Heft 42 (2022) ist erschienen!
Musiktherapie und Kriegsängste
Kriegsängste. Unsere Profession der Musiktherapie kann nicht gegen den Krieg in irgendein Feld ziehen. Aber sie kann unseren Patientinnen und Patienten beim Umgehen mit diesen Ängsten helfen. Und uns selbst. Nicht nur emotional-affektiv, sondern auch rational.
Zum Mitmachen
Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme
Von Sabine Rittner
Klangfarben – Farbklänge
So hieß vor langer Zeit eines meiner Seminarangebote: „Klangfarben – Farbklänge“.
Die Übungssequenz, die ich heute für Sie zum Mitmachen beschreiben möchte, begleitet mich, seit ich 1977 begonnen habe, musiktherapeutisch tätig zu sein. Diejenigen von Ihnen, die mich kennen, wissen, dass ich von Anbeginn konsequent körperbezogen gearbeitet habe, dass ich die Bewegung, den Atem, die Stimme und immer auch die Farben einbezogen habe in meine unterschiedlichsten musiktherapeutischen Tätigkeitsfelder. Ich konnte noch nie verstehen, wie man denn ohne den Atem, ohne die Stimme, ohne die sowieso vorhandene Körperbewegung, ja, auch ohne das Malen Musiktherapie ausschließlich an Musikinstrumenten betreiben kann…? Auch wenn sich mein Arbeitsstil mit dem Älterwerden sicherlich gewandelt hat, so hat sich doch meine Grundhaltung, dass multimodale Zugangswege immanent zur Musiktherapie gehören, bis heute nicht verändert. Sicherlich spielte die Erfahrung der sinnlichen und sinnhaften Aneignung meines eigenen Körpers dabei eine große Rolle, war doch die Suche nach Lebendigkeit eines von frühester Kindheit an in seiner Beweglichkeit eingeschränkten Körpers die schöpferische Quelle dieses Antriebs.
1. Vorbereitung
Nehmen Sie sich etwa 45 Minuten Zeit für diese Stimm-Klang-Farben-Erkundung. Die Sequenz findet im Stehen bzw. in Bewegung statt. Sie kann bei eingeschränkten Möglichkeiten aber auch im Sitzen oder am Boden hockend ausgeführt werden. Besorgen sie sich ein großes Blatt Malpapier oder einen großen Malblock und Malfarben. Am besten geeignet sind für diesen Zweck Wachsmalkreiden. Wählen Sie einen geeigneten Platz aus: im Raum oder draußen an einem geschützten Ort auf dem Balkon, im Garten oder in der Natur. Sie brauchen ausreichend Platz für Bewegung und einen Tisch oder eine erhöhte Ablagefläche für das große Blatt Malpapier und die Farben. Sie können das Malpapier mit KreppKlebeband auf den Tisch oder die Malfläche kleben. Falls möglich ist es auch sehr geeignet, das Malpapier in Armhöhe an eine Wand zu kleben.
(Hier ein Künstlerinnen-Tipp: Kleben Sie den gesamten Rand so ab, dass 1 cm des Bildrandes ringsum gleichmäßig abgedeckt ist. Ganz am Schluss, wenn sich das Gemälde vollendet hat, entsteht nach dem vorsichtigen Abziehen des Klebebandes ein weißes Passepartout, das dem Bild noch mehr Erhabenheit verleiht und zum Aufhängen verlockt.)
2. Loslassen
Nach diesen Vorbereitungen kann es nun losgehen. Stellen Sie sich mit gelösten Knien entspannt hin und richten Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Atem. Mit Hilfe Ihrer Vorstellungskraft schicken Sie nun Ihren nächsten Ausatem in den Boden hinunter. Dazu lassen Sie mit den Lippen ein weiches „fff“ hörbar werden. Mit diesem Rauschgeräusch Ihres Ausatems lassen Sie in die Erde hinab abfließen, was immer jetzt lästig oder zuviel sein mag: Spannungen, Unruhe, Gedanken…
Verlagern Sie nun mit dem nächsten Ausatem Ihr Gewicht auf einen Fuß und federn Sie in den Knien ein wenig nach, so dass alles Überfällige durch Ihre Fußsohle hindurch in die Erde hinunter sickern kann. Mit dem nächsten Ausatem verlagern Sie das Gewicht auf den anderen Fuß, federn nach, lassen los. Die Erde nimmt alles auf und verwandelt es.
3. Vertiefen
Begeben Sie sich nun auf Entdeckung zu Ihrem „innere Heiligtum“: wo finden sie es heute in Ihrem Körper-Seelen-Innenraum? Im Bauch oder im Herzen oder hinter der Stirn oder…? Lassen Sie aus diesem Raum in Ihrem Innern, in dem alles gut ist und Sie ganz bei sich zu Hause sind, summend einen Klang hörbar werden. Dieser Summ-Klang hat seine eigene Farbigkeit, sein ganz eigenes Licht, das Sie mit Ihren „inneren Augen“ wahrnehmen können. Das Summen breitet sich immer mehr aus, kleidet Ihren Innenraum nach und nach aus, indem es sich an seine Innenwände legt und Sie von innen her streichelt mit Vibrationen. Genießen Sie diese Summ-Klang-Nahrung aus der Tiefe Ihres Seins.
4. Tönen in Bewegung
Nach und nach erweitert sich dieses Summen zu einem Tönen, das Sie in Ihren Außenraum, in das Energiefeld, das Sie umgibt, hinausströmen lassen. Dazu greifen Sie die Bewegung, die schon längst da ist, auf und erlauben ihr, sich zu vergrößern, nach und nach den ganzen Körper zu ergreifen. Das Tönen nimmt Ihre Bewegungen mit und die Bewegungen inspirieren wiederum neue Töne. Es entsteht ein freier Tanz zu Ihren spontanen Gesängen, die aus dem Moment heraus geboren werden und sich in Bewegung ausdrücken mögen.
5. Tönend malen
Greifen Sie aus dieser tönenden Bewegung heraus zu einer Farbe, ohne mit dem Singen aufzuhören: Welche Farbe verlockt Sie spontan? Sie können auch beide Hände gleichzeitig zu zwei verschiedenen Farben greifen lassen. Sollten Sie davon überzeugt sein, überhaupt nicht malen zu können, habe ich folgenden Tipp: Nehmen Sie diejenige Hand, die Sie normalerweise nicht nehmen würden zum Malen, und schauen ihr neugierig zu, was entstehen, was sichtbar werden möchte.
Ihr Tönen, Ihr Singen stimuliert die Bewegungen Ihrer Hände, die durch den Raum auf dem Papier gleiten. Ihre Hände werden von den Klängen, von den Klangbewegungen gelockt, sich über das Papier zu bewegen und Sie schauen Ihnen neugierig, staunend und tönend dabei zu. Nach und nach fließt beides ineinander: mal führt das Tönen das Malen an, mal lässt das, was Sie malend entdecken, neue Klänge, Tonfolgen, Melodien aus Ihnen hervorquellen, schließlich findet alles gleichzeitig statt.
Lassen sie zu, dass das gesamte Blatt mit Farbe ausgefüllt wird. Sollten Sie sich dabei ertappen, angestrengt „etwas ganz bestimmtes darstellen oder zeichnen zu wollen“, so bitten Sie diesen ehrgeizigen Persönlichkeitsanteil, ein wenig beiseite zu treten und sich innerlich in einem bequemen Sessel auszuruhen. Von dort aus kann er gerne zuschauen, wie sie heute leistungsfrei experimentieren mit Ihren ureigenen Klangfarben und Farbklängen.
6. Nachspüren
Wenn es genug ist – Sie werden diesen Zeitpunkt erspüren – legen Sie die Stifte beiseite und treten einen Schritt zurück von Ihrem Bild. Nehmen Sie die Veränderungen wahr, die mit Ihnen geschehen sind. Was ist jetzt anders als am Beginn dieser Farb-Klang-Bewegungs-Erkundung? Wie hat sich Ihre Stimmung verändert? Wie ihr Körperempfinden? Wie Ihr Raumgefühl? Wie der Kontakt zwischen dem Innen und dem Außen? Was hat sich mit Ihren Gedanken verändert? Wenn Sie diese Wandlung Ihrer Befindlichkeit registriert haben, genießen Sie die „Ernte“, und gönnen Sie sich dann ein genüssliches Räkeln, Gähnen, Strecken.
