Schwerpunktthema I

Entwicklung und Einschätzung der zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit

Von Karin Schumacher

Beziehungsfähigkeit
Die Fähigkeit zu sich selbst, seinem Körper, der eigenen Stimme, zu Gegenständen, wie z.B. Musikinstrumenten, Beziehung herstellen zu können.
All dies wie auch das Bewusstwerden, Urheber eigener Handlungen zu sein, ist nur durch den „Anderen“, einen anderen Menschen möglich. Nur
durch die positive Erfahrung von den wichtigsten Bezugspersonen, meist zunächst die Eltern, geliebt, feinfühlig wahrgenommen und verstanden
zu werden, kann sich die zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit entfalten. Eine Beziehung herstellen zu können, gehört zur angeborenen Ausstattung eines Menschen und meint vor allem die Fähigkeit, emotional stimmig aufeinander zu reagieren. Der Säuglingsforscher Daniel N. Stern hat 1985 sein weltweit beachtetes Buch: „The Interpersonal World of the Infant“ veröffentlicht. Stern fokussierte bei seinen Beobachtungen nicht den Säugling an sich, sondern die Entwicklung des Erlebens seiner Beziehung zum „Anderen“, nach der Geburt meist zur Mutter. Als Grundlage seiner Forschung diente ihm die Videographie, die eine wiederholbare Analyse in Zeitlupe ermöglichte. Sein Entwicklungsmodell, das die Themen der vorsprachlichen Zeit beschreibt, stellt die „Selbstentwicklung“ des Menschen in Bezug zum Anderen in den Mittelpunkt: Das Auftauchen des Selbstgefühls als Basis der sich langsam entwickelnden zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit. Um sich selbst als eigenständig handelnde Person wahrnehmen zu können, braucht es die Erfahrung vom Anderen wahrgenommen und „feinfühlig“ behandelt zu werden. Mary Ainsworth definierte diese Fähigkeit, jemandem feinfühlig zu begegnen, mit folgenden Eigenschaften: Feinfühligkeit meint die Fähigkeit, Signale des Kindes richtig wahrzunehmen und zu interpretieren, und wenn dieses Verständnis vorhanden ist, auf sie angemessen und prompt zu reagieren (Ainsworth,1977). Wir sehen, wie viele Störungsmöglichkeiten hier schon gegeben sind. Wer nimmt schon wirklich wahr? Die Zeit, die dazu nötig ist, ist oft nicht gegeben, und die Aufgaben des Tages oder eigene Probleme vernachlässigen den Säugling. Die Missverständnisse, die sich zwischen Kind und Bezugsperson auftun können, führen u.U. zu chronischen Interaktionsstörungen, die Symptome wie Schreien und das Nicht-beruhigen- Können zur Folge haben. Ist das feinfühlige Eingehen auf einen Säugling schon beim regelhaft entwickelten Kind nicht einfach, so kann man sich vorstellen, wie schwierig dies bei einem Kind mit Autismus ist.

Autismus aus entwicklungspsychologischer Sicht
Sehen wir die Fähigkeit sich und den Anderen wahrzunehmen als Basis zwischenmenschlicher Beziehungsfähigkeit an, so fragen wir uns, welche Erfahrungen ein Kind mit Autismus, das an einer Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit leidet, in seiner frühesten Kindheit versäumt hat. Symptome wie fehlender Blickkontakt, kein Austausch emotionaler Zustände oft verbunden mit der Schwierigkeit, sich körperlich berühren und affektiv beruhigen zu lassen, verursachen bei den Bezugspersonen große Verunsicherung. Vom eigenen neugeborenen Kind scheinbar nicht wahrgenommen zu werden, stellt eine seelische Verletzung dar, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann und die deshalb auch oft „übersehen“ wird. Die Eltern können noch so feinfühlig auf ihr Kind reagieren, dem Kind fehlt die Wahrnehmungsfähigkeit, diese Zuwendung „für wahr zu nehmen“. Eine der Hypothesen dieser qualitativen Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit (ICD 11) ist eine Wahrnehmungsverarbeitungsstörung (Dinstein, 2012).
Der gestörte Blickkontakt, die Scheu, sich körperlich berühren zu lassen sowie ein verringertes Schmerzempfinden werden auf die Unfähigkeit, Sinneseindrücke richtig einzuordnen, mit früheren Erfahrungen zu verbinden und sie sinnvoll zu integrieren zurückgeführt. Diese Symptome haben enorme Auswirkungen auf die sozio-emotionale Entwicklung. Dem Säugling fehlt die ständige Rückkoppelung seiner affektiven Zustände,
der emotionale Austausch, der sich so deutlich schon im zweiten bis dritten Lebensmonat zeigt und den D. Stern als sogenannte „Vitalitätsaffekte“ beschreibt, fehlt. Vitalitätsaffekte treten vor allem durch den Blickkontakt, also in der Begegnung mit einem anderen Menschen in Erscheinung. Sie erzeugen eine Erlebnisqualität, die zwar flüchtig, aber von hoher Intensität ist. Vitalitätsaffekte sind ganzkörperlich spürbar, mimisch sichtbar und lautlich hörbar. Fehlen sie, so wird dies eine Störung bzw. Verzögerung der sozio-emotionalen Entwicklung zur Folge haben. Diese vermutete Wahrnehmungsverarbeitungsstörung hat eine zentrale Auswirkung auf das Körperempfinden, die sogenannte Propriozeption, die Körpereigenwahrnehmung.

