräch über Musik, die im Lebensverlauf eine wichtige Rolle spielte, schwingen Narrative mit, die uns meist unbewusst emotional mitgeprägt haben. Wie haben die Musikerfahrungen unsere Beziehungserfahrungen, Verhaltensmuster und das eigene Selbstbild geprägt? Welche Atmosphären (z.B. Angst, Verunsicherung) und Narrative (z.B. „ich bin unmusikalisch“) wurden über Erfahrungen mit Musik transportiert? Wie wirkten sich Musikerfahrungen der Eltern- oder Großelterngeneration aus, die transgenerational weitergetragen werden (z. B. Lieder mit rassistischen Texten)? Welche in Musik transgenerational weitergegebenen Traumata und Konflikte schleppen wir unbewusst mit uns herum?
In der Inszenierenden musikalischen Improvisation können wichtige Themen atmosphärisch und emotional Gestalt annehmen und kommuniziert werden, so dass Erinnertes bzw. Verdrängtes oder Abgespaltenes Sprache finden kann.
Im Folgenden seien einige der Themen für die narrative Praxis skizziert.
Die Erarbeitung eines Panoramas der Hörgewohnheiten, der Musikvorlieben und des Musikgeschmacks zeigt, welche Art Musik unser Herz berührt und woran wir auf besondere Weise hängen. Welche Musik wurde uns zur Ressource, zur „guten Mutter“, die einen verstand? Welche Musik konnte Gefühle, Bedürfnisse, Hoffnungen, Wünsche und Phantasien spiegeln bzw. aufgrund welcher musikalischen Merkmale fand sich die Patientin in „ihren“ Musiken wieder?
Das Panorama der Erfahrungen mit Musik führt aber auch recht schnell zu Erinnerungen an schlimme Kränkungen, Demütigungen und traumatische Ausgrenzungen. Im Bereich der Ästhetik bzw. in Fragen des Musikgeschmacks sind wir verletzlich, aber auch intolerant. Schnell wird man in einer Gruppe akzeptiert, wenn man denselben Musikgeschmack hat und ebenso schnell ausgegrenzt, wenn man eine ganz andere Musik vorzieht. Schnell verletzen wir (vielleicht unabsichtlich) eine Person durch Abwertung der Musik, die dieser vielleicht sehr viel bedeutet. Daher muss jeder Austausch über Musikgeschmack das Tolerieren und Wertschätzen verschiedener musikalischer Sozialisationen und Musikpräferenzen fördern und Erfahrungen positiver Gemeinsamkeit und Solidarität sowie die Wertschätzung von Andersartigkeit ermöglichen, denn jede Kränkung, jede Ausgrenzung gräbt sich hier sonst zu tief und lange in die Seele ein.
So stellen sich Fragen wie z.B. welche Musik im Elternhaus vorwiegend gehört oder auch nicht gehört wurde und welchen Stellenwert Musik hatte. Hatten die Eltern denselben Musikgeschmack? Welches gesellschaftliche Narrativ wurde der Heranwachsenden vermittelt, wenn die Mutter z.B. nur klassische Musik hörte und Schlager und Popmusik für etwas Primitives hielt, der Vater aber gerne Schlager und Volksmusik hörte? Wurde die Mutter damit zur „gebildeten Frau“ und der Vater „zum Bildungsfernen“? Mit wem war die Patientin mehr identifiziert und wie wirkte sich der Musikgeschmack der Eltern auf ihre eigenen Werte aus?
Welche Musik(en) werden heute am liebsten gehört? Sind es dieselben Musikstücke wie früher oder auch Musiken, die es früher noch nicht gab? Mit welcher Musik gelang in der Pubertät die Abgrenzung von den Eltern? Welche musikalischen Vorlieben der Eltern wurden aber auch übernommen?
Eine 30jährige Patientin erzählte, dass sie als Teenager an Bulimie litt und damals besonders oft sehr rhythmische Musik hörte, um sich dabei körperlich richtig auszutoben. Es wurde ihr erst beim Erzählen deutlich, dass es eigentlich um eine damals zurückgehaltene Wut auf die Eltern ging, die bestimmte Vorstellungen hatten, wie sie sich „anständig“ (in der Öffentlichkeit) zu benehmen hätte. Die rhythmische Tanzwut war auch ein Versuch, sich gegen diese leibfeindlichmoralischen Vorstellungen zu wehren.
Das Erarbeiten eines Panoramas der Stimmerfahrungen betrifft nicht nur die physische Stimme, denn die Stimme berührt viele Aspekte von persönlicher Verfassung, Beziehung, Kommunikation und Intonation. Man kann jemandem „seine Stimme geben“, „zustimmen“, die „Stimme erheben“. Etwas „stimmt nicht“. Ein Instrument muss „gestimmt“ werden, die eigene „Stimmung“ kann schlecht sein.
Wie wird die eigene Stimme (Klangfarbe, Lautstärke, Tonfall) selbst erlebt und wie wird die eigene Stimme von anderen erlebt (und bewertet)? Wie wurden die Stimmen von Eltern, Angehörigen oder Lehrern in Klangfarbe und Intonation erlebt? Wie wirkten schrille, keifende, monotone, depressive oder vorwurfsvolle Stimmen auf das Selbstgefühl? Warum spricht die erwachsene Patientin mit piepsiger und kindlicher Stimme?
Auch das Erarbeiten eines Panoramas der Erfahrungen mit dem Singen und Musizieren ist sehr lohnend. Manch einer Leserin werden sich hier vielleicht schon die Nackenhaare sträuben, denn das Singen und Musizieren ist fast immer schambesetzt, besonders, wenn man den Anspruch vermittelt bekommen hat, dass man „richtig und sauber“ singen und ebenso spielen können muss. Wenn schon musizieren, dann muss es nach was klingen. Schon Hebbel schrieb: „Unter allen entsetzlichsten Dingen das Entsetzlichste ist Musik, wenn sie erst erlernt wird“. Das Implikat ist: Man darf erst dann vor oder mit anderen Menschen singen und musizieren, wenn man schon perfekt ist. Dieses Narrativ spiegelt auch heute die Erziehungsziele unserer Gesellschaft, Höchstleistung zu bringen, der Beste sein zu müssen. Zum Vorspielen oder Vorsingen zu Weihnachten, vor Freunden, vor der Klasse, in Prüfungen gezwungen zu sein, gerät oft immer noch zur Qual, persönlich und musikalisch perfekt sein zu müssen. Und wir wissen, wie kränkend Prüfungsgremien sein können.
Welche Lieder wurden in der Kindheit und später gerne gesungen? Welche Lieder, welche Liedtexte waren für die Patientin wann besonders bedeutsam? Gerade in der Arbeit mit alten Menschen aktiviert das Singen solcher Lieder oft Erinnerungen an wichtige beglückende oder auch traurige Erlebnisse. Ferner: Welche positiven und negativen Erfahrungen hatte die Patientin mit dem Musikunterricht in der Schule? Gab es z.B. kränkende Bemerkungen über das eigene musikalische Talent, über die Fähigkeit, sauber zu singen oder „musikalisch richtig“ zu spielen? Wie kam es zu einem Narrativ „ich bin eben unmusikalisch“ und wie wirkte sich das auf das Selbstwertgefühl auch in anderen Lebenskontexten aus?
Gab und gibt es Freunde oder Gruppen, mit denen die Patientin Gefühle, Einstellungen, Überzeugungen, Anschauungen beim gemeinsamen Singen und Spielen teilen konnte?
Welchen emotionalen und sozialen Stellenwert hatte gemeinsames Musizieren in der Familie und für die einzelnen Familienmitglieder? Wenn ein Instrument gelernt wurde: Machte der Instrumentalunterricht und das Üben Spaß oder war es eine lästige, weil von anderen verlangte Pflichtübung? Aus welchem Grunde sollte überhaupt ein Instrument gelernt werden? Was sagte das über die Vorstellungen der Eltern aus und wie passte es zum Kind?