7. Mit der Atembrücke das Bild explorieren
Nun nehmen Sie etwa 2–3 m Abstand von Ihrem Gemälde oder stellen Sie es ein wenig entfernt aufrecht vor sich hin, so dass Sie bequem davor stehen oder sitzen können. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Atem, beobachten Sie das Ein und Aus Ihres Atems. Mit dem nun folgenden Ausatem gleiten Sie wie auf einer „Atembrücke“ hinüber und berühren mit diesem Ausatemstrom ihr Bild an einer bestimmten Stelle. Tauchen Sie dort hinein, erkunden Sie es neugierig, lassen Sie sich von diesem Punkt, dieser Stelle Ihres Gemäldes etwas mitteilen. Mit dem folgenden Einatem kehren Sie wieder zurück in Ihren Körper, nehmen in sich auf, was Sie entdeckt, erfahren, erkundet haben. In dieser Weise fahren Sie fort: der Ausatem gleitet hinüber – jedes Mal zu einer anderen Stelle des Bildes –, der Einatem kehrt zurück zu Ihnen und bringt eine Empfindung mit. Erkunden Sie auf diese Weise den gesamten Raum Ihres Gemäldes: Vielleicht entdecken Sie Bildbereiche, zu denen Sie sich besonders hingezogen fühlen, bei denen Sie gerne etwas länger verweilen, andere Stellen mögen Sie vielleicht irritieren oder gar abstoßen. Wenn Sie auf diese Weise das gesamte Bild erkundet haben, kehren Sie wieder ganz zu sich zurück und lassen Sie aus Ihrem Herzen heraus spontan einen Titel für das Gemälde aufsteigen. Schreiben Sie diesen auf die bemalte Vorder- oder auf die Rückseite des Bildes, zusammen mit dem Entstehungsdatum.
8. Ausklang
Nach Abschluss dieser Bildexploration nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um sich zu dem, was Sie aus der Tiefe Ihrer Seelenweisheit mitgeteilt bekommen haben, Notizen zu machen. Wenn Sie die Gelegenheit haben, sich leistungs- und wertungsfrei mit jemandem über diese Klang-Farben-Erfahrung auszutauschen, umso besser.
Ich suche nicht – ich finde.
Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen…
Finden – das ist das völlig Neue!
Das Neue auch in der Bewegung.
Alle Wege sind offen,
und was gefunden wird ist unbekannt.
Es ist ein Wagnis – ein heiliges Abenteuer!
Pablo Picasso
Methodische Hinweise für Musiktherapeut*innen
- Diese Übungssequenz lässt sich sowohl in der Einzeltherapie als auch in der Gruppenarbeit einsetzen. Besonders in der Einzelbegleitung macht es Sinn, als Therapeut*in einen schützenden Klangraum mit dem behutsam animierenden Tönen der eigenen Stimme anzubieten.
- Es wird in dieser Sequenz (2.–6.) das wellenförmige Grundprinzip verfolgt: von tief Innen, aus der Quelle des SELBST schöpfend, den momentanen Ausdruck sich entfalten lassen, immer mehr nach außen, dann in den Kontakt (mit dem Medium oder dem Du), schlussendlich wieder zurück nach innen und nachspüren in Stille (Embodiment).
- Bei der Bildexploration (7.) geht es nicht um Deutungen, Analysen und Erklärungen, sondern es bleibt immer noch beim intuitiven Spür-Erkunden des Gemäldes, um es staunend, interessiert, neugierig und körperbezogen mit Hilfe der „inneren Weisheit“ zu erkennen, wertungs- und leistungsfrei. Dabei geht es darum, zunehmend mehr SELBST-Bezug herzustellen. Dies kann für das therapeutische Nachgespräch von Bedeutung sein.
Literaturtipps und Infos
Rittner, S. (2008). Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie / in der Musiktherapie. Musiktherapeutische Umschau, Themenheft „Die Stimme im therapeutischen Dialog“, 29(3), 201–220.
Knill, P. J. (1992). Ausdruckstherapie. Künstlerischer Ausdruck in Therapie und Erziehung als intermediale Methode. Lilienthal: Eres Edition. – Ein historisch wertvolles Büchlein, das immer noch sehr lesenswert ist.
Egger, B. (2009). Faszination Malen. Praktisches, Erzieherisches, Anregendes. Bern: Zytglogge.
Rössler, W., Matter, B. (2013). Kunst- und Ausdruckstherapien. Ein Handbuch für psychiatrische und psychosoziale Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.
Unter www.sabinerittner.de finden Sie mehrere Videos mit einer von Sabine Rittner angeleiteten, tönenden Stimm-Meditation und einer Klangtrance-Reise kostenlos zum Mitmachen.
Schwerpunktthema I
Vom Aufbau einer Musiktherapieausbildung in der Ukraine – trotz Pandemie und Krieg. Eine Mission Impossible?
Von Elena Fitzhum
Die Frage ist ja ganz einfach: Wie baut man eine Unterrichtsstruktur auf, die eine Pandemie und einen Krieg überdauert; für Menschen, die man teilweise noch nie gesehen hat; in einer Sprache, die man weder versteht noch spricht und in einem Land, in dem man Englisch im akademischen Kontext nicht zwangsläufig beherrscht.
Wie hat dieses Abenteuer begonnen? Eigentlich gehörten einmal Lemberg (das heutige Lviv in der Ukraine) und Wien einem gemeinsamen soziopolitischen Kulturkreis an. Architekten innerhalb der damaligen Habsburgermonarchie bauten hier und dort und verliehen so beiden Städten ähnliche Stadtbilder. So umrundet eine Straßenbahn die Lemberger Innenstadt und schafft Verbindungen zu den „Außenbezirken“, ganz wie in Wien. Die ersten Postflugzeuge versorgten ab 1918 beide Städte innerhalb weniger Stunden mit Post, heute braucht die Bahn für 667 Kilometer 10 Stunden und 50 Minuten. Eine Autofahrt wagt nur derjenige, der es unbedingt versuchen will oder etwas zu transportieren hat. Von Wien aus startend fährt man entweder über Tschechien und Polen oder über Ungarn. Was nur wenigen in Europa bewusst ist, Wien liegt sehr weit östlich und bis Lemberg sind es eigentlich nur 586 Kilometer Luftlinie, ein klein wenig mehr als bis an Österreichs Westgrenze zur Schweiz. Man spürt diese Nähe immer noch bei einem Spaziergang durchs heutige Lviv, denn es fühlt sich irgendwie an wie in Wien. Es ist halt alles ein wenig kleiner. Lemberg ist einfach eine wunderbare Stadt und die komplett renovierte Innenstadt lädt zu Spaziergängen und Kaffeehausbesuchen ein – eben wie in Wien.
2017 trat eine Wiener Kollegin an mich heran, ihr Mann, den ich eigentlich nicht kenne, lasse fragen, ob ich nicht Interesse habe, beim Aufbau einer Musiktherapieausbildung im heutigen Lviv zu helfen. Ich wandte mich in derselben Woche an die von ihr übermittelte Kontaktadresse und startete bereits einen Monat später gemeinsam mit meiner Wiener Kollegin Dr. Dorothee Storz. Im Mai 2022, also fünf Jahre später, schließen die ersten Absolvent*innen ab.
Es ist wichtig, die Vorgeschichte zu erwähnen, denn es ist eigentlich eine „typisch Wiener G’schicht“: Man kennt jemanden, der jemanden kennt, dann beginnt man erst einmal zu improvisieren, und Schritt für Schritt entsteht etwas. Ein Vorgehen, welches auch unseren ukrainischen Kolleg*innen nicht fremd zu sein schien. So entstand zunächst eine semi-akademische, musiktherapeutische Berufsausbildung. Es war von Beginn an klar, dass hier ein Know-how-Transfer geschehen werde. Die Wiener Musiktherapieausbildung blickt als die älteste Europas auf mehr als 60 Jahre ihrer Existenz zurück und unsere jahrelangen Erfahrungen mit Berufspolitik sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene konnten einem Land behilflich werden, welches sich noch im Pionierstatus befindet.
Eines war klar: um zum Verbund europäischer Musiktherapie Verbände zu gehören, mussten auch internationale Regeln befolgt werden. Als Matrix dienten einerseits die Statuten des Österreichischen Berufsverbandes für Musiktherapeut*innen (ÖBM), diese halfen auch bei einer baldigen Gründung eines ukrainischen Berufsverbandes (AMU). Und angelehnt an die europäischen Normen des EMTC (European Music Therapy Confederation), konnte relativ schnell ein Ethikkodex für die Ukraine erstellt werden. Das Ziel war eine Voll-Mitgliedschaft in der EMTC. In diesem Jahr beginnt die AMU erstmals ihre Tätigkeit als ein „Observing Member“ in der EMTC. Immerhin: Somit ist die Ukraine eines von 25 europäischen Ländern, die im regelmäßigen Austausch stehen und an gemeinsam verpflichtenden Qualitätsstandards arbeiten. Im Laufe unserer Aufbauarbeit gesellte sich eine weitere Partnerschaft hinzu. Zwischen der UCU (zu Deutsch: Ukrainisch Katholische Universität) und der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Stegemann konnte mit Hilfe von Erasmus+ die Finanzierung einer Lehrendenmobilität über Jahre gesichert werden. Dachten wir! Zu einer intensiven Zusammenarbeit kam es zwar, zu einem personellen Austausch jedoch nicht. Die Finanzierung einer so genannten Mobility wurde zwar abgesegnet, konnte aber nicht realisiert werden. Corona und Krieg schufen neue Fakten!
