Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

Eine klangvolle Imagination am inneren Wohlfühlort
Diese Zeiten der Corona-Pandemie stellen für die meisten von uns eine große Herausforderung dar, in der unsere Fähigkeit zur Selbstfürsorge wichtiger ist denn je. In der letzten Ausgabe der MuG habe ich Sie mitgenommen auf einen „Schwellengang“ mit dem Ziel der heilsamen Wiederverbindung mit Kraftquellen, die uns die andere Wirklichkeit der beseelten Natur zur Verfügung stellt. Heute möchte ich Sie anregen, eine Reise in den großen Reichtum Ihrer Innenwelt zu unternehmen und sich dort einen ganz persönlichen, einzigartigen Wohlfühlort zu erschaffen. Ist dieser Wohlfühlort in Ihrem Innern erst einmal eingeübt und etabliert, so können Sie ihn jederzeit aufsuchen, um sich dort zu sammeln, zu regenerieren, zu stärken, zu erholen.

Vorbereitung und Entspannungseinleitung
Gönnen Sie sich etwa 30 Minuten Zeit für diese Innenreise, einen Zeitraum, in dem Sie möglichst ungestört und für sich sind. Machen Sie es sich an einem ruhigen, angenehmen Platz bequem – im Liegen oder auch im Sitzen. Sorgen Sie dafür, dass ihr Körper eine wohltuende, entspannende Lage findet und schalten Sie alles ggf. Störende im Außen aus.
Nehmen Sie jetzt die Geräusche wahr, die an Ihr Ohr dringen. Spüren Sie den Kontakt zur Erde an denjenigen Stellen Ihres Körpers, die den Boden berühren. Beobachten Sie die Bewegung, die Ihr ruhig fließender Atem verursacht. Lauschen Sie nun nach innen, dorthin, wo die vielfältigen Geräusche Ihres Körpers zu erahnen sind. Geben Sie mehr und mehr Gewicht an die Erde ab, vertrauen Sie sich dem Getragensein an, grad so viel, wie jetzt angenehm ist. Lassen Sie sich dabei von Ihrem nächsten Ausatem unterstützen, der alles, was noch ziehen darf, mitnimmt, ausströmen lässt…

Finden des Wohlfühlortes
Lassen Sie nun innerlich ein Bild von einem wunderschönen Ort auftauchen, an dem Sie sich rundum wohl und geborgen fühlen. Vielleicht erinnern Sie sich an einen Ort, der für Sie etwas Besonderes war und der auf Sie eine heilsam entspannende Wirkung hatte. Es kann aber auch ein Ort sein, den Sie sich in ihrer Fantasie vorstellen, von dem Sie einmal gelesen oder geträumt haben… Seien Sie gewiss, dass es diesen sicheren Ort für Sie gibt und lassen Sie sich von Ihrer inneren Weisheit, Ihrer Intuition oder auch von hilfreichen Wesen dort hinführen. Es kann sein, dass der Ort ganz in Ihrer Nähe aufzuspüren ist, es kann auch sein, dass er weit entfernt ist...
Es ist ein Ort, den nur Sie allein betreten können, Menschen sollten keinen Zugang zu diesem Ort haben. Allerdings gibt es möglicherweise freundliche, hilfreiche Wesen, die Sie herbeibitten oder rufen können. Dies können Tierbegleiter oder Phantasiewesen sein, die Ihnen liebevolle Hilfe, Schutz und Unterstützung geben, genau so wie es Ihnen jetzt wohl tut.
Vielleicht sehen Sie Bilder… vielleicht spüren Sie etwas… vielleicht hören Sie innerlich etwas… vielleicht denken Sie zunächst auch nur an einen solchen Ort. Lassen Sie auftauchen, was auch immer auftaucht und nehmen Sie es an. Sollten bei Ihrer Suche unangenehme Bilder oder Gedanken auftauchen – was schon einmal geschehen kann – so geben Sie diesen möglichst keine Beachtung, lassen Sie sie mithilfe des nächsten Ausatems einfach wieder verblassen und gehen Sie weiter. Bei der Suche nach Ihrem inneren Wohlfühlort stehen Ihnen alle nur denkbaren Hilfsmittel zur Verfügung, zum Beispiel Fahrzeuge, Werkzeuge, Materialien und sogar magische Hilfsmittel.
Manchmal kommt es vor, dass mehrere Orte in Ihrem Innern auftauchen. Sollte dies der Fall sein, so spüren Sie hinein, welcher dieser Orte Ihnen heute am meisten zusagt und ob er auch alle Kriterien in Hinblick auf Geborgenheit, Sicherheit und Wohlgefühl erfüllt. Entscheiden Sie sich dann für einen Ort und bleiben Sie für heute erst einmal dabei.