Eine weitere Möglichkeit ist, im MLP komponierte Musik zu verwenden. Patientinnen können vorab als Hausaufgabe einige wichtige Musikstücke zusammenstellen, die sie in einer oder verschiedenen Lebensphasen tatsächlich gehört hatten, um sie dann mit ihrer Therapiegruppe gemeinsam zu hören. Durch den gemeinsamen Austausch in der Gruppe darüber, was die jeweilige Musik der Patientin in der Lebensphase bedeutete und wie sie ihr Leben weiter prägte, entsteht viel intime Nähe. Außerdem wird in der Therapiegruppe erlebt, dass Musik sehr unterschiedlich erlebt wird, was die Gelegenheit bietet, Toleranz und Wertschätzung verschiedenster Musikgeschmacksrichtungen zu üben, die eben nicht die eigenen sind. Ein wertschätzendes Feedback wie: „Ich würde zwar für deine damalige Trauer eine ganz andere Musik wählen, aber ich verstehe jetzt gut, warum diese von dir gehörte Musik dir so viel bedeutet“, kann manch frühere kränkende Erfahrung mildern oder heilen.
Wenn die Gruppe für die erzählende Person auch noch gemeinsam eine passende Musik sucht oder spielt, um einer Patientin im Hier und Jetzt eine emotionale Wertschätzung oder eine Widmung zu geben, kann nachgeholt werden, was früher an Wertschätzung fehlte.
Wenn der Zugang zu den tatsächlich früher gehörten Musikstücken fehlt, etwa, weil es die Schallplatte/CD mit der betreffenden Aufnahme und Interpretation (sehr wichtig!) nicht mehr gibt, können den Lebensphasen auch aus heutiger Sicht passende komponierte Musiken zugeordnet werden.
Die narrative Praxis kann vertieft werden durch die Inszenierende musikalische Improvisation erinnerter Szenen und Situationen. Diese ermöglicht, alte Erfahrungen aus der Perspektive der gegenwärtigen Patientin zu erleben und neu zu bewerten.
Eine Patientin wird z.B. eingeladen, eine bestimmte erinnerte Szene in der Vergangenheit auf Instrumenten musikalisch darzustellen (z.B. „Mittagessen bei uns Zuhause“; „bei den Großeltern“, „mein Einstieg in den Beruf“) oder über die Zeit zu improvisieren, als sie in der Grundschule oder in der Pubertät war usw. Die Patientin wählt Instrumente für sich (und ggf. die Therapeutin und/oder die Gruppe) aus und gibt den Mitspielerinnen als Regisseurin genaue Spielanweisungen. Es ist eine Art Aufstellungsarbeit mithilfe von Musikinstrumenten. Soll die Stimmung eher weich, zart, harmonisch, chaotisch, fragmentiert, brutal, lärmend oder noch anders erspielt werden? Wer spielt welchen familiären und emotionalen Anteil im Kontext? Die Patientin kann im Verlauf der Improvisation ändern, was aus heutiger Sicht anders klingen soll oder welches Instrument gar ausgewechselt werden muss, weil es nicht (mehr) passt. Sie hat die Möglichkeit, je nachdem eine tröstende, ermutigende oder herausfordernde Musik für die damalige und die heutige Situation anzuleiten. Es ist eine schöpferische Differenzierungsarbeit. Wichtig ist, dass die Patientin das Wie und Wann selbst entscheidet.
Die oben genannte Patientin könnte beispielsweise eine musikalische Begegnung mit ihrer damaligen Bulimie (im Sinne einer Kommunikation zwischen inneren Anteilen) improvisieren, um den familiären Gründen für die Essstörung nachzugehen. Für die Patientin kann auch die Inszenierende Improvisation den Ausdruck der damals verbotenen lustvollen weiblichen Identität unterstützen.
Der verbale Austausch zwischen Patientin und Therapeutin bzw. in der Gruppe ermöglicht, die Atmosphären und die darin enthaltenen Narrative zu erkennen und zu teilen, z.B. „es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“, „solange Du Deine Füße unter meinen Tisch stellst…“, „meine Eltern wollten immer, dass ich die Firma übernehme“. Auch Improvisationen und der Austausch über die gesellschaftlich bedingten emotionalen Wirkungen von Zeitenwenden (z.B. Zusammenbruch der DDR oder Deutschlands Wiedervereinigung) helfen, Verständnis für die Folgen der damaligen persönlichen, familiären und beruflichen Verunsicherungen zu gewinnen (Frohne-Hagemann, 2001).
Eine letzte hier zu skizzierende Technik ist die Musikevozierte Imagination. Eine aufgezeichnete Improvisation über eine bestimmte Szene/Situation oder über ein bestimmtes Thema wird in einer nächsten Therapiesitzung in einem entspannten Zustand mit geschlossenen Augen sitzend oder liegend wieder gehört. Während dieser musikinduzierten Imaginationsreise teilt die Patientin der Therapeutin im Dialog die auftauchenden Bilder, Szenen und Gefühle mit.
Auch die oben genannten, chronologisch zusammengestellten früher gehörten Musikstücke können in der Therapiesituation einzeln oder – wenn indiziert – in der chronologischen Reihenfolge nochmals gehört werden. Oft tauchen hier ganz andere Bilder, Szenen oder Situationen aus den Archiven des Leibes auf als erwartet. Eine solche Musikevozierte Imagination kann als modifizierte Arbeit mit der Methode Guided Imagery and Music (GIM) betrachtet werden und darf nur von zertifizierten GIM-Therapeutinnen angewendet werden (www.music-and-imagery.eu), denn die Musik, die hier gehört wird, kann die Archive des Leibes schnell öffnen und das, was dort gespeichert oder sogar eingekapselt wurde – z.B. um traumatische Erlebnisse dem Bewusstsein zu entziehen –, unvorbereitet an die Oberfläche bringen und die Patientin psychisch überwältigen. Hier wie dort ist der verbale Dialog der Patientin mit der Therapeutin während des Hörens deshalb zwingend notwendig, um eine Patientin beim Hören, Erleben, Vertiefen und Erkunden ihrer Imaginationen/Erinnerungen fachkundig zu begleiten und zu unterstützen.
Beispiel: Eine Patientin tauchte mit der von ihr für die Pubertät ausgesuchte Musik (William Walton: Touch her soft lips and part) während des Hörens in die damals schlimme Erfahrung des Verlusts der Mutter ein, die an Krebs starb. Sie hatte damals an der Beerdigung nicht teilnehmen dürfen und auch später wurde in der Familie mütterlicherseits nicht getrauert. So blieb die Patientin mit ihrem Schmerz und ihren Schuldgefühlen allein. In der Imagination sah sie sich nun als 14jähriges Mädchen am Grab ihrer Mutter stehen und mit ihr in Kontakt treten. Unterstützt durch die Therapeutin konnte sie ihr ihre Schuldgefühle beichten und sie um Verzeihung bitten, nicht bei der Beerdigung anwesend gewesen zu sein. Sie empfand dabei die ausgewählte Musik als jemand, der ihre Trauer verstand. Dadurch fand ein Perspektivwechsel statt, weil die Musik zur tröstenden und verzeihenden Mutter wurde. Die Patientin fühlte, dass die Mutter durch die Musik zu ihr sprach und sie ihrer Liebe versicherte.
Das Thema, warum in der Familie dieser Patientin nicht getrauert werden konnte/durfte, konnte durch eine Inszenierende Improvisation weiter erarbeitet werden. In der Improvisation wurde eine emotionale Kälte der Familienangehörigen und eine gewisse Verbissenheit hör- und erlebbar. Ein sich bei der Patientin einstellendes Gefühl von Leere und Tod ließ deswegen auf traumatische Erlebnisse der Eltern und vermutlich der Großeltern der verstorbenen Mutter schließen. Die Generationen der Kriegskinder, Nachkriegskinder und Kriegsenkel sind sich der Gründe für ihre Unfähigkeit zu trauern oft nicht bewusst, weil es sich um eine nicht bewusste transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen handelt. Diese Erkenntnis ermutigte die Patientin, das Gespräch mit den Großeltern zu suchen bzw. deren Geschichte zu recherchieren.

