Schwerpunktthema I
Veränderungen und Übergänge – ein zusammenhängendes Paar
Von Petra Jürgens
Übergänge markieren Trennungen, indem sie verbinden. Trennungen wiederum markieren Übergänge, indem sie verschieben.
Das Leben ist von steten Veränderungen, Übergängen und Wandlungen geprägt, womit es umzugehen gilt. Die Ambivalenz zwischen den Wünschen, Altes, Vertrautes, Bekanntes zu bewahren und/oder sich auf Neues, Unbekanntes einzustellen, prägt unser aller Leben. Damit ist eine Spannung verbunden, mit der wiederum jeder Mensch zunächst auf seine Weise umgeht.
Gleiches gilt für Gesellschaften. An den gerade stattgefundenen Europawahlen lässt sich beobachten, dass viele Menschen zwar die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen irgendwie akzeptieren. Gleichzeitig spüren diese Menschen Unruhe und Furcht, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt und wie sie damit in Resonanz gehen können.
Deshalb haben gerade jene Parteien große Zustimmung erhalten, die drohende Gefahren kleinreden und den Änderungsbedarf herunterspielen. Hohe Ablehnung erfuhren hingegen diejenigen Parteien, die an der Dringlichkeit von Reformen angesichts drohender Katastrophen festhalten.
Diese Mischung von Einsichten, Verunsicherungen, Ängsten, Verdrängungen und blinder Hoffnung ist eine große Herausforderung, die sich nur durch Gespräche und neue Zuversicht schaffende Erfahrungen auflösen lässt. Politik darf nicht belehrend und in der Siegerpose daherkommen, sondern muss glaubwürdig die Dilemmata und Alternativen beschreiben, die konkreten Entscheidungen begründen und Mut machen, dass Veränderungen und Übergänge zu bewältigen sind.
Aus verschiedensten möglichen Betrachtungsweisen heraus konzentriere ich mich in diesem Beitrag auf Übergänge und Wandlungen in individuellen Entwicklungen, Erlebensräumen und Erlebnisinhalten. Dafür wähle ich phänomenologische, philosophische und morphologische Zugänge.
Was veranlasst mich, ausgerechnet mit einem Blick auf Paarbeziehungen zu beginnen?
Für alle Individuen sind Beziehungsfragen zentral. Gerade hieran lässt sich zeigen, dass sie immer auch von Veränderungen und Übergängen gekennzeichnet sind. Die gute Nachricht vorweg: Nicht jede Ehe muss geschieden werden! Aber wie stellt man es an, wenn es so gar nicht mehr ist, was es einmal zu werden versprach?
Übergänge unterbrechen Lebensläufe, lösen Menschen aus gewohnten Zusammenhängen, verändern Rollen, Beziehungen und gehen einher mit Wandlungsvorgängen und Neuerfindungen hinsichtlich eigener Identitäten.
Wer kennt den Zustand nicht – am Anfang einer Beziehung ist das Glück der Zweisamkeit „unfassbar“ im Sinne von unglaublich schön, und die damit Beschenkten wünschen sich nichts mehr, als für immer in dieser Seligkeit zu verbleiben. Die Frage ist nur: Wie geht es weiter, wenn das Glück auf ganz andere Weise unfassbar, nämlich nicht mehr haltbar oder ungreifbar wird?
Paare kommen in die Beratung, wenn sie von dem Gefühl begleitet sind, sich „auseinandergelebt“ zu haben, sich nicht mehr verständigen oder verstehen zu können, wenn aus dem einstigen Liebeswalzer zu zweit ein Tango zu dritt geworden ist und/oder wenn durch veränderte Lebensumstände alles entzaubert zu sein scheint. Zumeist haben sich die Beteiligten bei ihrer eigenen Sinnsuche bereits gehörig verlaufen, bevor sie auf die Wiederverzauberung unter Mithilfe einer Therapeutin hoffen. Wohin könnte die Reise führen – zurück in harmonische Gleichklänge oder doch besser in die Anerkennung eines auch von Dissonanzen begleiteten Miteinanders? Die Aufgabe bestünde dann in der Gestaltung einer reifen Konfliktgemeinschaft.
Wo dies gelingt, braucht sie natürlich nicht nur das Anerkennen, Austragen und Aushalten von Differenzen, sondern auch die sie tragende Gemeinschaft und das tiefe Bewusstsein von Zusammengehörigkeit, das auch seinen Ausdruck findet in Zeiten der Harmonie und Freude aneinander. So ist gelingende Partnerschaft immer ein fortwährender Wechsel solcher Gefühls- und Bewusstseinszustände.