Am Morgen des 24. Februar 2022 marschierte die russische Armee in die Ukraine ein und ein bis heute andauernder Krieg begann (Stand Redaktionsschluss). Ich erinnere mich, wir hatten noch am Abend des 23. Februar eine Zoom-Vorlesung abgehalten. Die Wiener Kollegin Mag. Ev-Marie Grünenwald berichtete über die Arbeit mit alten und dementen Menschen, ein Thema, welches den Ukrainern sehr nahe ist. Denn abgesehen von der allgemeinen Abwanderung junger Menschen, vorwiegend ins benachbarte Polen, wandern vor allem aus den östlichen Grenzregionen immer mehr junge Menschen ab. Das war bereits vor dem Krieg so und man darf sich ruhig die Frage stellen, wer in Zukunft dort noch leben wird. Die Alten bestehen darauf, zurückzubleiben und sind oft unversorgt. Nachbarschaftshilfe hilft bei Versorgungsengpässen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie betreut werden müssen. Dann sind sie vom System erfasst und ihnen wird in irgendeiner Form geholfen.
Zurück zu unserer Arbeit. Es ist eigenartig, wenn man Zeitzeuge eines wohl die gesamte Weltordnung verändernden Ereignisses sein „durfte“. Am Abend des 23. Februar 2022 war die Welt noch in Ordnung, am 24. telefonierten wir bereits in Sorge, wie es unseren Kolleg*innen in der Ukraine wohl gehe. Die Folgen des Krieges waren fatal: Von heute auf morgen unterlag die gesamte männliche Bevölkerung den Mobilmachungskriterien, was eine Reduktion des Lehrpersonals und der männlichen Studierenden zur Folge hatte. Für uns nicht vorstellbar: Von einem Tag auf den anderen fehlen fast alle männlichen Kollegen! Unsere weiblichen Studierenden fuhren sofort zurück zu ihren Familien und waren somit über das ganze Land verstreut. Andere „flüchteten“ in Nachbarländer zu Verwandten oder Freunden. Die meisten gingen nicht freiwillig; sie wurden von ihren Männern dazu überredet, die sagten, sie können nur für ihr Vaterland kämpfen, wenn sie ihre Frauen und Kinder in Sicherheit wissen. Die Daheimgebliebenen suchten sich sofort eine Möglichkeit, ihr geliebtes Heimatland mit Taten zu unterstützen und gingen dorthin, wo man sie brauchte. Ein ganzes Land war plötzlich aus den Fugen geraten, alles bewegte sich und ich war mit einem Lebenswillen konfrontiert – wir sprechen auch von Resilienz – der mich faszinierte. Woher kam diese Kraft? Wie konnte sich alles so fundamental verändern und dennoch traf ich die Studierenden regelmäßig und zuverlässig im Internet. In welcher Welt leben wir eigentlich? Ist das mit dem für unseren Teil Europas so uncoolen Begriff Nationalismus zu erklären?
An ein Unterrichten in Anwesenheit war nicht mehr zu denken, und das, obwohl das Geld, auf das wir so lange gewartet hatten, nun dafür bereitgestellt wurde. Aber wir alle hatten ja bereits Erfahrung mit einer anderen Ausnahmesituation: Im Zuge der seit Jahresende 2019 andauernden Coronakrise mussten wir Lehrenden überall auf der Welt unseren Unterricht neu gestalten. Es begann also bereits vor dem Krieg die Zeit der Videokonferenzen via Zoom und des Übermittelns von Unterrichtsmaterial über die Plattform Moodle. Ohne Internet und ohne Wlan ging (und geht) gar nichts mehr. Bis heute sind die Internetverbindungen in die Ukraine relativ stabil, was einen wundern mag. So arbeiteten wir beharrlich weiter.
Aufgrund des eklatanten Lehrermangels an der UCU bat mich am 27. März 2022 der Leiter des dortigen Departments für Psychologie und Psychotherapie, Prof. Dr. Kechur, jeden Dienstag bis Semesterende eine Vorlesungsreihe anzubieten. Auch das ging in Wien einen eher informellen Weg: schnell waren KollegInnen gefunden, die zu relevanten Themen Vorlesungen abhielten. Es funktionierte sehr gut, obwohl es eine Einschränkung gab: Wenn jemand Bombenalarm über eine App auf seinem Handy erhielt (übrigens mit einem Sirenengeheul, welches einem selbst über Zoom durch Mark und Bein geht), so muss die betroffene Person erst einmal in den Luftschutzkeller! Oft waren die Studierenden sehr erschöpft, denn während der Nacht gab es öfters Bombenalarm, in Lemberg ging das über Wochen so. Und Lemberg war und ist bei Gott wenig betroffen, abgesehen von der enormen Anzahl der Flüchtlinge. Irgendwie arbeitet jeder für sein Land und für die seelisch und physisch Verletzten und so mischten sich deren Erfahrungen immer mehr in unseren Unterricht. Eine Supervisionssitzung mit unserer Musiktherapeutin und Spezialistin für Traumafolgestörungen, Dr. Edith Wiesmüller, werde ich wohl nie vergessen: Eine Studentin erzählte von der Arbeit mit Waisenkindern, eine andere von einer Beratungsstelle für kriegstraumatisierte Menschen, wieder eine andere sprach über ihre Arbeit bei einer der vielen Telefonseelsorgen. Sie berichtete von Telefonaten mit einer psychotischen Frau, die alleine mit ihrem Baby geflohen war und verloren in ihrer neuen Lebenssituation herumirrte. Es kam nie zu einem Kontakt mit dieser Frau, man wusste nicht einmal, wo sie sich aufhielt. Aber: noch rief sie regelmäßig an und wir hofften alle, dass es so bliebe. Viele arbeiteten mit Kindern, andere verteilten Essen oder anderes Notwendiges. Ich erhielt plötzlich einen Einblick in eine hoch komplexe Zivilgesellschaft, in der jede und jeder (aber eben nicht alle) sofort einen neuen Platz findet und den Möglichkeiten entsprechend für sein Land „kämpft“. Und immer wieder: „Wir werden siegen!“
Zurück zur „heilen Zeit“. Schon zu Beginn unserer Seminartätigkeit in Lemberg im März 2018 überraschte uns die Leidenschaft und der Mut zur Improvisation unserer zukünftigen ukrainischen Kolleg*innen. Ein Beispiel: Wir „westlichen“ Musiktherapeut*innen bespielen an unseren Arbeitsplätzen ein reichhaltiges Instrumentarium. Dies ist etwas, was auch unsere Patient*innen sehr schätzen. In Lemberg gab es nichts – bis auf wenige selbst gebaute Trommeln und, was uns am meisten beeindruckte, eine Metallleiste, an der alte Schlüssel hingen. Eine Art Chimes also, manche kennen das auch als Windspiel. Bei leichter Bewegung hört man die hellen und freundlichen Töne. Wir waren sehr beeindruckt, aber so konnte das für uns nicht weitergehen! Zurück in Wien initiierten wir eine Sammelaktion unter unseren Kolleg*innen und siehe da, im Frühjahr 2019 konnte ein Bus des OeAD (Österreichische Agentur für Bildung und Internationalisierung) ein beachtliches Instrumentarium nach Lemberg transportieren. Was für eine Freude! Und im gleichen Jahr konnte, wieder mit Unterstützung des OeAD, der erste Band unseres Wiener Lehrbuches in Ukrainische übersetzt werden. Im kärnterischen Dialekt gibt es dafür ein passendes Sprichwort: „Wenns laft, dann laft’s“ („Wenn es läuft, dann läuft es!“)
Das war gefühlt lange vor Corona und noch länger vor dem Krieg!