Zusammenfassung
Das MLP ist eine Methode der Biographiearbeit, die über Musik einen vielseitigen atmosphärisch-leibbezogenen und emotionalen Zugang zum Verständnis prägender Einflüsse auf den eigenen Werdegang und des eigenen Geworden-Seins bietet. Das MLP zeigt, wo Musik eine Ressource zum emotionalen Überleben wurde und wo sie die Entwicklung eines guten Selbstwertgefühls förderte oder behinderte. Musik öffnet den Blick für soziokulturelle Einflüsse und für die Bedeutung emotionaler Klimata in Sozialisationsprozessen. Verinnerlichte Werte und Narrative, festgelegte Welt- und Selbstbilder werden durch narrative Praxis, durch inszenierende musikalische Improvisation und durch musikevozierte Imagination im Kontext und Zeitverlauf erlebbar, kommunizierbar und teilbar. Dadurch können negative Erfahrungen aus heutiger Sicht überschrieben werden und neuen zukunftsorientierten Sinn finden lassen.

Isabelle Frohne-Hagemann
Prof. Dr. phil., Leitung des Instituts für Musik, Imagination und Therapie (IMIT), Berlin; K.J.-Psychotherapeutin; Lehrmusiktherapeutin DMtG; EAMI accredited GIM therapist and trainer; Supervisorin; Ehrenmitglied der DMtG; Chair of the Education Committee European Association of Music and Imagery (EAMI)
www.frohne-hagemann.de