Veränderungen und die von ihnen verursachten Übergänge werden – wie dargestellt – von den einzelnen Individuen sehr verschieden erlebt und verarbeitet. Das hängt beispielsweise ab von der jeweiligen Ich-Stärke, vom Selbstbewusstsein, von Offenheit, von eingeübter Flexibilität und von der Bereitschaft, auf Neues zuzugehen.
Jeder Mensch braucht jedoch auch Ruhe, um bei sich selbst bleiben oder neu ankommen zu können. Veränderungen können überfordern und den Übergang zu einer Krise werden lassen, die das Ich gefährdet.
So hängt die Fähigkeit, Übergänge bewusst zu gestalten auch davon ab, wieweit der Einzelne fähig und bereit ist, sich bewusst mit derartigen Herausforderungen auseinanderzusetzen, sie zu analysieren und sich gegebenenfalls helfen zu lassen.
Wir sind eingeladen, unser selbst geprüftes
Leben zu leben.
Die Bereitschaft, Gewohntes infrage zu stellen und sich neuen Verhältnissen flexibel anzupassen, basiert auf einer versöhnlichen Aushandlung zwischen Selbstbehauptung und Neugestaltung der Verhältnisse. Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitserwartungen können in einem solchen Klima gut gedeihen.
Unsichere Menschen mit geringer Ich-Stärke haben hingegen vielfach Mühe, Übergänge nach Veränderungen selbst zu gestalten und sich selbst darin treu zu bleiben. Sie bedürfen dann einer Hilfe von außen.
Jeder Mensch lebt in Wechselspielen zwischen geregelten Abläufen und Improvisationen. Um in dieser Spannung im Gleichgewicht sein zu können, bedarf es eines Einübungsvorganges, der bereits in der kindlichen Entwicklung beginnt und im weiteren Erziehungsprozess gesteuert wird. Derartige Spannungen reflektiert zu gestalten und zu einem immer neuen Fließgleichgewicht zu bringen, bleibt in den wechselnden Stadien des Lebens beständige Aufgabe.
Angesprochen ist an dieser Stelle die Fähigkeit, nach Veränderungen ein neues, an die andersartigen Verhältnisse angepasstes Regelwerk zu etablieren. Improvisationsfähigkeit erleichtert dabei die Bewältigung von Veränderungen und die Gestaltung von Übergängen. Interesse am Neuen, am Unbekannten, an anderen Menschen und ihren Erfahrungen bereichert das Leben und erleichtert es, Veränderungen zu verarbeiten und Übergänge zu gestalten.
Von zentraler Bedeutung ist der Wille, auch in Veränderungsphasen Subjekt zu bleiben, also jemand, der Verantwortung für sich und die Verhältnisse übernimmt. Alles, was das Ich stärkt, die Autonomie und Selbstwirksamkeit erhöht, stärkt auch die Kräfte zur Bewältigung von Veränderungen und damit die Fähigkeit zur Gestaltung von Übergängen. Zwar muss das Ich diese Situationen bewältigen, aber es ist nicht allein auf sich gestellt. Die Reflexionen geschehen zumeist über Dialoge und führen zu Stärkungen durch den sozialen Halt.
Wo Veränderungen und Übergänge nicht nur allein, sondern in sozialen Verbänden und Gemeinschaften verkraftet und gestaltet sein wollen, braucht es gemeinsame, diskursive (offene und öffentliche) Verarbeitung inklusive strittiger Auseinandersetzungen darüber. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass der Einzelne sich in seiner individuellen Erfahrung wahrgenommen und anerkannt fühlt und anerkannt weiß, befähigt ist oder befähigt wird, aktiv am Diskurs und an der gemeinschaftlichen Verantwortung für die Neugestaltung teilzunehmen. Das Gleiche gilt für die Strategien der Bewältigung und der Gestaltung neuer Regelwerke, um für die Gemeinschaft/den Sozialverband ein „Ankommen“ in den neuen Verhältnissen zu ermöglichen.
Wenn es auch grundsätzlich gilt, dass das Leben ständig im Wandel befindlich und damit von Übergängen geprägt ist, so gibt es doch im Lauf der Biografien für jeden Menschen vorgegebene Abläufe und Übergänge. Die Entwicklungspsychologie hat die verschiedenen Phasen von Kindern und Heranwachsenden intensiv erforscht und die damit verbundenen Herausforderungen der Ich- und Welt-Entdeckung für jeweilige Individuen vielfach beschrieben. Auch hier gilt: Die allgemeinen Anforderungen der Orientierung und Herausbildung von Identität werden von jedem Einzelnen letztlich auf unverwechselbar persönliche Weise bewältigt.