Musiktherapie bei Kindern mit Autismus
Der Musikbegriff, der in dieser Arbeit verwendet wird, orientiert sich an Carl Orffs Definition der „Elementaren Musik“. Musik, Bewegung und rhythmisierte Sprache, wie wir sie z.B. im Kinderreim wiederfinden, sind unmittelbar miteinander verbunden.
Modellhaft stehen die sogenannten ersten Mutter-Kind-Spiele für improvisierte, vom Kind ausgehend entwickelte Spielformen im Zentrum. Musikinstrumente werden so ausgewählt und gespielt, dass sie dem kindlichen Ausdrucksvermögen entsprechen. Musik soll aus dem Kind „herausgeholt“ werden, da jeder Mensch, auch das Kind mit Autismus, pränatal so geprägt ist, dass es Rhythmus, Klang, Dynamik bereits in Verbindung mit Bewegung erlebt hat und somit wiedererkennen kann.
Folgende Entwicklungsthemen, die an das Stern’sche Entwicklungskonzept angelehnt sind, dienen als Orientierung musiktherapeutischer Diagnostik und methodischer Vorgehensweise (Interventionen).
Funktionen der Musik werden in der musiktherapeutischen Arbeit angewandt. Die Nummerierung 0-6 entspricht den Beziehungsqualitäten, die
im Folgenden ausgeführt werden.

0. Musik führt aus der Isolation – wirkt atmosphärisch
Musik hat eine einzigartige Eigenschaft: Sie kann uns berühren, ohne dass wir scheinbar etwas tun müssen, ohne dass uns jemand anfasst, ohne
dass wir einer gestellten Aufgabe folgen. Musik als atmosphärische Veränderung macht auf sich aufmerksam, ohne dass der Mensch dahinter, der sie spielt, auftauchen und erkannt werden muss. Lässt sich das Kind durch die für es improvisierte Musik berühren, wird es dadurch aus der Isolation herausgeführt. Musik und Kind stehen in Verbindung. Die zwischenmenschliche Verbindung spielt noch keine Rolle. Die Therapeutin versucht bewusst nicht auf sich aufmerksam zu machen, es ist die von ihr gespielte Musik, die wirken soll. Wir brauchen keine verbalen Aufforderungen, kein verbal ausgesprochenes Lob. Die Musik akzeptiert das „So-sein“ des Kindes (Schumacher, 2017).

1. Musik als multisensorisches Medium – führt die Sinne zusammen
Tiefgreifend entwicklungsgestörte Kinder, die meist ohne sprachliche Ausdrucksmöglichkeit seelisch isoliert sind, entwickeln stereoytpye Bewegungen, sie stimulieren sich selbst. Diese Selbststimulation kann durch eine Stärkung eines kohärenteren Körpergefühls reduziert werden. Der eigene Körper muss gespürt und erlebt werden. Das musikalische Material sind das Wiegen- und Schaukellied, später Kniereiter und Klanggestenspiel. Das Kind muss nichts nachmachen, nichts Neues erlernen, sondern dieses musikalisch begleitete Bewegtwerden nur zulassen. Sollte sich das Kind nicht anfassen lassen, da auch der taktile Reiz nicht sinngebend verarbeitet werden kann, helfen Decke, Trampolin oder Hängematte, um die Propriozeption, das Körpereigengewicht, erlebbar zu machen.
Musik, meist in Form gesungener Melodien, begleitet synchron den Rhythmus der Bewegung und hilft, das Bewegt- und Berührt-werden zuzulassen. Sie balanciert Nähe und Distanz und hilft, dieses Beziehungsangebot auch zeitlich zu gestalten.
Das aktive Musikmachen führt immer mehr als zwei Sinne zusammen. Es bringt sozusagen das Erfahrene auf den Punkt und führt so zu Momenten der Synchronisation (Schumacher/Calvet in: Decker-Voigt et al., 2021).