1 In diesem Text wird nur die weibliche Form verwendet. Alle anderen Geschlechter sind jedoch immer mit gemeint.

Praxisvorstellung

Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen im MVZ Ankerplatz
Von Daniel Franz

„Kinder- und Jugendpsychiatrie als Ausgleich“ – habe ich gedacht. Denn hauptberuflich bin ich in einer Suchtklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit als Musiktherapeut und Seelsorger angestellt. Von meiner dortigen Tätigkeit habe ich bereits in der Ausgabe 43/2023 (Musiktherapeutischer Klinikspaziergang) berichtet. Schon lange bin ich begeistert dabei mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten und sie zu begleiten – ob als Pfadfinder, im Bandprojekt mit Teens oder später als Jugendpastor. Dass jedoch die musiktherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen alles andere als ausgleichend für mich ist, bemerkte ich recht schnell. Vielmehr fordert sie mich heraus, einen Umgang mit dem Unausgeglichenem zu finden.

Das MVZ Ankerplatz
Das MVZ Ankerplatz ist ein Medizinisches Versorgungszentrum für Kinder und Jugendliche mit seelischen Symptomen und Beschwerden sowie Lern- und Entwicklungsproblemen in der östlichen Region Niedersachsens an den Standorten Jembke, Gifhorn und Helmstedt. Hervorgegangen aus der seit 2004 bestehenden Praxis Leuschner, bietet das Team von sieben Ärzt:innen und 30 Therapeut:innen sozialpsychiatrische Diagnostik, Beratung und Behandlung mit Einzel-, Gruppen- und Familientherapien an sowie bei Bedarf eine medikamentöse Behandlung. Das Behandlungsangebot umfasst unter anderem verschiedene Formen von Ängsten, psychosomatische Beschwerden, depressive Symptome, emotionale und Verhaltensstörungen, Krisenintervention, Zwänge, Ticstörungen, Störungen aus dem autistischen Spektrum, manische und psychotische Störungen, Lern- und Leistungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Essstörungen sowie Suchterkrankungen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird neben den Ärzt:innen von Therapeut:innen verschiedener Art gestaltet – wie aus den Bereichen der Ergo-, Musik-, Kunst-, Familien- oder Psychotherapie. Den zuständigen Therapeut:innen werden Patient:innen (von Kleinkind- bis junges Erwachsenenalter) zugeteilt. Im Sinne einer Zuarbeit werden die kleineren Bereiche wie die Musiktherapie beauftragt die Haupttherapie zu unterstützen. Dies geschieht in der Regel in Form von zunächst sechs Therapiesitzungen. Nach anschließender mehrwöchiger Pause und eventuellem Antrag auf eine Fortsetzung können weitere Sechserblöcke verordnet werden. Zudem sind regelmäßige Sprechstunden mit den zuständigen und hauptverantwortlichen Ärzt:innen wesentlich, sowohl zur Kontrolle und Diagnostik als auch zur Steuerung des Behandlungsverlaufs.
Nachdem ich damals im Rahmen meines Studiums der Musiktherapie bei den beiden bis dato einzigen
Musiktherapeut:innen in Jembke hospitierte, tat sich für mich die Möglichkeit auf, den Standort in Gifhorn als Musiktherapeut zu unterstützen. Seit Anfang 2020 biete ich nun jeden Donnerstagabend drei Therapiesitzungen an.