In der Woche vom 2. bis zum 7. Mai 2022 konnten dann endlich zwei der vier eingeladenen KollegInnen auf einen ersten Austausch nach Wien kommen. Prof. Kechur musste aufgrund des Mobilmachungsgesetzes in Lemberg verbleiben. Am 5. Mai stellten wir gemeinsam im Rahmen der Wiener Ringvorlesung Musiktherapie unser Projekt vor – alles mit unserer Dolmetscherin in Lemberg, die über Zoom übersetzend zugeschaltet war. Ein weiterer Schritt war der bis 1. Juli genehmigte Aufenthalt von Alexander Lvov, der im Institut für Musiktherapie an der mdw zu Gast war; Prof. Stegemann gelang es, ihn in einem streng getakteten Stundenplan unterzubringen und so bot u. a. Herr Lvov Workshops für unsere Studierenden an, die Einblicke in seine Arbeit mit dem musikalischen Psychodrama erlaubten. Diesmal fanden wir eine ukrainische Studentin, die sowohl Englisch wie auch Ukrainisch spricht, jedoch nicht Deutsch. Wir übersetzten also aus dem Deutschen ins Englische, sie übersetzte dies dann ins Ukrainische. Ein Procedere, welches viel Geduld von allen Beteiligten verlangte und bei dem wir sicher waren, dass viele Feinheiten verloren gingen.
Am 17. Mai endeten die Mini Lectures, für die in kürzester Zeit ein Programm zusammengestellt werden musste. Für unseren letzten Termin hatten wir keine Referentin mehr, aber der Zoom-Kanal war noch aktiv und ich dachte, es wäre fein, wenn wir ihn nützen könnten. Plötzlich erschien mir diese Verbindung in die Ukraine als etwas sehr, sehr Wertvolles, das man nützen sollte. Also traf ich mich mit ca. 25 ukrainischen Studierenden zu einem letzten Meeting in Zoom, wie so oft davor an einem Dienstag. Alleine die Frage: „Wie geht es euch?“ kam mir nicht über die Lippen. Darf man das Menschen, die sich in einem Krieg befinden, überhaupt fragen? Fühlen die sich etwa von mir verhöhnt? Mir gingen viele Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Und es ist diese Gleichzeitigkeit der Gedanken, die einen verwirren, wir kennen das von unseren Patient*innen. Am Ende steckt man in einer Blockade fest. Begonnen habe ich daher wie immer: „I hope, you’re fine!“ Wie absurd! Und dennoch: auf ukrainischer Seite freute man sich über meinen Satz, oder doch nicht?
Unsere Verbindungsfrau von der UCU war die Assistentin von Prof. Kechur, Frau Anastasiia Shyroka. Ich habe sie nie persönlich kennenlernen dürfen, aber sie war unsere emotionale Stütze bei den Mini Lectures. Sie war immer dabei und ich konnte sie wegen organisatorischem Kleinkram anschreiben, was schon sehr hilfreich war. An diesem Tag hatten wir keine Dolmetscherin und wenn ich etwas von den ukrainischen KollegInnen gelernt habe, dann war es das Improvisieren! Ich verkündete auf Englisch (was nun wirklich nicht alle gut beherrschen), dass die nächsten 1,5 Stunden für eine gemeinsame Reflexion zur Verfügung stünden. Und, dass ich aufgrund der fehlenden Übersetzerin sie jetzt mit Anastasiia alleine lassen würde. Diese Zeit sei nur für sie, ich würde mich jetzt verabschieden. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich verließ den Kanal und hatte das Gefühl, mich von liebgewonnen Menschen für immer zu verabschieden, sie alleine zu lassen. Eine Woche später traute ich mich, Anastasiia anzuschreiben, wie es ihnen denn bei der Reflexion gegangen sei. Prompt kam folgende Antwort (von mir wörtlich übersetzt):
1. Viele Studenten hatten während der Vorlesungen bereits therapeutische Erfahrungen mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Einzel- und Gruppensetting. Sie konnten sofort das Angebot der Vorlesungen in ihre Arbeit („real life experience“) umsetzen.
2. Die Inputs zu den musiktherapeutischen Interventionen waren ambivalent: auf der einen Seite hilft Musik, ohne Worte zu kommunizieren, auf der anderen Seite produziert der Krieg sehr viele gefährliche Geräusche (Explosionen, Sirenen, etc.), so dass einige die Stille bevorzugen. Viele Geräusche aus der Musiktherapie können die Menschen überwältigen.
3. Die Teilnehmenden waren glücklich, an diesen Vorlesungen teilnehmen zu können und sie kamen zur richtigen Zeit.
Am 18. Mai, einen Tag später, hatten wir unsere Abschlussreflexion mit den Studierenden des ersten Musiktherapie-Ausbildungsjahrgangs aus Lemberg. Diese Gruppe war nur zum Teil deckungsgleich mit jener der UCU. Eine Prüfung lehnten die meisten ab, weil sie sagten, sie können sich in dieser schwierigen Lebenssituation nicht konzentrieren. So improvisierten Dorothee Storz und ich und führten mit ihnen ein Reflexionsgespräch. Wieder via Zoom und diesmal mit Halyna, unserer Dolmetscherin. Auf die durchaus übliche Abschlussfrage: „Und mit welchem Klientel können und möchten sie in Zukunft nicht arbeiten?“ kamen Antworten wie:
„Ich kann nicht mit Menschen arbeiten, die uns angreifen!“
„Nicht mit Menschen, denen sexuelle Gewalt angetan wurde“, Bezug nehmend auf die vielen Vergewaltigungsopfer des Krieges.
Ob jemand von ihnen bereits positive Erfahrungen mit der Umsetzung des Erlernten während des Krieges gemacht habe, fragten wir. Da sagte eine Studentin:
„Ja! Wenn man länger im Schutzkeller sitzen muss, hilft das Singen!
Hier endet mein Beitrag, Stand 1.6.2022. Das Ende ist offen und wird vermutlich kein Happy End sein – auch etwas, das wir aushalten müssen.
Mein besonderer Dank geht an folgende Personen: unsere Dolmetscherin Halyna Salahan, die uns vom ersten Tag an mehr als nur übersetzte. Andreas Wenninger, dem Leiter des Lemberger Kooperationsbüro der OeAD, ohne seine Kenntnisse über die Ukraine und seiner Finanzierung wäre nichts gegangen. Anita Taschler aus unserem Auslandsbüro an der mdw, die uns engagiert, geduldig und sachkundig durch den Erasmusprozess geführt hat. Anastasiia Shyroka von der UCU, die noch immer auf ein Stipendium für Österreich wartet. Sie weiß nicht, wie wichtig sie für mich war. Mein besonderer Dank geht an meine Kollegin Dorothee Storz, mit der ich Seite an Seite über fünf Jahre diese komplexe Aufgabe teils planend, teils improvisierend bewältigen durfte. Alleine? Das wäre zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen! Vergessen Sie es!
Literatur
Stegemann, T. & Fitzthum, E. (2018). Kurzlehrbuch Musiktherapie. Teil I. Wiener Ringvorlesung Musiktherapie – Grundlagen und Anwendungsfelder. Wiener Beiträge zur Musiktherapie, Band 11. Wien: Praesens.
Stegemann, T. & Fitzthum, E. (2022). Kurzlehrbuch Musiktherapie. Teil II. Wiener Ringvorlesung Musiktherapie – Grundlagen und Anwendungsfelder. Wiener Beiträge zur Musiktherapie, Band 13. Wien: Praesens.
Elena Fitzthum
Dr., Musiktherapeutin, Psychotherapeutin, Lektorin an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien, Musik- und psychotherapeutische Arbeit in freie Praxis
Praxisvorstellung
Musiktherapeutische Praxis Magdeburg
1. Stellen Sie sich bitte kurz vor.
Wenn Kinder, Jugendliche und ihre Eltern zum ersten Mal in meine Praxis kommen, sage ich meistens in etwa: „Hallo, ich bin Wolfgang Pilz. Ich bin ein Therapeut für Kinder und Jugendliche, die Sorgen, Probleme oder Schwierigkeiten haben. Ich versuche, ihnen mit Worten und auf andere Weise zu helfen.“ Außerdem ist da noch mein Hund Gustav, der in der Praxis immer dabei ist. Er begrüßt die Anwesenden gerne schwanzwedelnd und mit Pfötchengeben, was den Beziehungsaufbau sehr fördert. Viel mehr muss ich über mich nicht sagen, da meine Homepage (www.wolfgangpilz. de) die wichtigsten Informationen zu meinem Werdegang enthält, so dass ich auch hier darauf verweisen kann.
2. Welche Situation Ihres musiktherapeutischen Berufslebens lag vor der Eröffnung Ihrer ambulanten Praxis?
Meine ambulante Praxis besteht bereits seit 15 Jahren. Zuvor war ich 12 Jahre lang zunächst in einer erwachsenen-, später einer kinderpsychiatrischen Klinik als Musiktherapeut und Psychotherapeut tätig.