Wenn Übergänge der Beliebigkeit unterworfen sind, macht alles keinen Sinn.
Wir alle sind Beziehungswesen, und so ist die Begleitung, die junge Menschen in dieser grundlegenden Phase erfahren, von entscheidender Bedeutung für deren Ich-Werdung auf dem weiteren Lebensweg.
Auch in späteren Zeiten ergeben sich oft vergleichbare An- und Herausforderungen. Dazu gehören Phasen, in denen beispielsweise aus einem Liebespaar mit der Geburt eines Kindes eine Familie in klassischem Sinne wird. Später wiederum, wenn die Kinder aus dem Hause gehen, verändert sich die Lebenssituation der Eltern wieder grundlegend.
Die elterliche Beziehung will dann neu gedacht und gestaltet sein. Nicht selten stellt sich dann auch die Frage, ob beide Elternteile das und sich überhaupt noch wollen. Ähnliches ereignet sich, wenn die Partnerin oder der Partner nach beruflich starker Beanspruchung in den Ruhestand tritt. Auf solche vorhersehbaren Situationen bereiten sich viele Paare ganz bewusst vor und entwickeln miteinander Strategien, um derartige Übergänge nicht zu einer Belastungsprobe für die Beziehung werden zu lassen. Gleichwohl gilt hier wie immer, dass die Vorbereitung darauf und das Eintreten der Situation selbst dann noch einmal sehr unterschiedlich erfahren werden kann.
Genau in dem Moment, als die Raupe dachte, die Welt geht unter, wurde sie zum Schmetterling.
Für jeden genauso vorhersehbar ist der Tod – zum einen mit Blick auf sich selbst, zum anderen in der Vorstellung des Verlustes von anderen. Im ersteren Fall ist es schon die Frage, ob hier die Rede von einem Übergang überhaupt angemessen ist. Hier fällt mir ein viel zitierter Sinnspruch meiner Großmutter ein: „Genau in dem Moment, als die Raupe dachte, die Welt gehe unter, wurde sie zum Schmetterling.“ Das ist aus mehreren Gründen interessant.
Subjektiv erlebt die Raupe es als ein Zu-Ende-Gehen, als ihr Ende. Und doch ist es ein neuer Anfang! Im Draufblick weiß jeder, aus einer Raupe wird ein Schmetterling. Objektiv ist es daher der vorhersehbare Übergang von der einen zur anderen Daseinsform.
Analog lässt sich nach christlichem Verständnis das Verhältnis von irdischem und ewigem Leben beschreiben:
Subjektiv geht das irdische Leben mit dem Tod zu Ende. Dem Glauben folgend ist der Tod jedoch der Übergang ins ewige Leben bei Gott.
Die Übergänge des Lebens – unabhängig davon, ob jeder auch den Tod, das Ende des irdischen Lebens, als Übergang verstehen kann oder möchte – betreffen nun nicht nur die verschiedenen Phasen des Lebens, sondern das Dasein überhaupt. Die Bibel spricht davon, dass Gott den Menschen zu seinem Ebenbild schuf.
Philosophen haben die Freiheit als die Bestimmung des Menschen beschrieben. Beiden Bestimmungen ist immanent, dass es den Menschen zum Menschen macht, das eigene Leben selbst zu verantworten oder – wie man umgangssprachlich sagt – selbst in die Hand zu nehmen. Hannah Arend spricht vom „Anfangen“ als einer zentralen Dimension der Freiheit. Neues zu suchen und zu gestalten, sich und die Welt auf Zukunft hin zu entwerfen und diesem Entwurf zu folgen, gehört wesentlich zum Menschen. Die konkreten Motive und Ziele werden jeweils sehr verschieden sein – aber zu jedem Menschen gehört dieses Aufbrechen, Anfangen und ins Offene-Schreiten. Das gilt sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft und jede wie auch immer geartete Gemeinschaft. Im Verharren liegt immer schon das Ende. Die Zukunft ist mit dem Aufbrechen verbunden, mit notwendiger Veränderung, um Zukunft nicht zu verspielen. Angesichts der globalen Gefahren der Klimaveränderungen ist uns das mehr als früheren Generationen bewusst. Aber auch im Individuellen gibt es immer wieder jenes Gefühl, dass Zukunft nur im Ausbrechen zu gewinnen ist – durch Trennung in einer erstickenden Beziehung, durch Wechsel des Berufs oder sonst einer zerstörerischen Situation. Jeder könnte hier Beispiele nennen.