Die Musiktherapie
Überwiegend arbeite ich im Einzelsetting, gelegentlich auch in der Gruppe. Das Altersspektrum meiner Patient:innen liegt bis jetzt ungefähr zwischen 7 und 20 Jahren. Zunächst hatte ich den Wunsch und die Vorstellung, ausschließlich mit Älteren therapeutisch zu arbeiten und freute mich auf intellektuelle und reflexive Gespräche. Diese kamen auch zustande. Nur weitete sich das Spektrum meiner Zielgruppe aufgrund des Bedarfs so weit aus, dass ich mittlerweile insgesamt eher Jüngere zwischen 7 und 13 Jahren begleite.
Mit den Jugendlichen sitze ich gerne mal auf unserem riesigen Sofa, wir unterhalten uns und hören Musik – die optimale Atmosphäre, um in tiefgehende Gespräche einzutauchen. Instrumentale Interventionen dienen dabei häufig als Unterstützung zur Wahrnehmung und Reflexion einzelner Phänomene. Dazu dient ein kleines, aber ausreichendes Repertoire an Klang- und Rhythmusinstrumenten. Mithilfe der Gitarre sind auch schon so manche improvisierten Duette zustande gekommen.
Eine Therapiesitzung mit Kindern gestaltet sich überwiegend spielerisch. Die Phasen des informellen und reflektierenden Austauschs sind verhältnismäßig kurz oder teilweise gar nicht vorhanden – abhängig von der kognitiven Reife und der Aufmerksamkeitsspanne. In der Musiktherapie mit Kindern steht das Erleben im Vordergrund. Sie haben die Möglichkeit, alternative oder korrigierende Beziehungserfahrungen zu machen, sich auszuprobieren und ihr Potential kennenzulernen oder zu entfalten. Zudem begegnen mir im Spiel – ob Gesellschaftsspiel, Toben und Kämpfen mit Schaumstoffschwertern oder dem improvisierten, darstellerischen Instrumentalspiel – innere Konflikte, seelische Zustände, verschiedene Persönlichkeitsaspekte und vor allem systemische Phänomene der Familie.
Bereits in dieser knappen Darstellung wird deutlich, dass die Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen recht facettenreich sein kann. Die Gestaltung ist abhängig von Alter, Diagnose, Geschlecht, Tagesform und vielem mehr. Flexibilität und Freude am Kindsein halte ich für wesentlich und unabdingbar – beides liegt mir glücklicherweise. Dennoch kostet es viel Kraft, die ich aber gerne dafür aufbringe.

Musiktherapeutische Eindrücke
Der zwölfjährige Phillip – zunächst schüchtern und unruhig – war mein erster Patient und für mich die erste Begegnung mit dem Asperger-Syndrom. Wir konnten bereits in der ersten Sitzung über die Welt der Musik bzw. des Musikmachens gut und schnell anknüpfen. Nach einer halben Stunde befand ich mich in einer Unterrichtseinheit, in der mir Phillip vortrommelnd den korrekten Beat zeigte, den ich imitieren sollte, während im Hintergrund laut ACDC lief. Über die Jahre hatten wir mehrere musiktherapeutische Blöcke. Es entwickelte sich etwas stark Vertrautes, das ihn und mich in seinen einzelnen Entwicklungsabschnitten bis heute begleitet – mittlerweile ist er 17 Jahre alt.
Misophonie – der „Hass auf Geräusche“.
Leon, 16 Jahre alt, begeisterter Cross-Fahrer, erklärte mir betroffen in welchem Maße Wut in ihm aufsteige, wenn er mit seinem älteren Bruder am Essenstisch sitzt. Da bestimmte Geräusche wie das vermeintliche Schmatzen des Bruders Leon dazu zwängen die Küche zu verlassen, sitzt er regelmäßig im Nebenraum und isst alleine. Wir betrachteten gemeinsam die Dynamik in der Familie mit besonderem Augenmerk auf der Beziehung zum Bruder. Das konfliktgeladene Verhältnis – gefördert durch die fast übergriffigen Vermittlungsversuche der Eltern – und Leons Rolle in der Familie wurden für ihn immer deutlicher. Er war ein stückweit das „Motoröl“ des Systems – er versuchte die Stimmung aller zu regulieren und vermied weitestgehend die Konfrontation.
Hendrik, mittlerweile 13 Jahre alt, träumt vom YouTube-Influencer-Dasein. Begeistert zeigt er mir in jeder Sitzung seine aktuellen Lieblingslieder und berichtet schwer zu bremsen von seinen Erlebnissen und Gedanken aus der medialen Welt. Seinem ADHS gemäß und der gewöhnlichen Reaktion „bitte sei nicht zu viel“ legt er stets Entschuldigungspausen ein, wenn er meint, er rede zu viel. Seine damals gegenwärtigen Herausforderungen waren vor allem Konflikte und Mobbing in der Schule sowie das vermeintlich schlechte Verhältnis zu seinem Vater, bei dem er jedes zweite Wochenende übernachtet. Hendrik beweist viel Sinn für Humor, zeigt musikalisches Interesse, probiert sich regelmäßig auf der Gitarre aus und sucht gerne den Wettkampf mit mir. Momentan befinden wir uns nach zwei Jahren im vierten Musiktherapieblock. Die Beziehung zu seinem Vater ist deutlich besser geworden, die Situation in seiner Klasse hat sich positiv entwickelt und stabilisiert, er ist nun Besitzer einer eigenen Gitarre und hat seine ersten beiden YouTube-Videos hochgeladen.
„Bist du gerne mal die Bestimmerin?“, fragte ich die neunjährige Mia. Leicht verlegen und doch zufrieden strahlend antwortete sie, dass es sonst nicht ihr Ding sei, aber sie sich hier frei fühle. Mia erlebe ich sehr lebendig und dynamisch zwischen zwei Polen – dem selbstregulierenden Angepasstsein und der dominanten Selbstbestimmtheit. Sie probiert sich instrumental stets ausgiebig und ausgelassen aus, fordert mich jedoch am liebsten in verschiedenen Gesellschaftsspielen zum Wettkampf auf.
Simon kam zu mir in die Musiktherapie mit der Bitte, ihn dabei zu unterstützen seine Gefühle, vor allem seine Wut, besser regulieren zu können. Für einen Vierzehnjährigen offenbarte er sich als ziemlich reflektiert. Ein intelligenter und bedachter Junge mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Wir stellten verschiedene konflikthafte Situationen mit Instrumenten dar, änderten die Perspektiven, begegneten Gefühlen und versuchten zu verstehen. Wir erarbeiteten und trainierten Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und -regulation – wahrnehmen, annehmen und ernstnehmen wurde zu unserem Motto. Seine größte Herausforderung war jedoch, sich fallen zu lassen und seinem verspielten Anteil den Raum und die Aufmerksamkeit zu geben.