3. Wie sind Sie zu dem Beruf des Musiktherapeuten/der Musiktherapeutin gekommen?
Seit meiner Kindheit hat mich Musik immer schon bewegt und etwas ganz besonderes in mir ausgelöst. Zunächst ging ich davon aus, diese Erfahrung vor allem als Lehrer im Gymnasium weitergeben zu wollen. Nach Beendigung des Lehramtsstudiums suchte ich jedoch nach einer Möglichkeit, mittels Musik Menschen noch individueller begegnen und vielleicht sogar helfen zu können. Deshalb habe ich das Aufbaustudium Diplom-Musiktherapie an der Universität Witten/Herdecke absolviert und bin seit dessen Abschluss im Jahr 1994 überwiegend im Gesundheitswesen tätig.
4. Erzählen Sie bitte von den Rahmenbedingungen und der Konzeption Ihrer Praxis.
Ich betreibe eine kassenärztliche Praxis als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut im Richtlinienverfahren Verhaltenstherapie in der Großstadt Magdeburg. Musiktherapie wird von mir in diesem Rahmen als Arbeitsmethode im Kontext einer an den allgemeinen Wirkfaktoren orientierten Psychotherapie eingesetzt (Klaus Grawe, Psychologische Psychotherapie, 1999). Die von mir durchgeführten Therapien werden über die kassenärztliche Vereinigung mit den Krankenkassen abgerechnet. Das Angebot dient der ambulanten Behandlung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen bis 21 Jahre. Mein Konzept von Musiktherapie bedeutet in diesem Rahmen also, dass die musiktherapeutischen Methoden und Techniken der in meinem Denken grundsätzlich vorherrschenden empiriebasierten und an Theorien der Psychologie orientierten Verhaltenstherapie untergeordnet werden. Die Fallkonzeption hinsichtlich zu behandelnder Störungen ist stets klar verhaltenstherapeutisch. Dieser Rahmen lässt zu, Musiktherapie in ihren unterschiedlichen Formen kreativ, situations- und zweckgebunden zum Einsatz zu bringen.
5. Wie sind Ihre Praxisräume eingerichtet? Nach welchen Kriterien haben Sie sie gestaltet?
Meine Praxis befindet sich in einem großen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert in einer Nebenstraße eines belebten Stadtteils von Magdeburg. Die Räume sind sehr hoch (3,80) und lichtdurchflutet. Der Charakter der geradezu herrschaftlich wirkenden Villa wurde bei der Einrichtung durch mich einerseits durch einen großen, alten Schrank und ein ebenso altes Klavier aufgegriffen, andererseits aber den behandelten Kindern zuliebe und aus pragmatischen Gründen durch einige einfache Regale mit bunten Türen kontrastiert. Vor einiger Zeit habe ich die Einrichtung noch durch ein Hochbett ergänzt – ein Platz, der sich zum Vorlesen von Geschichten ebenso eignet wie als sicherer Rückzugsort, wenn die anderen therapeutischen Aktivitäten mal gerade nicht so passen. Einige der von mir eingesetzten Musikinstrumente sind im Therapieraum grundsätzlich frei verfügbar und können somit auch spontan, ohne größeren Vorbereitungsaufwand verwendet werden. Weitere befinden sich aber auch – wie viele Spielsachen – hinter Schranktüren, damit es insgesamt ordentlich und übersichtlich aussieht und eine Überlastung mit Sinneseindrücken vermieden wird. Von früheren Ausstellungen unterschiedlicher lokaler Künstler im Flur der Villa hängen einige Bilder an den Wänden meiner Praxis. Insgesamt sollte alles zwar kindgerecht sein, ohne jedoch einem Kinderzimmer zu ähneln – denn die meiste Zeit in dieser Praxis verbringe ja ich selbst, so dass ich mich zuerst wohl fühlen muss, um sinnvoll helfen zu können. Außerdem umfasst die Praxis ein großes Altersspektrum und es sollte für jeden Altersbereich etwas Ansprechendes dabei sein. Ich selbst brauche äußere Ordnung, um gut arbeiten zu können, deshalb sieht es im Regelfall zumindest bei Beginn jeder Therapiestunde übersichtlich und aufgeräumt aus.
6. Mit welchen Anliegen, Leiden oder Krankheiten können sich Menschen an Sie wenden?
Da es sich um eine vertragsärztliche psychotherapeutische Praxis handelt, besteht mein Angebot für alle Kinder und Jugendlichen, die psychische Schwierigkeiten haben. Meistens kommen sie zum ersten Termin in Begleitung ihrer Eltern – einige Jugendliche aber auch alleine. Sicherlich ist oft nicht leicht abzugrenzen, ob bei der eigentlich vorgestellten Person selbst eine Störung vorliegt, insbesondere dann, wenn erhebliche Probleme im sozialen Umfeld (sei es in der Familie oder in der Schule) oder in der Interaktion mit den nächsten Bezugspersonen offensichtlich erscheinen. Aber zu einer Behandlung im eigentlichen Sinn, die also über Kennenlernen und Diagnostik hinausgeht, kommt es stets nur dann, wenn eine individuelle Diagnose im Sinne des Diagnosenkatalogs der WHO bzw. Kapitel F der ICD-10 tatsächlich als gesichert gilt. Darüber hinaus ist auch die Altersgrenze obligatorisch, so dass in meiner Praxis Erwachsene nicht für sich selbst behandelt werden können, selbst wenn sie beispielsweise bereit wären, eine musiktherapeutische Behandlung selbst zu bezahlen. Sehr wohl werden die Erwachsenen aber einbezogen, wenn ich musiktherapeutische Methoden in Familiengesprächen einsetze.
7. Was hilft in Ihrer Therapie? Nach welchem Konzept arbeiten Sie?
Meine musiktherapeutische Vorgehensweise wurde am meisten von der improvisatorischen Musiktherapie nach Nordoff/Robbins geprägt. Hier fand ich meine künstlerische Herangehensweise am besten gespiegelt und so gehe ich in der Einzeltherapie nach wie vor am ehesten vor. Musik wird demzufolge als eine Art erweiterter, vieldeutiger Sprache wirksam, indem aus miteinander improvisierten Tönen musikalische Beziehung entsteht und sich ein gemeinsames künstlerisches Ganzes entwickelt. Dies ermöglicht die Erfahrung neuer Handlungsmöglichkeiten und – ganz wörtlich zu verstehen – „unsagbarer“ Einsichten. Damit kann die Brücke zur Psyche manchmal leichter gebaut werden als über die etwas kopflastigen – wenn auch sehr effektiven – verhaltenstherapeutischen Methoden und Techniken. Im Sinne der allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie ist mein Vorgehen hier neben dem Stiften von Beziehung meist auf die Aktivierung von Ressourcen orientiert. Aber auch klärungs- und bewältigungsorientierte Interventionen lassen sich gut mit improvisatorischer Musiktherapie in Einklang bringen. Zusätzlich habe ich mich eingehend in Gruppenmusiktherapie nach Christoph Schwabe fortgebildet. Dieses Konzept dominiert meinen Einsatz von Instrumenten in Gruppen. Es lässt sich meiner Auffassung nach ohne Schwierigkeiten mit bekannten Wirkfaktoren und Techniken der Verhaltenstherapie mit Gruppen in Einklang bringen, indem gemeinsames Improvisieren Gruppenkohäsion fördert und über das Geschehen in der Improvisation anschließend so gesprochen wird, wie dies nach einem stärker an der Realität orientierten Rollenspiel ebenso getan würde.
8. Wie klingt die Musik, die Sie mit Patientinnen machen oder die Sie ihnen vorspielen?
Ich spiele normalerweise keine Musik vor – weder von der Konserve, noch indem ich selbst spiele, da ich die in ihrem Selbstwert meist stark geschwächten Menschen, die zu mir kommen, nicht als schaffender Künstler einschüchtern möchte. Sie sollen ja ihrem eigenen, improvisatorischen Zugang zur Musik vertrauen. Die von mir und meinen Patientinnen meist miteinander gespielte Musik lässt sich mit den üblichen musikalischen Parametern beschreiben: sie klingt mal laut, mal leise, schnell oder langsam, schrill oder dumpf, blechern oder hölzern usw. Ich übe mit meinen Patientinnen, solche Kategorien zu finden, ehe wir sie anschließend neu übersetzen in die von dem Erklungenen wiederum ausgelösten Gefühle. Dies bedeutet, dass ich die zunächst oft rasch geäußerten bewertenden Zuschreibungen fast immer hinterfrage. Beispiele solcher Fragen wären: Was genau fandest du schrecklich? Wie könnte man beschreiben, was du mit fröhlich meintest? Welcher Klang kam dir da traurig vor? Was geschah gerade in der Musik, als Wut in der aufzukommen schien? Dabei verfolge ich die Hypothese, dass in improvisierter Musik in der Therapie häufig eine Problemaktualisierung im Sinne wirkfaktorenorienterter Psychotherapie erfolgt, so dass ein Transfer in den realen Alltag durch sorgfältige Exploration oder Konfrontation gelingen kann.