Ausgestaltung des Wohlfühlortes
Wenn Sie das Gefühl haben, einen Ort gefunden zu haben, an dem Sie sich wohl und geborgen fühlen, dann geben Sie ihm einen Namen Ihrer Wahl. Jetzt prüfen Sie, ob Sie sich dort wirklich rundum wohl fühlen. Machen Sie sich bewusst, dass Ihr Wohlfühlort eine klare Begrenzung hat, so dass nur Sie und niemand anderes diesen Ort betreten kann. Dies kann eine konkrete oder eine magische Begrenzung sein, und nur Sie allein kennen den Zugang zu diesem Ort.
Schauen Sie sich um, erkunden Sie Ihren Wohlfühlort, spüren Sie, lauschen Sie auf Geräusche, Klänge oder die angenehme Stille... Gibt es wohltuende Düfte? Wie ist die Atmosphäre, wie die Temperatur, wie das Licht? Wie ist Ihr Raumgefühl, wie offen und weit oder wie nah und geborgen ist Ihr Ort? Gibt es vielleicht verschiedene Stellen mit unterschiedlichen Qualitäten an Ihrem Ort? Gestalten Sie sich diesen Ort, an dem Sie Ihrer ureigenen Quelle, Ihren Ressourcen, Ihrem Selbst nah sind, ganz nach Ihren Bedürfnissen.

Vertiefung im Tönen
Wenn Sie Ihren Ort zu Ihrem völligen Wohlbefinden ausgestaltet haben, lassen Sie sich dort an einem besonders angenehmen Platz nieder. Machen Sie es sich bequem. Vielleicht stellen Sie sich vor, dass Sie jetzt auch Ihre „inneren Augen“ schließen. Spüren Sie bitte genau, wie es Ihrem Körper damit geht, an diesem besonders angenehmen Platz Ihres Wohlfühlortes zu sein, auszuruhen, zu genießen, sich zu erholen. Lassen Sie sich Zeit…
Richten Sie mit Hilfe Ihres Atems Ihre Aufmerksamkeit nun auf Ihren Herzraum. Lassen Sie aus diesem inneren Raum heraus ein Summen entstehen, indem Sie den nun folgenden Ausatem hörbar machen… Spüren Sie die angenehme Vibration, die Ihr Summen erzeugt. Während Sie sich neugierig und staunend selbst zuhören, entdecken Sie vor Ihren inneren Augen die Farbigkeit dieser Klänge: Wie hell, wie dunkel sind Ihre Klänge, welche Farbe haben sie, welches Licht? Erlauben Sie Ihrem Summen, sich immer weiter zu entfalten, sich in Ihren gesamten Körper hinein auszubreiten, in jeden Winkel, jede Höhlung hinein zu fließen. Stellen Sie sich vor, wie Ihre Körperflüssigkeiten zu vibrieren beginnen. Genießen Sie das Summen und geben Sie sich viel Zeit dafür…
Es ist möglich, dass sich das Summen zu einem Tönen und Singen ausweiten möchte. Sie können dies unterstützen, indem Sie beim Liegen Ihre Knie anstellen bzw. beim Sitzen Ihre Füße auf dem Boden spüren. Variieren Sie spielerisch auch die Tonhöhe. Finden Sie heraus, wie Sie mit den hohen Tönen eher Ihren oberen Körperraum ansprechen können, mit der mittleren Tonhöhe den mittleren Körperraum und mit tiefen Tönen den unteren Körperraum bis hinunter in Ihre Füße.
Lassen Sie sich nun verlocken, tönend in Ihrer Vorstellung Bewegungen entstehen zu lassen, die von Ihrem Atem, Ihrem Summen, Ihrem Singen erzeugt werden. Machen Sie sich nochmals bewusst, dass Sie sich immer noch an Ihrem Wohlfühlort befinden. Spüren Sie, wie Sie von Ihren Tönen, die allmählich immer rhythmischer werden, zu einem imaginierten Tanz eingeladen werden, einem inneren
Tanz, der hier an Ihrem Wohlfühlort Ihre Lebensfreude zum Ausdruck bringt und diesen einzigartigen Moment feiert. Genießen Sie dies solange, wie es Ihnen wohltut…
Im Nachklang Ihres inneren Gesanges und Tanzes schauen Sie sich noch einmal um an Ihrem Wohlfühlort:
Was sehen Sie? – Was hören Sie? – Nehmen Sie Ihren Wohlfühlort nochmals mit allen Sinnen wahr. Verweilen Sie einen Augenblick und genießen Sie das angenehme Gefühl, die Geborgenheit und Freude, die Ihnen Ihr Ort schenkt, ohne irgendetwas von Ihnen zu erwarten, einfach so…