Kinder- und Jugendpsychiatrie gegenüber Suchtrehabilitation
In der Klinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige habe ich das Privileg die Doppelrolle als Musiktherapeut und Seelsorger bedienen zu dürfen – beides ergänzt sich wunderbar. Auch im MVZ erlebe ich meinen Seelsorgehintergrund als eine Bereicherung für meine Arbeit. Beispielsweise haben die Sitzungen mit Phillip, von dem ich oben berichtete, im Laufe der Zeit die Themen an philosophischen und religiösen Wesenszügen gewonnen. Mittlerweile unterhalten wir uns auch über seinen Glauben, der ihm einerseits eine bedeutende Ressource ist und ihm zugleich einen Zugang zur Jugendgruppe seiner Kirchengemeinde verschafft. Dort gelingt es ihm, soziale Kontakte zu pflegen, was ihm in anderen Bereichen eher schwerfällt. Andersherum lief es bei der zwanzigjährigen Tamara (Asperger-Syndrom), mit der ich vor drei Jahren Seelsorgegespräche führte, die das Ringen um den Sinn, Geistes- und Naturwissenschaft, Leben und Tod und vieles mehr beinhalteten. Mittlerweile befinden wir uns in einem eher musiktherapeutischen Arbeiten.
Schnell musste ich lernen, dass mein eher konfrontatives Vorgehen in der Suchtklinik zwar seine Berechtigung und Notwendigkeit haben, dies jedoch in der Therapie mit Kindern für diese zu destabilisierend sein kann. Kinder und Jugendliche sind auf ihre Bezugspersonen angewiesen. Die Strukturen mancher Familien mögen vielleicht destruktiv sein, und doch könnte es die Kinder und auch viele Jugendliche überfordern, diese in Frage zu stellen. Gelegentlich erwische ich mich dabei, wie ich innerlich in die Rolle des Fürsprechers für ein Kind gerate und gerne stellvertretend die Familie hinterfragen möchte. Doch vermutlich ist es dann nicht mehr Mitgefühl dem Kind gegenüber, sondern viel mehr mein eigenes Leiden in dieser Situation. Ebenso bin ich heraus- und aufgefordert mich ausreichend zu distanzieren, wenn das Kind im Alter eines meiner Kinder ist oder ich mit meiner eigenen Kindheit konfrontiert werde. Diese sensiblen Dynamiken erlebe ich persönlich mit Kindern und Jugendlichen stärker, als in der Arbeit mit Erwachsenen.
Besonders betroffen macht es mich, wenn mich gelegentlich Nachrichten von ehemaligen Rehabilitand:innen der Klinik erreichen, die rückfällig geworden oder sogar dem Krankheitsstadium entsprechend verstorben sind. Ähnlich geht es mir, wenn ich teilweise den weiteren Verlauf der Kinder und Jugendlichen verfolge, die bei mir in der Musiktherapie waren. Zu oft müssen Rückschläge nach vermeintlichem Therapieerfolg dokumentiert werden. Dies lässt mich manchmal müde und hilflos werden.
Bei aller Spannung und Herausforderung fühle ich mich dennoch in beiden Arbeitsfeldern sehr wohl. Die Unterschiede der Zielgruppen fordern und fördern mich in Achtsamkeit und Flexibilität und sorgen für horizonterweiternde Inspiration. Ebenso interessant und spannend sind für mich die Gemeinsamkeiten, die für übergreifende Verbundenheit sorgen.