9. Schildern Sie bitte eine typische Situation aus Ihrem Berufsalltag.
Eine typische Situation aus der Einzeltherapie: Wir haben 30 Minuten lang über die momentane Situation einer Jugendlichen miteinander geredet, ein auslösendes Ereignis beschrieben, Gedanken sortiert und hinterfragt. Nun lade ich sie ein, mit mir dazu zu improvisieren. Die Wahl der Instrumente ist dabei für beide frei, allerdings begebe ich mich letztlich doch häufig ans Klavier, weil ich – wie Paul Nordoff – der Ansicht bin, dass man mit dem Klavier den künstlerischen Ausdruck der mit improvisierter Musik nicht so vertrauten Person sehr gut und vielfältig aufgreifen kann – besser als mit jedem anderen Instrument. Anfang und Ende der Improvisation bestimmt die Jugendliche (wenn nicht der Fakt, dass die Zeit zu Ende ist). Manchmal tauschen wir uns verbal aus, manchmal auch nicht. Mögliche Fragen können z. B. sein: Was möchtest du zu deiner Musik sagen? Hattest du den Eindruck, so spielen zu können, wie du jetzt gerade wolltest? Was ging dir durch den Kopf? Oft auch: Ist es ok, wenn wir das, was wir gespielt haben, einfach für sich stehen lassen und nicht mehr darüber sprechen?
Und in der Gruppentherapie: Die Kinder oder Jugendlichen – in einer Gruppe sind drei bis sechs Teilnehmer*innen – sitzen auf Stühlen in einem großen Kreis. Technisch leicht handhabbare Instrumente (Trommeln, Xylofon, Mundharmonika – die Gitarre zählt aber ausdrücklich nicht dazu) stehen in der Mitte bereit. Oft treffe ich eine Vorauswahl, weil ich ein bestimmtes therapeutisches Ziel verfolge. Beispielsweise ist es eine sehr spannende Gruppenaufgabe, zu fünft nur vier Instrumente zur Verfügung zu haben und im Verlauf einer Improvisation trotzdem jeden gleichermaßen zu beteiligen. Dieses Spiel würde sich natürlich nur für spielfreudige, jüngere Kinder eignen. Stellen wir uns dagegen eine ohnehin zu Passivität neigende Jugendlichengruppe vor, so würde ich lieber eine größere Anzahl zur Auswahl anbieten, damit sie mutiger im Ausprobieren werden. Nach der Improvisation stellen wir die Instrumente wieder in die Mitte des Kreises, so dass die Versuchung, während der Gesprächsrunde nochmal darauf zu klimpern, geringer ist, als wenn jeder noch sein Instrument vor sich stehen lassen würde. Die Gesprächsrunde bezieht sich auf Wahrnehmen und Beschreiben des gerade Geschehenen. Sie muss aber stets dem Entwicklungsstand der Kinder angepasst bleiben und ist meist kürzer als das vorhergehende Spiel selbst, um Überlastung zu vermeiden.
10. An welche besonders schwierige, lustige oder glückliche Situation können Sie sich erinnern?
Als schwierig empfinde ich Situationen, in denen Impulsivität oder sogar Aggressivität mancher Kinder dazu führt, dass nicht nur laut Musik gemacht wird, sondern Zerstörung in Kauf genommen wird (z. B. Abbrechen von Schlegeln) und Kindern dann klare Grenzen aufgezeigt werden müssen, die in einem scheinbaren Widerspruch zum Versprechen der Psychotherapie, ganz und gar akzeptiert zu werden, stehen. Ich stelle mich dem natürlich, aber empfinde das als herausfordernd. Lustig fand ich eine Jugendlichengruppe, die sich vorgenommen hatte, mir ein Konzert vorzuspielen. Damit sie dies – quasi als Überraschung – vorbereiten konnten, schickten sie mich vorübergehend in mein direkt an den Therapieraum angrenzendes Büro. Mehrmals kehrte ich nach einigen Minuten zurück in den Therapieraum, um mir das vermeintlich ausgereifte, geübte „Produkt“ anzuhören. Aber immer wieder begannen sie zwischendurch zu streiten, wie der Ablauf denn jetzt gemeint war und schickten mich erneut nach nebenan. Nach dem dritten vergeblichen Anlauf konnten wir alle darüber lachen. Glücklich hat mich im Dezember ein 9-jähriger Junge gemacht, den ich in den letzten Monaten einzeltherapeutisch betreut habe und dessen Beziehungsaufnahme ich sehr lange als brüchig und distanziert empfand. Kurz vor Weihnachten trällerte er beim Hereinkommen den Refrain von „Feliz Navidad“ – ein Stück, das ich gerade am Wochenende mit meiner Jazzband geübt hatte. Die Noten standen zufällig noch auf dem Klavier. Wir haben das Lied wieder und wieder miteinander gespielt und fühlten beide Glück, indem wir uns nahe waren und ein Erlebnis teilten.
11. Welche Idee im Bereich der Musiktherapie würden Sie gerne verwirklichen, wenn Sie ausreichend Zeit und Mittel hätten?
Hätte ich Zeit und Mittel, so würde ich mehr Forschung betreiben. Ich möchte wissen, wie wir die Wirkfaktoren der Psychotherapie so einsetzen und verteilen können, dass möglichst viele Patient*innen möglichst umfangreich davon profitieren. Dazu müssten viele in der Regelversorgung stattfindende Therapiestunden wesentlich genauer analysiert werden, z. B. mittels Videos, die von Dritten detailliert nach bestimmten Kriterien zum Einsatz der Wirkfaktoren ausgewertet werden.
www.wolfgangpilz.de
Musiktherapeutischer Klinikspaziergang
Musiktherapie an der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätsmedizin Halle (Saale)
Von Elisabeth Gräfe
Die Psychiatrie in Halle (Saale) – Historisches
Die Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg ist Teil des Universitätsklinikums Halle (Saale) und kann auf eine lange historische Entwicklung zurückblicken. Zudem kommt auch der Stadt Halle eine große Bedeutung in der Geschichte der Psychiatrie zu.
Der Begriff ‚Psychiaterie‘ (später ‚Psychiatrie‘) wurde erstmals 1808 von Johann Christian Reil (ab 1788 Professor der Medizin in Halle und Leiter des klinischen Instituts) beschrieben und hat sich bald von Halle aus weltweit durchgesetzt. Reil betonte die Verbindung vom Seelischen und Somatischen, welche im Gehirn zusammenlaufe (Speler 2013). In seinen 1803 veröffentlichten ‚Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen‘ beklagte Reil die unwürdige Behandlung von psychisch Kranken in den damaligen Zucht- und Tollhäusern und beschrieb seine Vorstellung von einer psychischen Heilbehandlung, wobei er umfassende Reformen forderte. Unter anderem betonte er die psychische Kur (im weitesten Sinne Vorbereiter von psychotherapeutischen Methoden) innerhalb der Behandlung und die Forderung nach Errichtung eigener Heilanstalten in Verbindung mit Lehrstühlen für Psychiatrie (Speler 2013).
Heinrich Damerow, ab 1836 Professor der Medizin und Direktor der damaligen Irrenanstalt zu Halle-Nietleben, gilt als Gründer der heutigen Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Sein ‚Pro Memoria an Deutschlands Irrenärzte‘ (1841) beschrieb die geplante Herausgabe einer ersten ‚Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie‘, infolgedessen 1842 die Fachgesellschaft gegründet wurde (Marneros und Pillmann 2005).
Heute befindet sich die Klinik an zwei Standorten: der Hauptstandort in der Julius-Kühn-Straße für stationäre Behandlungen und der Bereich der Tagesklinik und Ambulanz in der Magdeburger Straße.
Das Areal in der Julius-Kühn-Straße wurde 1891 durch Eduard Hitzig (1838–1907) eingeweiht. Dieser Gebäudekomplex der Psychiatrie in Halle galt lange Zeit weltweit als Vorbild architektonischer und humaner Konstruktion für psychisch Kranke. Es war damals die erste selbststständige Klinik für Psychiatrie und Nervenkrankheiten in Preußen (Marneros und Pillmann 2005).
Die Universitäts- und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik – Aktuell
Die Klinik ist mit rund 100 stationären Betten und etwa 25 teilstationären Plätzen eines der größten psychiatrischen Versorgungskrankenhäuser für Erwachsene in Halle und dem südlichen Sachsen-Anhalt.