Neben solchen selbst in Angriff genommenen Veränderungen gibt es ja aber auch Veränderungen, die durch Schicksalsschläge verursacht sind. Da trifft etwas jemanden wie ein Blitz – und mit einem Male ist alles anders. Das kann etwas sehr Schönes sein, zum Beispiel eine plötzliche große Liebe. Da eröffnen sich neue Räume und Welten und alles erscheint in einem neuen Licht. So werden immer wieder – in der Bibel und bis heute – auch Bekehrungserlebnisse beschrieben.
Alle kennen aber auch Schicksalsschläge, die Betroffene in eine große Schockstarre versetzen, weil das bis dahin gelebte oder als sicher geglaubte Leben ein plötzliches Ende erfährt. Sei es der Tod eines nahen Menschen, ein Unfall oder schwere Behinderung – der Varianten sind viele.
Wenn neben uns „jemand“ stirbt, sind wir betroffen, und wenn dieser „jemand“ dann auch noch ein Mensch ist, der uns sehr nahe war und so viel bedeutete, dann fühlt es sich zuweilen an, als würde unser eigenes Leben unweigerlich in einen totalen Stillstand geraten sein. Wer und was soll da trösten können? Ich selbst möchte in solchen Situationen einfach nur gern die Betroffenen in den Arm nehmen und sie halten – mehr weiß ich bis heute in konkreten Situationen erst einmal nicht zu tun. Irgendwann las ich sinngemäß bei Balzac, dass jeder Mensch mindestens zweimal leben würde – zuerst in der Wirklichkeit und dann in der Erinnerung. Und die alten Indianer sagen, Tote seien nicht tot, solange sie in unseren Herzen weiterleben. Beide Gedankengänge sind mir in Trauerprozessen immer hilfreich: emotional nur sehr schwer verkraftbar, aber eben auch – und genau das wird bei allem Kummer geschafft (!) – eine ganz besonders ehrende Form des Abschiednehmens. Traurigkeit gehört zu jedem Verlust, und wir können Traurigkeit zugleich wie eine Art Pause vom Fröhlichsein in dem Wissen sehen und verstehen, dass die Lust am Leben irgendwann wiederkehrt. Und erst recht nach so tiefen Einschlägen kommt sie zumeist sogar in einer viel intensiveren Form zurück, weil Übergänge dieser Art oft stiller, sensibler und dankbarer entdeckt und angenommen werden.
Es ist zumeist erst einmal schwer zu akzeptieren, wenn die Welt (und damit auch das eigene Leben) aus den Fugen geraten ist und dass es kein Zurück gibt. Doch was „gibt es“? Schon die Formulierung stimmt nicht. Die Zukunft „gibt“ es nicht – sie wird völlig neu sein, muss erfunden, neu gedacht, gelebt und gestaltet werden. Gerade in einer solchen Situation gilt noch grundsätzlicher als es auch sonst schon stimmt: Wir können uns im Rückblick besser erkennen – aber nur nach vorn leben.
Nicht jeder schafft es, nach einem so grundlegenden Absturz neu anzufangen, weil zum Beispiel die innere Kraft dazu fehlt oder umfassende Orientierungslosigkeit vorübergehend Besitz von Trauernden ergriffen hat. Für so grundlegende Veränderungen gilt, dass sie erst begriffen sein wollen – das braucht vor allem Zeiten der Stille und ermutigenden Beistand.
Freiheit muss in uns selbst sein, sonst ist es keine Freiheit!
Ich möchte nun noch einmal die Perspektive wechseln – von den zuletzt im Zentrum stehenden individuellen hin zu gesellschaftlichen Fragen, denn gerade in diesem Jahr drängt sich hier einiges auf.
35 Jahre nach den Ereignissen, die viele „die politische Wende“ nennen, richtet sich der Blick in ganz Deutschland wieder auf die ostdeutschen Bundesländer. Vor dem Hintergrund der aktuellen Wahlen wird wieder neu danach gefragt, was im Osten unseres Landes mit dem „Umsturz 1989“ und in den folgenden Jahrzehnten falsch gelaufen sein könnte.
Wir haben es hier mit einem gesellschaftlichen Übergang zu tun, der offensichtlich nicht wirklich bewältigt wurde und darüber hinaus zu einer sehr anderen gesellschaftlichen Mentalität und Grundhaltung geführt hat, die heute zu mehr Fragen führt als zu Antworten. Blicken wir zurück auf das Jahr der rasanten Übergänge:
Ich erinnere noch allzu gut, dass die Zahl der Wiedervereinigungsbefürworter in der DDR zwischen November 1989 und Anfang Februar 1990 von 48 % rasant auf über 80 % anstieg, das heißt, die breite Mehrheit wollte die Einheit – auf schnellstem Wege. Die vermeintliche Zusammengehörigkeit beider deutschen Gesellschaften („des großen und des kleinen Bruders“) sollte sich recht schnell als überhaupt nicht selbstverständlich erweisen.