Ein Fazit
In meiner Arbeit als Musiktherapeut fühle ich mich aufgefordert, einen konstruktiven Umgang mit dem Ungleichgewicht in mir und in meinem Gegenüber zu finden. Und dabei ist es nicht immer möglich und auch nicht immer dienlich die scheinbare Schieflage auszugleichen. Vielmehr bedarf es der Fähigkeit und dessen Förderung das Unausgeglichene zu halten und ihm wertschätzende Aufmerksamkeit zu schenken.

Daniel Franz
Musiktherapeut M.A.
Seelsorger / Theologe M.A.
Tätig in dem MVZ Ankerplatz und in der Suchtklinik der Haus Niedersachsen gGmbH
Als musikliebender und spiritueller Mensch habe ich wesentliche Bereiche meines Lebens zum Beruf gemacht. Die Begegnung mit Menschen, sowohl in der Tiefe als auch im albernen Lachflash, erlebe ich als sehr erfüllend. Besonders liebe ich es, ein Familienvater zu sein und mit meiner Frau unsere beiden Kinder zu genießen.

MVZ Ankerplatz
www.mvz-ankerplatz.de

Musiktherapeutischer Klinikspaziergang

Musiktherapie am Universitätsklinikum Magdeburg
Von Franziska Adler

Nicht erst seit den aktuell krisengebeutelten Zeiten gibt es Menschen, die
von Haus aus oder durch ihre Lebensumstände derart herausgefordert sind, dass sie einer umfassenden medizinisch-therapeutischen klinischen Begleitung und Unterstützung bedürfen.
In der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie des Universitätsklinikums der Landeshauptstadt Magdeburg wird diesem Unterstützungsbedarf stationär (eine Akut-, eine gerontopsychiatrische, zwei offene Stationen), teilstationär (Tagesklinik) sowie ambulant (Psychiatrischen Institutsambulanz) seit 1994 nachgekommen.
Die Vorgeschichte des Klinikums und der Nervenheilkunde in Magdeburg geht bis ins Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Wenn sich heute hilfesuchende Erwachsene bei uns vorstellen, erwartet sie eine umfassende Anamnese, Diagnostik und Beratung hinsichtlich eines passenden Behandlungskonzepts/-rahmens, der von einem multiprofessionellen Team umgesetzt wird. Je nach Indikation kommen dann eine differenzierte pharmakologische Therapie sowie vielfältige nichtmedikamentöse Verfahren zum Einsatz. Zu letzteren zählen verhaltenstherapeutische, kognitive, unterstützende sowie tiefenpsychologische/psychoanalytische und Entspannungsverfahren, Soziotherapie, Ergotherapie, Physiotherapie und auch die Musiktherapie.*
Die Musiktherapie hat eine mittlerweile über 25-jährige Geschichte an unserem Klinikum und ist im Gesamtbehandlungskonzept fester Bestandteil*. Unser Team besteht in der Regel aus zwei bis drei professionellen Musiktherapeut:innen, teilweise mit verschiedenen Ausbildungshintergründen und persönlichen Arbeitsschwerpunkten, was im Austausch sehr befruchtend ist. Wir bieten schwerpunktmäßig Gruppen-, nach Bedarf und Kapazität aber auch Einzeltherapie an. Hierfür stehen uns zwei Räume zur Verfügung. Beide sind mit Klavier, Gitarre, einer Musikanlage und – angepasst an ihre Nutzung – mit unter schiedlichem weiterem Instrumentarium ausgestattet. So befindet sich im Raum auf der Gerontopsychiatrie eine kleinere Auswahl an Musikinstrumenten, bei der das Akkordeon nicht fehlen darf, ein Plattenspieler samt zahlreicher Platten und eine Vielfalt an Liederbüchern. Im anderen Musiktherapieraum ist die Instrumentenvielfalt erheblich höher. Insbesondere Instrumentalimprovisation, gezielt strukturiertes Spiel, Musikhören und gemeinsames Singen sind Bestandteile der Musiktherapie*.
Mein persönlicher Schwerpunkt und Herzensbereich ist die gerontopsychiatrische Station. Die Klientel ist vielfältig, was kein Wunder ist: Zum einen liegt die Altersspanne bei bis zu 40 Jahren, zum anderen sind die Krankheitsbilder heterogen und schließen Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, die u.U. auf hirnorganische, degenerative Erkrankungen wie eine Demenz hinweisen, ebenso ein wie Altersdepression und langjährige psychische Erkrankungen, die im Alter weiterhin bestehen und betreut werden.
Im Krankenhaus zu sein, außerhalb der gewohnten Umgebung, multimorbide herausgefordert, möglicherweise nicht verstehend, was gerade passiert und warum Untersuchungen und Medikamente notwendig sind, dazu soziale Veränderungen wie bspw. das Versterben eines geliebten Menschen, Auseinandersetzungen mit Familienangehörigen oder der (drohende) Verlust der Wohnung, erlebte Ängste, Wahnvorstellungen, der aus der Not geborene Wunsch oder Versuch, dem Leben ein Ende zu setzen – das ist nur eine Auswahl der möglichen Herausforderungen, vor denen die Menschen stehen, die mir hier begegnen. Das Altersbild in sich ist geprägt von allgemeinem individuellem Abbau, körperlich und/oder sozial, was sich ebenso auf die Psyche auswirkt. Auch in der stationären medizinischen Diagnostik und medikamentösen Behandlung geht es zumeist um das Erkennen und Kompensieren von Defiziten. Deswegen ist es mir in der Musiktherapie wichtig, einen Raum (baulich, aber auch symbolisch zu verstehen) zu schaffen, in dem sich unsere Patient:innen aufgehoben und verstanden fühlen in ihrer Situation und mit ihren Gefühlen, in dem ich Zeit gebe, wir gemeinsam Ressourcen erkennen und sehen, was (wieder bzw. noch) geht. Dafür ist die Musik ein wertvolles Medium: ob es das gemeinsame Singen biografisch vertrauter Lieder ist, das Hören einer berührenden Melodie, das (oft erstmalige) Ausprobieren oder endlich mal wieder Spielen eines altvertrauten Instruments. Die Biografie darf dabei nicht außer Acht gelassen werden und damit auch nicht der immense Schatz an Lebenserfahrungen und Bewältigungsstrategien, welche diese Menschen mitbringen. Die Musiktherapie teile ich in Gruppe 1 (nicht/kaum kognitiv eingeschränkte Patient:innen) und Gruppe 2 (kognitiv eingeschränkte Patient:innen) ein. In der Singegruppe treffen sich alle gemeinsam.

