Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

Das Summen in besonderen Zeiten
Wer hätte es je für möglich gehalten, dass uns das Singen einmal verboten werden könnte?! Was in totalitären Systemen wie dem Iran und Afghanistan schon lange praktiziert wird, hat ein unfassbar kleiner Virus nun auch bei uns zustande gebracht: Das per se Immunkräfte stimulierende und stimmungsaufhellende Singen wurde dämonisiert und gesetzlich verboten. Wenngleich es unterschiedliche Hintergründe für das Singverbot gibt, sind doch die sozialen und gesundheitspsychologischen Auswirkungen nicht weniger gravierend.
Inzwischen weiß jedes Kind, was es mit der Ausbreitung von „Aerosolen“ auf sich hat, ein Wort, das bis letztes Jahr nur eingeweihte Spezialisten in den Mund nahmen. In dieser bedrohlichen Situation des Lockdown besannen sich einige Musiktherapeut*innen auf das Summen als Ersatz für das Singen. Was anfangs eine Notlösung darstellte, führte zur Wiederentdeckung und neuen Wertschätzung der heilsamen Wirkungen des Summens. Ganz nebenbei: Beim Summen werden erheblich weniger Aerosole verbreitet, als beim konsonantenreichen Sprechen.
Das Summen ist uralt, es stammt vermutlich noch aus der Horden-Zeit des Säugetiers Mensch und diente der kollektiven Besänftigung. Summen muss nicht gelernt werden, es steht uns zur Verfügung als intuitive Heilreaktion, z.B. wenn jemand sich verletzt hat, auch zur Selbstberuhigung, es ist Selbstfürsorge im ursprünglichsten Sinne.
Da die nervöse Versorgung der Kehlkopfmuskulatur durch Äste des nervus vagus erfolgt (nervus laryngeus recurrens und superior), führt die Vibration der Stimmlippen beim Summen zu einer Stimulation des Vagus-Nervs, der wiederum für Beruhigung im Vegetativen Nervensystem zuständig ist. Summen ist psychophysiologisch gesehen die effektivste Form der Selbstberuhigung, die es gibt. Und: Das Summen holt Sie ganz in den Moment, es lockt Sie heraus aus Gedankenspiralen und unangenehmen Gefühlen, es verführt Sie fast unmerklich in eine sanfte, sich selbst gegenüber wohlwollende Stimmung hinein. Wer ärgerlich oder aggressiv ist, kann nicht summen – versuchen Sie dies doch einmal…

Einladung zu einer kleinen Summ-Übungssequenz
Gönnen Sie sich für diese Übungssequenz etwa fünfzehn Minuten Zeit. Und legen Sie sich etwas zum Schreiben und Malen bereit.
–– Setzen Sie sich entspannt und aufrecht hin oder besser noch führen Sie diese Sequenz im Stehen durch. Ob in einem Raum, in dem Sie ungestört sind, im Garten oder an einem schönen Platz in der Natur… das entscheiden Sie.
–– Lassen Sie ganz mühelos einen Summton entstehen und spüren Sie dabei, an welcher Stelle Ihres Körpers dieser entspringt, wo in Ihnen er seine Quelle hat.
–– Legen Sie eine Hand an die Stelle, wo Sie die Vibrationen dieses Summtones ertasten können.
–– Folgen Sie den Bewegungsimpulsen, die durch das Summen entstehen, lassen Sie sich von ihrem Summen zu Bewegungen einladen.
–– Indem Sie allmählich höher oder tiefer summen, lassen Sie Ihren Summton hinauf und hinunter wandern in Ihrem Körper. Achten Sie darauf, dass es weiterhin mühelos bleibt, ohne irgendetwas zu wollen und zu müssen, es ist eher ein neugierig staunendes, klangliches Erkunden.
–– Schauen Sie dem Summklang innerlich zu, wie er sich ausbreitet, entdecken Sie, wie hell oder dunkel, wie farbig, wie weich oder fest, wie warm oder kühl … er ist und wie er sich immer wieder wandelt auf seinem Weg durch Ihren Körperinnenraum. Stellen Sie sich vor, wie der Summklang in Ihre Hände wandert, in Ihre Füße, in Ihren Bauch oder ins Herz.
–– Schicken Sie ihn summend in einen Körperbereich, dem diese Art der Zuwendung in diesem Augenblick besonders wohl tut. Vielleicht meldet sich eine Körperstelle, die gerade schmerzt oder sich fest, eng, unruhig, angestrengt … anfühlt. Gönnen Sie dieser Stelle eine sanfte Klangmassage von innen bei gleichzeitiger Berührung mit Ihren Händen von außen. Diese Art der liebevollen Selbstzuwendung ist eine der wirksamsten Heilmethoden, die wir Menschen jederzeit und kostenfrei zur Verfügung haben.
–– Vielleicht möchte das Summen sich allmählich ganz von alleine zu einem freien Tönen entfalten? Finden Sie heraus, welcher Vokalklang die jeweilige Körperstelle, der Sie sich zuwenden, am besten durchströmen und berühren kann in der ihr innewohnenden Selbstheilungsbereitschaft.
Probieren Sie aus, welcher der Vokale, ob ein sanft tönendes „aaa…“, „eee…“, „iii…“, „ooo…“, „uuu…“, „äää…“, „ööö…“ oder „üüü…“ diese Körperstelle von innen her am besten erreicht.
–– Bewegen Sie sich nun von Ihrem Platz weg und gehen Sie summend/tönend umher. Erkunden Sie, wie unterschiedlich Ihr Summen/Tönen an verschiedenen Stellen des Raumes, des Gartens, des Naturortes, an dem Sie sich befinden, klingt. Experimentieren Sie mit Resonanzen, die an bestimmten Stellen hörbar werden. Schenken Sie einer Pflanze, einer Blüte, einem Baum, einem Stein … eine summende/tönende Berührung.
–– Lauschen Sie umgekehrt auf die Klänge, die der Berührung eines Objekts, einer Pflanze, eines beseelten Naturwesens entspringen, lassen Sie sich von dem haptischen Kontakt inspirieren. Machen Sie diese Begegnung hörbar, lauschen Sie auf das, was sie in Ihnen anklingen lässt. Finden Sie eine resonanzreiche Stelle dort, wo Sie sich befinden, an der es völlig mühelos besonders intensiv klingt. Nehmen Sie wahr, wie das Summen/Tönen/Singen sowohl in Ihrem Körperinnenraum, als auch im Außenraum gleichzeitig erklingt. Entdecken Sie, wie Ihre Klänge eine Brücke bauen zwischen innen und außen, außen und innen; zwischen der Natur, die Sie sind und der Natur, die sie umgibt.
–– Wenn das Summen/Tönen/Singen von alleine aufhören möchte, halten Sie einen Moment inne, lauschen Sie in die klangvolle Stille hinein und spüren Sie nach – staunend, neugierig, ohne zu bewerten: Wie geht es mir jetzt? Wie hat sich meine Stimmung gewandelt? Wie hat sich mein Körpergefühl verändert? Wo sind meine Gedanken abgeblieben?
–– Malen Sie im Nachklang dieser Erfahrung, wenn Sie mögen. Schreiben Sie Ihre Entdeckungen, Ihre Gefühle, Ihre Empfindungen, Ihre Körperwahrnehmungen auf. Es mag sein, dass auch ein Gedicht entstehen möchte. Vielleicht mögen Sie im Anschluss eine vertraute Person an dieser Summ-Selbst- und Naturbegegnung teilhaben lassen?