2. Musik aktiviert Gefühle – reguliert die Affekte
Neben dieser Arbeit, die Welt mit allen Sinnen zu erfassen und zu verarbeiten, ist jedes Kind von starken Gefühlen gebeutelt. Kinder mit Autismus, die sich oft nicht beruhigen lassen, sind ihren überflutenden Affekten ausgeliefert. Diese können zu selbstverletzendem Verhalten führen. Hinzu kommt eine oft fehlende Sprachentwicklung. Musikinstrumente, die eine hohe Intensität und eine breite dynamische Spielweise erlauben, bieten hier eine Ausdrucksmöglichkeit. Das genaue Erfassen, Abstimmen sowie Mitvollziehen der Intensität des kindlichen Ausdrucks ermöglicht ein gemeinsames Gefühlserleben. Diese Intervention nennen wir „Affektabstimmung“, die mit einer formgebenden Idee, der sog. „Affektgestaltung“, verbunden wird. Eine Spielform, die die Intensität erfasst und die hohe Affekte gestalterisch formt.

3. Musik unterstützt das Selbsterleben – die Selbstwirksamkeit
Imitiert die Therapeutin die stimmlichen wie instrumentalen Äußerungen des Kindes und hilft auch hier, gestalterische Ideen einzubringen, werden dem Kind seine eigenen oft zaghaften oder auch stereotypen Äußerungen bewusst gemacht. Es erkennt sich im Spiel des Anderen, der noch keine eigenen Ideen einbringt, sondern ganz an den Motiven des Kindes angelehnt mitspielt. Auch das stille, aufmerksame Zuhören, das konzentrierte Mitverfolgen der ersten Explorationen des Kindes würde ausreichen, dem Kind ein Bewusstsein seiner Handlungen und Äußerungen erlebbar zu machen. Dieses aufmerksame Dabeisein – D. Stern nennt dies „being in the presence of another“ – eröffnet dem Kind einen Spielraum, in dem es sich selbst als Urheber seiner musikalischen Äußerungen erleben kann.

4. Musik führt zur „Joint Attention“ – Intersubjektivität
Erst wenn das Kind genügend ausprobieren durfte, seinen neu angeworfenen Spieltrieb entdeckt, wird sich die Idee des Zusammenspielens einstellen. Die Therapeutin kann nun neben einem stützenden Umspielen auch erste eigene Ideen einbringen. Lässt das Kind dies zu, ohne den Kontakt abzubrechen, wird es entdecken, dass hier der „Andere“ als Gegenüber auftaucht, der nun eigene Ideen einbringt und das Gefühl von Gemeinsamkeit entstehen lässt.

5. Musik als nonverbaler Dialog – die zur Sprache führen kann
Der musikalische Dialog ist in frühester Kindheit schon angelegt und zwischen Säugling und Bezugspersonen zu erahnen. Das regelhaft entwickelte Kind sucht nach Kontakt und emotionalem Austausch. Das Kind wird die Stimmung, die sich hinter den Worten der Bezugspersonen verbirgt, verstehen und sich auf diese Weise verstanden fühlen. Mit musikalischen Mitteln, wie der Stimme und leicht spielbaren Musikinstrumenten, die ohne Übung Klänge, Rhythmen hervorbringen können, können wir musikalische und damit emotionale Austauschprozesse
herauslocken. Fehlt jedoch wie beim Kind mit Autismus diese Bezogenheit, dieses Reagieren auf den Anderen, wird man auf die bisher beschriebenen Interventionen zurückgreifen. Denn nur wenn wir das Kind dort abholen, wo es wirklich reagieren kann, werden wir es erreichen.