Fallbeispiel
Frau B. ist eine gepflegte Frau, kognitiv altersgerecht gesund, körperlich schlank und mobil. Eine wiederkehrende Depression, welche bereits mehrfach zu dem Versuch führte, sich das Leben zu nehmen, führte sie nach einigen vorangegangenen Klinikaufenthalten zum zweiten Mal zu uns. Zudem leidet sie an einem Schuldwahn und beständigem Obstipationsgefühl. Selbstabwertung prägt ihr Selbstbild. Ihre Situation werde sich nie mehr ändern; sie werde nie mehr gesund und das schlimmste: niemand verstehe sie. Heute äußert sie bei Einladung zur Musiktherapie: „Wenn ich nicht vorher umfalle…“ und kommt dann mit etwas Verspätung doch selbstständig zur heute aus drei Patientinnen bestehenden Gruppe. Ihr Gesicht: kreidebleich, verbraucht; hoffnungslos wirkend. Sie nahm bisher stets an der Musiktherapie teil, pflichtbewusst, ohne äußerlich sichtbare innere Berührung, kurze Antworten bei nicht ihre Krankheit betreffenden Nachfragen, abwertend/klagend bei krankheitsbezogenen Fragen; ansonsten still, beobachtend, anderen gegenüber stets hilfsbereit. Sie erlebe Musiktherapie manchmal als Ablenkung, aber dies nütze ihr nichts, denn es ändere nichts an ihrem Problem. Heute lasse ich alle Gruppenmitglieder auf kleine Zettel ihre/eine Lieblingsmusik aufschreiben, sammle diese ein und lasse dann losen. Die geloste Musik hören wir gemeinsam, es soll geraten werden, zu wem sie gehört und dann kommen wir darüber ins Gespräch. Das als vorletztes gezogene Los gehört zu Frau B. Ungehalten beim Vorlesen äußert sie spontan: „Das ist meins“. Es sind die Beatles: Yellow Submarine. Plötzlich blitzen Frau B.s Augen auf, ihr Gesicht wird lebendig und sie fängt an, von früher zu erzählen: dass man in der Jugend heimlich verbotene Sender in der DDR hörte, um dazuzugehören, dass sie einen Brieffreund in England gehabt habe, der ihr über angesagte Musik berichtet habe, dass „wir“ damals doch alle heimlich Dinge getan hätten. Beim Anhören wippt sie mit den Füßen mit und ist sehr aufmerksam. Normalerweise frage ich am Ende der Therapiestunde, wie es allen Teilnehmenden (heute drei) nun geht. Heute verzichte ich darauf, denn Frau B. würde wahrscheinlich wieder in ihr wahnhaftes Denken und die Aussichtslosigkeit verfallen. Stattdessen nimmt sie so diesen Moment des Lebendig-Seins und der Freude mit in den Stationsalltag.


*Quellen: https://kpsy.med.ovgu.de (07.06.2023)

Franziska Adler
Dipl.-Musiktherapeutin (FH), Schwerpunkt: Musiktherapie mit alten Menschen (seit 2011 Uniklinik Magdeburg, seit 2003 APH, Tagespflege, Demenz-WGs etc. in/um Magdeburg) sowie einschlägige Vortrags-/Weiterbildungstätigkeiten

Editorial

Kind, ach Kind...

Solch Ausruf könnte sich hörbar fortsetzen mit „– wie schön das ist!“ Oder mit „– lass das. Nicht nochmal!“
Dazwischen, nein, davor schon (in der Schwangerschaft: was hörte oder spielte Mama, während sie mich trug) wirken die im bisherigen Leben erlebten und gelebten Erfahrungen, zu denen Musik den Zugang eröffnet. Biografiearbeit mit Musik… unser diesmaliges Schwerpunktthema.

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