Ankern und Reorientierung
Damit es Ihnen künftig leicht fällt, wann immer Sie es möchten an Ihren ganz persönlichen Wohlfühlort zurückzukehren, verabreden Sie jetzt mit sich selbst ein Zeichen. Das kann eine Körpergeste sein, eine kleine Bewegung, eine wohltuende Selbstberührung. Es wäre gut, wenn Sie die Geste jetzt konkret ausführen würden und gleichzeitig nochmals intensiv an Ihren Ort denken, ihn innerlich sehen, Ihre Klänge hören, Ihren tönenden Tanz spüren, sich das Wohlgefühl bewusst machen... Auf diese Weise verknüpfen Sie mit Hilfe Ihres Körpergedächtnisses, Ihrer Sinneswahrnehmungen und Ihrer positiven Emotionen Ihren Wohlfühlort mit diesem Zeichen, das nur Sie kennen. Immer wenn Sie diese Geste machen, können Sie künftig blitzschnell Ihren Ort im Innern aufsuchen. So kann Ihr Wohlfühlort mit etwas Übung sehr schnell seine angenehme, ressourcenstärkende Wirkung entfalten, auch wenn Sie sich mitten in einer Alltagssituation nur kurz dort hineinbegeben.
Spüren Sie nun wieder den konkreten Kontakt zum Boden und nehmen Sie Ihre Atembewegung wahr. Nehmen Sie wahr, wie es Ihnen jetzt geht und vergleichen Sie es mit Ihrem Befinden ganz am Anfang, als Sie sich in diese Übung hineinbegeben haben. Tun Sie dies ohne zu bewerten: staunend, neugierig, interessiert.
Räkeln Sie sich genüsslich, strecken sie sich von den Zehen bis in die Fingerspitzen hinein, gähnen Sie, öffnen Sie langsam die Augen und kommen Sie wieder ganz zurück in den äußeren Raum Ihrer Alltagswirklichkeit.