Das folgende Gedicht schrieb eine Teilnehmerin in einem meiner Naturerfahrungs-Seminare vor vielen Jahren nach einer vergleichbaren Stimmbegegnung mit der Natur:
Lausche, Liebes
unter den Wassern singt es
wie in dir –
zu allen Zeiten schon ist dein Gesang.
Stimme ein, Liebes
es gibt nur das Eine
in Allem.
Erzähle du, Liebes
von dem Namenlosen,
sei ganz sein Klang.
Ich singe mich mir nah
ich singe mich dir nah
bis innen Raum,
da löst sich auf die Form
in Klang
wird weit und schwingt
zum endlos aus.
Sabine Peter, 2004

Die Autorin:
Sabine Rittner ist Musikpsychotherapeutin, Atem- und Stimmtherapeutin, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychotherapeutin (HP), Hypnotherapeutin,Traumatherapeutin mit Spezialisierung in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen und
körperorientierter Therapie. Sie ist tätig am Institut für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Heidelberg (Lehre, Psychotherapie, Musiktherapieforschung), sowie in eigener Praxis (Therapie, Supervision, Coaching). Seit mehr als 40 Jahren leitet sie Seminare, bildet aus und hält Vorträge weltweit. Umfangreiche Forschung und Publikationen zu den Themenkomplexen Bewusstseinsforschung – Klang – Trance – Stimme – Musiktherapie. Weitere Informationen:
www.SabineRittner.de

Literaturtipps:
Rittner, S. (2006). Hilfe zur Selbsthilfe: Kleine Hilfen mit Atem, Stimme, Körper. Der Gesang der heilsamen Muster. Musik und Gesundsein 11, S. 28. (Dies war eine Anleitung von mir in der MuG zur tönenden Selbstbehandlung mit Berührung und Vokalklängen).
Rittner, S. (2021). Vokale Musiktherapie. In: Decker-Voigt et al. (Hrg.), Lexikon Musiktherapie. Göttingen: Hogrefe. (Fachinformationen zu den Wirkungen des Summens/Singens).
Goldman, J., & Goldman, A. (2019). Heilsames Summen. Klangmassage für Körper und Seele. Murnau: Mankau-Verlag.
Henderson, J. (2007). Das Buch vom Summen. The Hum Book. Bielefeld: AJZ Druck & Verlag. (Übungsanleitungen und Geschichten zum Summen aus dem Zapchen).
Hammer, C. (2019). Im Körper zu Hause sein. Mit Zapchen Somatics zu Leichtigkeit und Wohlbefinden. Heidelberg: Carl Auer. (Einige Anregungen zum Summen nach Julie Henderson ab S. 67).