Tatsächlich haben beide Seiten (Ost und West) nicht nur die materiellen und finanziellen Implikationen dieser „Wiedervereinigung über Nacht“ vollkommen unterschätzt, sondern ebenso wenig die sozialpsychologischen Auswirkungen des Vereinigungsprozesses bedacht. So wurde gerade den Ostdeutschen ja nicht nur im Schnellverfahren eine Verabschiedung von ihrer bisherigen Lebens- und Berufsbiografie abverlangt, sondern zugleich eine enorme Umstellungs- und Anpassungsleistung an ein neues – ihnen bis dahin fremdes – System, das sich eben nicht nur durch den erwarteten materiellen Wohlstand und Warenüberfluss auszeichnete. Sehr bald – und bis in die Gegenwart hinein – empfanden und bewerten viele Ostdeutsche die Marktwirtschaft als bedrohlich und/oder ungerecht und waren bzw. sind nachträglich der Meinung, die Westdeutschen hätten die DDR im Kolonialstil erobert. Das Erleben, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein, besteht auch heute noch in weiten Teilen.
Auch wenn wir es vielleicht gern anders sehen würden, müssen wir doch anerkennen, dass die Wiedervereinigung von 1990 für Ostdeutschland kein geglückter Übergang war und die Prägungen in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen bis in die Gegenwart nachwirken.
Nicht jeder – und dies gilt für Ost und West gleichermaßen – konnte die mit der Wiedervereinigung verbundene Anpassungsleistung bewältigen und als konstruktive gemeinsame Entwicklungsmöglichkeit auffassen, und entsprechend anders gehen Ost- und Westdeutsche heute noch mit ihrer Geschichte und der Aktualität um.
Dass ein „Sich-Zusammenfinden“ von Ost und West schwierig sein würde, war also nachträglich betrachtet absehbar. Immerhin trafen (und treffen) – zugespitzt formuliert – eine bis dahin praktizierte Gesetz- und Ordnungskonzeption und ein heiterer Anarchismus aufeinander. Wer macht was wie und warum? Diese nach der Wiedervereinigung oft gestellte Frage hätte wohl besser lauten sollen: Wissen wir eigentlich, wovon wir reden? Gewissermaßen, so möchte man resümieren, blicken die Ost- und Westdeutschen auch heute noch in ihrer Identitätswahrnehmung in ein die jeweilige historische Vergangenheit und Gegenwart verzerrendes und unliebsames eigenes Spiegelbild. Dies zu erkennen und damit konstruktiv umzugehen wäre vielleicht für beide Seiten – also hüben wie drüben – ein Weg zu einer wirklich gefestigten gemeinsamen deutschen Identität.
Abschließend greife ich noch auf eine Grundsatzfrage zurück. Es ist jene nach der Identität in den Übergängen, also nach dem ganzen Ich.
Jeder erwachsene Mensch entdeckt an sich in der Begegnung mit anderen oder in veränderten Lebenssituationen immer neue Seiten an sich selbst. Das können erfreuliche Seiten sein, die zur Bereicherung des Lebens beitragen. Ebenso können sich in diesen Vorgängen Facetten einer Person offenbaren, die anzuerkennen sie sich selbst schwertut. Dabei bleibt erst einmal wieder offen, wie der Einzelne jeweils damit umgeht.
In besonders herausfordernder Weise stellt sich diese Frage nach dem eigenen Ich zum Beispiel nach Erkrankungen mit dauerhaften Schädigungen. Was geschieht, wenn ein „Zurück in alte Zeiten“ keine Option mehr ist? Wie erleben es Betroffene, wenn anstelle von Wiedererlernen nur noch Neuerlernen möglich ist?
Betroffene sehen derlei Umstände zunächst einmal als Entfremdung von sich selbst, was mit Scham- und Schuldgefühlen einhergeht. Gerade in solchen Situationen offenbart sich das Leben als ein „Ins-Offene-Sein“.
Was verändert sich im Übergang? Worin bleibe ich mir gleich? Worin bleibt sich das „Es“ gleich? Wie kann ich mein Selbst durch neue Entfaltung erhalten?
Fragen wie diese erweisen sich immer wieder als lohnenswerte Selbstverortungen auf Wegen zu neuen Horizonten.