Wichtige Hinweise
Bitte kehren Sie nur dann an Ihren Wohlfühlort zurück, wenn Sie in einer Alltagssituation mit Ihrer Aufmerksamkeit nicht im Außen präsent sein müssen und gefordert sind, wie z.B. beim Autofahren. Andererseits eignet sich diese Übung ganz besonders gut zum Einschlafen. Manchmal kann es vorkommen, dass sich bei Imaginationen im entspannten Wachzustand belastende Bilder oder Emotionen dazwischenschieben und Ihnen den Weg zum Wohlfühlort zu verwehren scheinen. Sprechen Sie sie in dem Fall innerlich an und bitten Sie diese Persönlichkeitsanteile entschieden darum, beiseite zu treten. Verändern Sie die Körperhaltung ein wenig, dann fahren Sie fort. Sollten diese Teile sich dazu jedoch nicht bereit zeigen, so beenden Sie die Imagination, führen Sie aktiv die oben beschriebene Reorientierung durch, bauen Sie Körperspannung auf und kehren Sie zurück ins Alltags-Wachbewusstsein. Falls Sie sich in einer schlechten psychischen Verfassung oder einem labilen Gesundheitszustand befinden, so empfehle ich, sich für diese Innenreise von einer erfahrenen Therapeutin/einem Therapeuten begleiten zu lassen.
Es kann hilfreich sein, sich diese Übungsanleitung vorlesen zu lassen oder selbst aufzusprechen. Unter dem Titel „Sicherer innerer Ort“ finden Sie auch auf YouTube viele verschiedene Varianten dieser Übung zum Anhören. Sie sind meist mit seichter elektronischer Musik unterlegt. Zudem plane ich, diese hier vorgestellte, speziell musiktherapeutisch orientierte Variante als Hördatei auf meiner Webseite zur Verfügung zu stellen. Gerne können Sie bei mir anfragen.

Methodische Hinweise
Diese geleitete Imagination ist angelehnt an die sehr bekannte Übung des „Sicheren inneren Ortes“, die ihren Ursprung interessanterweise in alten schamanischen Heiltraditionen hat. Luise Reddemann und Ulrich Sachsse haben daraus eine Stabilisierungstechnik für die Traumatherapie entwickelt, die inzwischen eine sehr beliebte Standardintervention in verschiedenen Therapieschulen ist und für unterschiedliche Indikationen eingesetzt wird. Ich habe diese Imagination ein wenig umgestaltet in Hinblick auf die Bedeutsamkeit der Selbstfürsorge und die Stärkung der Selbstheilungskräfte in Krisenzeiten. Außerdem wurde die Übung von mir mit der therapeutisch bedeutsamen Funktion der Selbststimulation durch das Summen, Tönen und Singen angereichert (mehr dazu in: Rittner, 2020). Nachgewiesenermaßen macht unser Nervensystem nur sehr wenig Unterschied zwischen einer körperlich aktiv durchlebten Erfahrung und der inneren Imagination dieser selben Erfahrung (siehe: Hüther, 2014).

Literaturtipps
Rittner, Sabine (2020): Vokale Musiktherapie. In: Decker-Voigt et al (Hg.): Lexikon Musiktherapie. Göttingen: Hogrefe.
Wissenschaftliche Informationen zum Thema der Wirkungen des Singens.
Rittner, Sabine (2005): Hilfe zur Selbsthilfe: Kleine Hilfen mit Atem, Stimme, Körper. Eine aktive Imagination zur Stärkung der Selbstheilungskräfte. In: H.-H. Decker-Voigt, R. Spintge (Hg.): Musik und Gesundsein, Halbjahreszeitung für Musik in Therapie, Medizin und Beratung. Ausgabe 10/2005, S. 28. Lilienthal: Eres.
Diese detaillierte Anleitung für eine imaginative „Wanderung zur inneren Heilquelle“, ist vor langer Zeit in dieser Rubrik in der MuG erschienen. Sie kann gerne bei mir angefragt werden.
Hüther, Gerald (2014): Die Macht der inneren Bilder: Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Vandenhoeck & Rupprecht.
Dieses Taschenbuch gibt Ihnen leicht verständlich wertvolle Anregungen zum Thema und bietet Forschungserkenntnisse zur Wirksamkeit von Imaginationstechniken.
Reddemann, Luise (2001): Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Pfeiffer bei Klett-Cotta.
Der Klassiker mit vielen Imaginationen als Mittel zur Stabilisierung – nicht nur bei Traumafolgen.