Das parkähnliche Gelände für den stationären Bereich verfügt über vier offene Stationen mit Behandlungsschwerpunkten auf Depressionen, Angst- und Zwangserkrankungen, somatoformen Störungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis, bipolaren Störungen und gerontopsychiatrischen Erkrankungen. Die Patient*innen sind in großräumigen, villenartigen Gebäuden untergebracht, die unter Denkmalschutz stehen. Zusätzlich gibt es zwei Neubauten, in denen sich die geschützten Stationen befinden. Diese fungieren auch als Aufnahmestationen für akut gefährdete Patient*innen. Hier gibt es u. a. auch die Möglichkeit der Qualifizierten Entzugsbehandlung.
Des Weiteren stehen zwei Mutter-Kind-Plätze zur Behandlung von bspw. postpartalen Depressionen zur Verfügung. Neben medikamentösen Therapien kommt auch den psychotherapeutischen Methoden eine wichtige Rolle zu, wobei der Fokus auf den Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie liegt.
Das Gebäude der Tagesklinik ist ca. zehn Gehminuten entfernt in der Magdeburger Straße. Hier befindet sich auch die psychiatrische Institutsambulanz (PIA), in der gegenwärtig etwa 1.000 Patient*innen ambulant behandelt werden. Innerhalb des PIA-Angebots werden Spezialsprechstunden angeboten, bei denen der Behandlungsschwerpunkt auf speziellen Störungen liegt (u. a. Sprechstunde für bipolar affektive Störungen, Trauma-Ambulanz und Gedächtnissprechstunde). Zusätzlich können Angebote der aufsuchenden Hilfe wahrgenommen werden, bei denen Musiktherapie fest integriert ist. Patient*innen werden entweder zu Hause oder im Pflegeheim/Betreuten Wohnen aufgesucht und musiktherapeutisch versorgt. Vom gemeinsamen Singen, über rezeptive Angebote, bis hin zum Improvisieren ist hier alles möglich.
Mit der sektorübergreifenden Versorgung kann die Zeit nach einem stationären Aufenthalt bis zum Eintritt in die Tagesklinik überbrückt werden. Die Tagesklinik selbst befindet sich derzeit im Ausbau und besteht momentan aus drei Gruppen mit jeweils sieben tagesklinischen Plätzen.
Sowohl im stationären als auch im teilstationären Bereich werden alle Patient*innen in das multimodale Therapiekonzept eingebunden. Neben den Gruppentherapien (Psychoedukation, Entspannungsverfahren, soziales Kompetenztraining oder Skills-Training) gehören Ergo-, Sport-, Physiotherapie, kreatives Gestalten und Musiktherapie zur Behandlung.
Im ambulanten Bereich wird die Zuweisung der Patient*innen in enger Absprache mit dem Team zumeist von ärztlicher und psychologischer Seite ausgeführt.
Musiktherapie in der Universitäts- und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Die Klinik beschäftigt insgesamt fünf Musiktherapeut*innen (drei im stationären Bereich und zwei in der Tagesklinik/PIA).
Da es vielerlei musiktherapeutische Ausbildungen mit verschiedener theoretischer Ausrichtung gibt, haben auch wir unterschiedliche Ansätze. Meine musiktherapeutischen Wurzeln sind ein Master of Science in Nordoff-Robbins Music Therapy, weswegen ich mich mit der Schöpferischen Musiktherapie immer noch verbunden fühle (vgl. Nordoff und Robbins 1986).
Da ich hauptsächlich im stationären Bereich arbeite, versorge ich normalerweise drei von sechs Stationen mit Musiktherapie. Vor Beginn der Corona-Pandemie war ich zudem in der Aufsuchenden Hilfe tätig, indem ich Patient*innen zu Hause oder im Pflegeheim musiktherapeutisch begleitete und zudem auch eine wöchentliche rezeptive Gruppe in einem Betreuten Wohnen anbot. Des Weiteren leitete ich unseren ambulanten Chor mit einer Kollegin, sowie eine wöchentlich stattfindende Trommelgruppe. Pandemiebedingt liegt mein aktueller Schwerpunkt seit zwei Jahren auf der musiktherapeutischen Betreuung einer Station mit psychotherapeutischem und psychosomatischem Fokus. Hier werden v. a. junge Erwachsene, die unter Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Traumafolgeerkrankungen und somatoformen Störungen leiden, behandelt.
Das musiktherapeutische Angebote richte ich nach den individuellen Bedürfnissen und therapeutischen Zielsetzungen der Patient*innen bzw. den Behandlungsaufträgen des ärztlichen und psychologischen Teams aus. Dementsprechend biete ich Musiktherapie in verschiedenen Formen an: als aktive oder rezeptive, als Gruppensingen, als Bewegung zu Musik oder auch als Malen nach Musik. Obwohl die meisten Therapien im (Klein-)Gruppensetting stattfinden, gibt es auch die Möglichkeit der Einzeltherapie. Es besteht ein enger Austausch mit den ärztlichen, psychologischen und pflegerischen Berufsgruppen und anderen Fachtherapeut*innen in wöchentlichen Teambesprechungen und Visiten. Hier können Therapieverläufe, Behandlungsschwerpunkte oder auch Zuweisungen für die Einzeltherapie besprochen werden.
Unser Musiktherapieraum ist einladend und hell gestaltet. Hier befindet sich der Hauptteil unseres Instrumentariums. Nebenan gibt es außerdem einen saalähnlichen Raum, der für Bewegung zur Musik genutzt werden kann. Musiktherapie in der Gruppe findet für diese Station zweimal pro Woche statt. Nach einer Eingangsrunde, dem sogenannten ‚Blitzlicht‘, in dem die momentane Stimmung, die Wünsche und Erwartungen sowie Befürchtungen an die Musiktherapie formuliert werden können, folgt die Einladung, sich im Raum umzuschauen. Instrumente, die ansprechend sind, dürfen ausprobiert werden. Oftmals können hier schon musikalische oder klangliche Präferenzen erörtert werden. Auch musikalische Vorerfahrungen (positive sowie negative) werden häufig thematisiert, obwohl für die Musiktherapie natürlich keine Vorkenntnisse nötig sind.
Die meisten Patient*innen mit den o. g. Störungsbildern stehen unter enormem Druck und verspüren eine generelle hohe Anspannung. Um diese zu reduzieren, sehe ich die aktive Musiktherapie als besonders hilfreich an, weil es darum geht, ins Handeln zu kommen, etwas Neues auszuprobieren und zu entdecken. Es gilt zunächst, den eigenen Leistungsdruck zu überwinden. Das gemeinsame musikalische Spiel ist ein geeignetes Mittel, um den Menschen in seinen Fähigkeiten wahrzunehmen. Etwas auszuprobieren, was vorher nicht geübt wurde, macht meist Freude, ist aber oft auch schambesetzt. Vor allem die Reaktionen und Beurteilungen der anderen kann vielen Patient*innen zunächst Angst machen. Die Tatsache, dass es in der Musiktherapie keine falschen Töne gibt, dass es nicht um Bewertung geht und jeder Ton, so wie er gespielt wird, ok ist, kann ich in der Therapie gar nicht oft genug hervorheben. Durch wertfreies Ausprobieren der Instrumente und das Herantasten an deren Klänge, den Austausch in der Gruppe und meine (musikalische) Begleitung gelingt es zumeist, die eigenen Bedenken zu überwinden. Die Teilnehmenden bemerken oft Gemeinsamkeiten im Erleben und Empfinden, was Verbundenheit schaffen kann. Am Anfang des Therapieverlaufs kann ein angeleitetes Spiel auf ausgewählten Instrumenten oder mit vorgegebenen Klängen helfen, um die eigene Unsicherheit abzubauen. Hier arbeite ich mit sogenannten strukturierten Improvisationen, bspw. mit einer von mir gespielten, klar stützenden strukturierten Begleitung am Klavier oder der an der Gitarre.
Im späteren Verlauf, nach gelungenem Beziehungsaufbau und dem Kennenlernen der unterschiedlichen Instrumente, biete ich den Patient*innen oft freie Improvisationen an. Das Zusammenspiel wird für einen verbindenden, gemeinsamen Moment genutzt, bei dem Grübelgedanken in den Hintergrund treten. Der Fokus liegt dabei auf dem Instrument und auf der Musik an sich. Es wird „mit den Ohren“ gespielt und mit der Musik mitgeschwungen. Dies schafft ein positives Gefühl und die meisten Patient*innen erleben sich dabei in die Gruppe integriert.