6. Musik ermöglicht Spielfreude – „Interaffektivität“
Die Fähigkeit spielen zu können, wird leider oft nicht genügend beachtet. Dabei ist es die Tätigkeit des Kindes, durch die es lernt. Was bedeutet spielen können? Gerade das Zweckfreie, das scheinbar Ziellose, das sich Vertiefen in das Erkunden, das Bewusstwerden der eigenen Tätigkeit, kennzeichnen das Spiel. Musik verleitet zum Spielen, wenn man der freien musikalischen Äußerung Raum gibt. Nicht gleich angeleitet zu werden, nicht gleich besser spielen müssen, sondern Wertschätzung zu erleben für das, was aus einem Kind „heraustönt“. Hat ein Kind dies oft genug erlebt, wird es das Zusammenspiel genießen. Sich gegenseitig durch neue Ideen anregen, aufeinander reagieren, schaukelt positive Gefühle hoch, die zum Empfinden geteilter Freude führen können. Diese Freude lässt sich nicht einüben, sie wird sich ereignen. „Interaffektivität“ nennt D. Stern diesen Zustand und beschreibt ihn wie folgt: Es handelt sich um eine „Entsprechung, die zwischen dem eigenen, innerlich erlebten Gefühlszustand und dem Gefühlszustand, den man an oder in einer anderen Person beobachtet“ (Stern 1992, S. 19) hergestellt wird. Dieses Erleben geteilter Empfindungen, wie sie das gemeinsam erlebte musikalische Spiel besonders gut ermöglicht, sei das „Sprungbrett“ zur Sprache.

Das EBQ-Instrument zur Einschätzung der Beziehungsqualität
Ist die „dauerhafte Einschränkungen der Initiierung und Aufrechterhaltung von sozialer Interaktion“ eines der Hauptsymptome des Autismus (ICD11), so muss eine therapeutische Maßnahme darauf abzielen, die soziale Interaktionsfähigkeit zu verbessern. Um einen Wirkungsnachweis der oben beschriebenen Interventionen zu erbringen, hat die Autorin in Zusammenarbeit mit der Entwicklungspsychologin Claudine Calvet das sogenannte EBQ-Instrument entwickelt. Die Einschätzung der Beziehungsqualität erfolgt mithilfe von an der Selbstentwicklung Sterns orientierten Beobachtungsmerkmalen (Schumacher/Calvet/Reimer, 2013). Der Modus, d.h. die Art und Weise, wie sich ein Kind körperlich-emotional, stimmlich-vorsprachlich und instrumental äußert, wird den Interventionen der Therapeutin gegenübergestellt. Nur wenn der Modus des Kindes mit dem der Therapeutin übereinstimmt, wird Kontakt entstehen und damit ein positiver Verlauf zu erwarten sein. Die sieben Modi sind hier im Überblick dargestellt und entsprechen den oben dargestellten Funktionen der Musik. Es hilft sowohl das Entwicklungsalter, das nicht dem Lebensalter entsprechen muss, einzuschätzen wie auch die therapeutische Intervention, die den Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigen
sollte, zu überprüfen. Es ist ein Beobachtungs- und Einschätzungsinstrument, das nicht nur das Kind, sondern auch die Therapeutin und ihre Interventionen fokussiert. Somit dient es vor allem auch der Verbesserung musiktherapeutischer Arbeit.

Modus 0 Kontaktlosigkeit/Kontaktabwehr
Modus 1 sensorischer Kontakt/Kontakt-Reaktion
Modus 2 funktionalisierender Kontakt
Modus 3 Kontakt zu sich Selbst/Selbsterleben
Modus 4 Kontakt zum Anderen/Intersubjektivität
Modus 5 Beziehung zum Anderen/Interaktivität
Modus 6 Begegnung/Interaffektivität

Jeder Modus ist ein Universum, denn menschliches Verhalten auf bestimmte Merkmale zu reduzieren und „einzuschätzen“, ist ein sehr komplexes Unterfangen.
Über 30 Jahre haben die Entwicklungspsychologin C. Calvet und die Autorin versucht, die wesentlichen Themen der Entwicklung von Kindern mit Autismus zu erfassen und im musiktherapeutischen Kontext zu studieren, zu klassifizieren und genau zu beschreiben. Die Videographie hat hierbei eine zentrale Rolle gespielt.
Sie erlaubt, mehr als die Erinnerung, als nur die Musik wiederzugeben und zeigt das mimisch-gestisch-körperliche, das räumliche Geschehen und lässt vor allem auch die Einschätzung während der Therapie nicht anwesender Personen zu. Wie oft erinnern wir eine Situation anders, als sie dann auf dem Video sicht- und hörbar wird? Die Videographie – so eingreifend sie in die Intimität einer therapeutischen Arbeit ist – ist ein sehr guter Lehrmeister und eine große Hilfe für die Zusammenarbeit mit den Eltern. Die Anwendung des EBQ-Instruments zeigt, ob ein Kind in seinem Entwicklungsstand falsch eingeschätzt wird. Gerade bei einer noch nicht entwickelten joint attention lösen Aufforderungen wie „schau her, mach mit“ Stressreaktionen aus. Wesentlich ist daher die Frage, ob die musiktherapeutische Intervention dem kindlichen Entwicklungsstand entspricht. Denn nur dann kann eine Begegnung stattfinden. Das Besondere der oben unter Modus 0–4 beschriebenen musiktherapeutischen Interventionen ist, dass die Fähigkeit des Mit- und Nachmachens noch nicht entwickelt sein muss, um eine konstruktive therapeutische Einflussnahme zu erreichen. Da es kaum andere Therapieverfahren gibt, die auf die Fähigkeit des Mit- und Nachmachens verzichten können, ist Musiktherapie als erste Therapiemaßnahme angezeigt.

