Editorial

Kriegsängste. Unsere Profession der Musiktherapie kann nicht gegen den Krieg in irgendein Feld ziehen. Aber sie kann unseren Patientinnen und Patienten beim Umgehen mit diesen Ängsten helfen. Und uns selbst. Nicht nur emotional-affektiv, sondern auch rational.
Denn wir und die Alliierten von 1945 haben nur verdrängt, vergessen, worauf der spätbarocke Universalgelehrte Georg Wilhelm Leibniz von Hannover aus äußerte: Frieden sei nur eine Unterbrechung der Kriege. Die Vielzahl der Folgen des 30jährigen Krieges unter vielen Völkern ragte noch in sein Leben hinein.
Solch Gedanke und viele andere sammeln sich jetzt im Internet zu einem breiten Strom, aus dem sich Netznutzer Umgangshilfen mit der Realität holen. „Frieden ist nur die Waffenruhe in einem endlosen Krieg“ ist eine Variante aus diesem Pool – meist ohne Autorenangabe. Aber hinter allen wuchert die Suche, die Sucht nach Frieden.
Kriegsängsten begegnen wir in unseren Ambulanzen, in unseren Kliniken. In unseren Familien. In uns.
Wie alles kann auch die Musik als grenzüberschreitendes Medium begrenzen, ausgrenzen – dem Konstruktiven in menschlichen Seelenlandschaften dienen – oder ihrer Störung, Verstörung, Zerstörung…

Zum Inhalt nur so viel:
Die zwei Schwerpunktbeiträge fokussieren einmal Perspektiven aus der Arbeit in und mit einer musiktherapeutischen Ausbildungsgruppe in der Ukraine, deren Abschlussseminare erst durch Corona-Distanzzwänge via Zoom geschahen und die Schlussprüfungen in die erste Kriegszeit fielen.
Einerseits. Andererseits der Fokus aus der Arbeit mit Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in Russland, von denen etliche seit Jahren gegen die Putin-Regierung aufbegehrten und jetzt im halboffenen oder stillen Widerstand dagegenstehen.
So tapfer wie einige unserer Väter und Mütter und Großväter und Großmütter bis zur Kapitulation 1945. Wie einst. 
„Wie einst Lili Marleen“ ist das Capriccio in dieser Ausgabe übertitelt, die sonst besonderen Witz und Geist auch konstruktive Ironie und Heiterkeit versprüht, aber sich auch der Schwere der Gegenwart widmet, indem sie einen Ausgleich für die Schwere durch Tarierung sucht. Ohne die Aufgabe der Waage zu verlassen: nicht nur zu gewichten – auch zu tarieren Wie wirkt nun Musiktherapie im benachbarten Krieg?
Wie wirkt Musiktherapie mit Flüchtlingen aus der Ukraine? Wie auf Therapeutinnen und Therapeuten?
Diese und sicher auch die nächsten MuGs werden von Krieg und Kriegsfolgen handeln – ohne die vertrauten Rubriken verlassen zu müssen wie den Klinikspaziergang, die Praxisvorstellung, das Patienteninterview. Südkoreas Musiktherapie lernen wir hier kenen. Der 12. Kongress der European Music Therapy Conference (EMTC) in Edinburgh wird re-reflektiert sowie – seit Corona und erst recht seit dem Krieg – das neue Verhältnis von Musiktherapie zum Digitalen wie Zoom im therapeutischen Setting geschildert. Last but noch least: Ein russisches Märchen aus Kiew…

Wie seit Gründung der MuG vor 21 Jahren – wir vergaßen vor Arbeit das Feiern und jetzt ist keine Zeit dazu – folgen dann Anregungen für die Praxis und Singen und Atmen/Bewegung/ Stimme innerhalb und außerhalb unserer Kliniken. 
Apropos Singen im Krieg. Von Soldatenliedern derzeit wird nur vermutet, aber es wird in den Schutzkellern der Ukraine und in etlichen Musiktherapieräumen in Russland gesungen.

Für den Schluss nochmals Leibniz: „Warum entstand diese Welt von heute und dann noch ausgerechnet diese?“ Der Universalgelehrte und damit auch Philosoph Gotthold Wilhelm Leibniz antwortete auf diese Frage damit, dass (der philosophische) Gott sie sonst nicht erschaffen hätte. Sein Kritiker Voltaire verspottete diese Antwort in seinem Stück „Candide“ und lässt diesen sagen: Wenn dies die beste aller möglichen Welten wäre – wie müssen dann erst die anderen sein?
Der bis zum 24. Februar geltende Wunsch – „Bleiben Sie gesund! – reicht nicht mehr aus.

Ihr Hans-Helmut Decker-Voigt für den Herausgeberkreis