Die gespielte Musik löst häufig emotionale Reaktionen aus, die im Anschluss an die Improvisation verbalisiert und validiert werden können. Es entsteht ein Austausch, in welchem bspw. das eigene Spiel und das der anderen beschrieben werden kann, um auf diese Weise Wertschätzung zu erfahren. Dadurch können Unsicherheiten benannt, Assoziationen verbalisiert oder Erinnerungen beschrieben werden.
Für die rezeptiven musiktherapeutischen Angebote bitte ich die Patient*innen, eigene Musik mitzubringen. Dies kann entweder nach einem vorher besprochenem Thema (z. B. Stimmungen, biografische Themen oder musikalische Genres) oder auch einfach die momentane Lieblingsmusik sein. Indem die eigene Musik der Gruppe gezeigt wird, öffnen sich die Teilnehmenden und lassen die anderen an dem individuellen Erleben teilhaben. Nach meiner Erfahrung geben die Patient*innen hauptsächlich wertschätzende Rückmeldungen und sind offen dafür, neue Stücke kennenzulernen. Die persönliche Lieblingsmusik mit einer Gruppe zu teilen, wird als Möglichkeit gesehen, sich anderen gegenüber frei von Leistung oder Bewertung zu zeigen und damit Selbstvertrauen zu stärken.
„Hier wird mit Gefühlen gespielt, nicht mit Worten“ – Fallbeispiel
Der 30-jährige Patient Herr A. wurde mit Anspannungszuständen und starken Stimmungsschwankungen auf unsere psychotherapeutisch-psychosomatisch orientierte offene Station aufgenommen. Er berichtete von permanenter Angst, Nervosität, Frustration und ausgeprägter Traurigkeit. In depressiven Phasen litt er unter starker Grübelneigung, Freudlosigkeit und Lebensüberdruss. Des Weiteren verspürte er große Einsamkeit, auch wenn er nicht alleine war. Herr A. beschrieb außerdem ein Bedürfnis nach kindlicher Versorgung und den Wunsch nach Zuwendung. Insgesamt hatte er das Gefühl, sich nicht zu kennen, was ihm großen Leidensdruck bereitete. Es wurde die Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung (mit ängstlich-vermeidenden und emotional-instabilen Anteilen) sowie eine rezidivierende depressive Störung festgestellt.
Der Patient wurde bald nach seiner Aufnahme in das multimodale Therapiekonzept integriert. Die Gruppenmusiktherapie fand aufgrund der Corona-Pandemie in Kleingruppen, bestehend aus drei Patient*innen, statt. Herr A. zeigte sich bezüglich der Teilnehmeranzahl anfangs erleichtert, zugleich jedoch auch verunsichert, da er sich in kleineren Gruppen schwer unauffällig verhalten könne. Psychomtorisch wirkte er angespannt, unruhig und nervös.
Herr A. verfügte über musiktherapeutische Vorerfahrung aus einem vergangenem stationären Aufenthalt. Er berichtete gleich zu Anfang, dass er die Musiktherapie damals als anstrengend erlebt habe, da er Schwierigkeiten in Gruppen hatte. Soziale Ängste bzw. Unsicherheiten, die er schon seit der Kindheit habe, bestimmten sein soziales (Vermeidungs-)Verhalten. Er befürchtete insbesondere Ablehnung zu erfahren und dass andere ihn für „komisch“ halten könnten. Dies zeigte sich auch im Umgang mit den Instrumenten. Herr A. spielte zumindest am Anfang der Therapie eher leise, wirkte angespannt, litt unter Schweißausbrüchen und der Angst, mit seinen Klängen negativ aufzufallen. Er würde lieber zuhören.
Für eine gemeinsame strukturierte Improvisation wählte er ein hell klingendes Metallophon, das er unsicher und leise, eher im Hintergrund spielte. Aufgrund seiner Schwierigkeit, sich in Gruppen zu öffnen, wurde Herr A. zur Einzelmusiktherapie angemeldet. Auch der Einzelkontakt löste zunächst Ängste in ihm aus und es wurde schnell klar, dass sich der direkte Kontakt beim Improvisieren „von Angesicht zu Angesicht“ für Herrn A. zu nah anfühlte. Er reagierte darauf mit Nervosität und Anspannung. Wir überlegten gemeinsam, wie es für Herrn A. leichter sein könnte, sich unbeobachtet zu fühlen und musikalisch zu entfalten. Daraufhin entschlossen wir uns, Herrn A. hinter eine Wand, die in den Raum hereinragt, zu setzen, während ich auf der anderen Seite der Wand saß. Herr A. reflektierte im Anschluss an die „versteckte“ Improvisation, sich erleichtert zu fühlen. Er traute sich zu, neue Instrumente zu probieren und entdeckte die Gitarre. Sein Spiel war stark angepasst an meine Begleitung auf der Sansula. Dies bestätigt Herr A. anschließend im Gespräch. Er reflektierte, dass er sich in sozialen Situationen hauptsächlich auf das Gegenüber einstellte, kaum bei sich blieb und versuchte, sich allen anderen anzupassen. Dies führte natürlich zu der Anstrengung und Erschöpfung, die er in Gruppensituationen empfand. In der Musik wurden seine o. g. Unsicherheiten und die Beschreibung, sich selbst nicht zu kennen, hörbar. Die Improvisation konnte ihm helfen, sich seiner Identität bewusster zu werden. Er hatte Klänge entdeckt, die ihm gefielen und durch die er einen musikalischen Ausdruck fand. Herr A. wirkte erleichtert und entlastet.
In den folgenden Einzeltherapien konnte sich Herr A. immer besser von meiner musikalischen Begleitung lösen und eigene Melodien z.B. auf dem Xylophon oder der Sansula dazu spielen. In seiner letzten Einzelmusiktherapie saß Herr A. mir gegenüber und wirkte deutlich authentischer. Der Sichtschutz wurde nicht mehr benötigt, sogar kurze Blickkontakte konnten während der Musik zwischen uns ausgetauscht werden. Es entstand eine fröhlich klingende unbeschwerte Musik. Im Anschluss beschrieb Herr A. ein Gefühl von Erleichterung und Entspannung, auch seine Hände schwitzten nicht mehr beim Spielen.
Ein Transfer in die Gruppensituation gelang in einem weiteren Schritt. Herr A. wirkte vertrauter und weniger unsicher. Er probierte das Trommeln aus und konnte ein „befreiendes Gefühl“ danach benennen: „Ich spiele sozusagen meine eigenen Hemmungen raus.“ Zudem entstanden humorvolle Situationen z.B. mit dem Holzfrosch, den er kraftvoll und selbstbewusst spielte. Im Verlauf schaffte er es zunehmend, eigene Bedürfnisse zu äußern. Eine gefühlvolle Improvisation mit der Sansula hätte für ihn gerne länger gehen können. Das den Patienten stark unter Druck setzende Vermeidungsverhalten konnte in der Musiktherapie nahezu vollständig abgebaut werden.
Herr A. wurde nach einem zweimonatigen stationären Aufenthalt in die tagesklinische Weiterbehandlung aufgenommen. Er wirkte zufriedener mit sich und insgesamt zukunftsorientiert.
Als ich Herrn A. um seine persönliche Meinung über die Musiktherapie bat, betonte er sogleich, das (wert-) freie Zusammenspiel habe ihm gutgetan. Es falle ihm schon immer schwer, sich mit Worten auszudrücken, aber: „Hier wird mit Gefühlen gespielt, nicht mit Worten.“
Elisabeth Gräfe
Musiktherapeutin an der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätsmedizin Halle (Saale); MSc. (Nordoff-Robbins); M.A. Methoden musiktherapeutischer Forschung und Praxis; B.A. Curative Education (Heilpädagogik); Weiterbildung in musik-imaginativer Schmerzbehandlung; Veröffentlichung: Metzner, S., Jaeger, U., Masuhr, O., Olschewski, U., Gräfe, E., Böske, A. Ch., & Dümpelmann, M. (2018) Forms of attunement during the initial stages of music therapy for patients with acute psychosis – A multicentre clinical study. Nordic Journal of Music Therapy 27 (5), S. 360–380.
Literatur
Speler, R.-T. (Hrsg.) (2013). Das geheimnisvolle Organ – Die Vorstellung über Hirn und Seele von Johann Christian Reil bis heute. Katalog zur Ausstellung im Museum Universitatis und im Kunstforum Halle. Halle (Saale): Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Marneros, A., Pillmann, F. (2005). Das Wort Psychiatrie … wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie. Stuttgart: Schattauer. NorLiteratur
Nordoff, P., Robbins, C. (1986). Schöpferische Musiktherapie. Stuttgart: Fischer.