Zusammenfassung
Die Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit lässt sich in der Arbeit mit Kindern mit Autismus besonders gut beobachten, da das sozio-emotionale Entwicklungstempo meist wesentlich langsamer voranschreitet. Auf der Basis der entwicklungspsychologischen Erkenntnisse
konnten wir belegen (Schumacher, 2017), dass die basalen Fähigkeiten, wie die intermodale Wahrnehmung, die Fähigkeit zur Affektregulation sowie das Erleben von Selbstwirksamkeit, durch die Entwicklungsalter entsprechenden musiktherapeutischen Interventionen nachreifen können. Erst auf dieser Basis kann sich „joint attention“, d.h. die gemeinsame Aufmerksamkeit auf etwas Drittes, entwickeln. Die in allen pädagogischen und erzieherischen, aber auch im therapeutischen Kontext geforderten Fähigkeiten des Mit- und Nachmachens sind hier noch nicht nötig, um Entwicklung anzustoßen. Es geht zunächst nicht darum, das Kind zu fördern und zu fordern, sondern den inneren Motor anzuwerfen, die eigene Lust zu lernen zu aktivieren. Und dieser Motor ist die Erfahrung, mit sich und dem Anderen in emotional positiver Weise in Beziehung zu sein.

Die Autorin:
Karin Schumacher
Prof. Dr. rer. sc. mus. em., 1950 in Graz/Österreich geboren, Studium an den Musikuniversitäten Wien und Salzburg Musiktherapie und Elementare Musik- und Bewegungserziehung. 1984 Gastprofessur an der Universität der Künste Berlin, Einrichtung und Leitung des Studiengangs Musiktherapie bis 1995. Seit 1984 an der UdK Berlin, seit 1995 an der Musikuniversität Wien sowie der ZHdK Zürich. Über 40 Jahre Musiktherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin im klinischen Kontext sowie in freier Praxis. 1998 promovierte sie zum Thema „Musiktherapie und Säuglingsforschung“ an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater. Seit 2016 pensioniert, weiterhin Lehrbeauftragte am Musiktherapiezentrum der UdK Berlin. Forschungsschwerpunkt: Musiktherapie bei tiefgreifender Entwicklungsstörung, speziell Autismus. Seit 1990 Entwicklung des „EBQ-Instrument“ zur Einschätzung der Beziehungsqualität mit der Entwicklungspsychologin Claudine Calvet.

Literatur:
Ainsworth, M. D. S. (1977). Skalen zur Erfassung mütterlichen Verhaltens. In K. E. Grossmann (Hrsg.), Entwicklung der Lernfähigkeit in der sozialen Umwelt (96–107). München: Kindler.
Decker-Voigt, H.-H., & Weymann, E. (Hrsg.) (2021). Lexikon Musiktherapie. Göttingen: Hogrefe (3. vollständig überarbeitete Ausgabe), 123–128 und 628–634.
Dinstein, I. et al. (2012). Unreliable evoked sensory responses in autism. Neuron 75, 981–991.
Schumacher, K. (2017). Musiktherapie bei Kindern mit Autismus. Musik-, Bewegungs- und Sprachspiele zur Behandlung gestörter Körper- und Sinneswahrnehmung. Mit DVD. In Zusammenarbeit mit C. Calvet/S. Reimer. Wiesbaden: Reichert.
Schumacher, K., Calvet, C., & Reimer, S. (2013). Das EBQ-Instrument und seine entwicklungspsychologischen Grundlagen. Buch mit DVD (1. Auflage 2011). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Stern, D. N. (1985/1992/2007). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta
Ausführliche Literaturliste kann bei der Autorin angefordert werden.