Editorial

Das Tablet zieht ins Altersheim

Erinnern wir uns, besonders ich mich: Gegenüber dem Einzug erster elektronischer Musikinstrumente in die Therapie Ende der 70er Jahre waren wir, war nicht nur ich, skeptisch, sondern dagegen. Mit wenigen Ausnahmen:
Wie in der Heilpädagogik, in der z. B. ein Hans Henning Haacke seine Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen an die frühen Keyboards heranführte, durch die sie Musik als Verstehens- und kreatives Gestaltungsmittel entdeckten. Überrascht, dass sie mit dem Input eines Ein- oder Zwei-Finger-Spiels ein orchestrales Output erlebten. Die mögliche Steigerung der Ich-Stärke, Wiederentdeckung von Urheberschaft und Selbstwirksamkeit waren die therapeutischen Richtungsziele.
Oder wie in der Jugendpsychia­trie, in der MusiktherapeutInnen auch zwischen Skepsis und Begeisterung schwankend Keyboards und elektronische Drumsets besorgten und sie dann einbezogen.
Es gab auf dem Musiktherapie-Lesemarkt gleich mehrere öffentliche Warnungen vor der Welt der künstlichen Schwingungen im Musikerleben in der Therapie statt der natürlichen Ausschwingvorgänge. Auch von mir.
Diese Warnung und meine Skepsis setzten sich fort mit der Digitalisierung, deren unbegrenzte Möglichkeiten eher Patienten schuf als ihnen half.
Heute bin ich dank „Markus“ nicht „bekehrt“ (ich präferiere nach wie vor natürliche Ausschwingvorgänge), aber überzeugt von der Möglichkeit, Menschen durch digitale Musikinstrumente und Musikgestaltung am Computer eine Sinngebung ihres Lebens zu ermöglichen, die ohne den Einzug digitaler Instrumente in therapeutischen Begleitungen sehr viel mühsamer wäre.
Die Arbeit der Therapeutin Kerstin Krekeler mit Markus, einem schwerstmehrfachbehinderten jungen Mann, lernen wir im Schwerpunktthema mehr kennen: Mit seinen Augenbewegungen steuert er auf dem Touchscreen eines speziellen Tablets seine Mitgestaltung in musikalischer Improvisation und erlebt dadurch überraschende, gelingende Affektabstimmung und interaktive Momente.

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Heft 34 (2018) ist erschienen!

Digitale Instrumente in der Musiktherapie

Digitale Medien begleiten uns durch den Alltag hindurch und gehören inzwischen zu einem selbstverständlichen Teil im Bereich unserer Interaktionswelt. Neben den verstärkten Warnungen in Bezug auf das Suchtpotenzial, welches die Nutzung in sich birgt, erleben wir eine Erweiterung unseres Repertoires in der Interaktion mit unseren Patienten. Die Einbeziehung der digitalen Welt birgt neue Möglichkeiten, ohne das herkömmliche Instrumentarium zu ersetzen oder zu verdrängen.

Zum Mitmachen

Kleine Hilfen mit Atem, Bewegung und Stimme

Von Sabine Rittner

„Ist so’n kleines Rückgrat…“ – Die Wirbelsäule als tönendes Organ der Würde

Ist so’n kleines Rückgrat,
sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen,
weil es sonst zerbricht.
Grade klare Menschen,
wär’n ein schönes Ziel.
Leute ohne Rückgrat,
hab’n wir schon zuviel.

Manche von Ihnen erinnern sich vielleicht an Bettina Wegeners berühmten sanften Protestsong von 1978: „Kinder“. Dessen letzte zwei Strophen sind aktueller denn je und haben mich zu einer Übungssequenz inspiriert, die ich nachfolgend gerne mit Ihnen teile. Wenn Sie sie mitmachen möchten, benötigen Sie lediglich einen ruhigen Ort, eine Sitzgelegenheit, am besten einen Hocker oder Stuhl mit gerader Sitzfläche und etwa 15–20 Minuten Zeit.

a) Im Sitzen:
Stellen Sie sich vor, Ihre Wirbelsäule sei ein Schwanenhals. Die Füße stehen sehr breit. Stützen Sie Ihre Hände mit den Fingern nach innen auf Ihre Oberschenkel. Nun bewegen Sie Ihren Kopf, der die gesamte Wirbelsäule sowie den Rücken anführt, in sanft fließenden Bewegungen, mal nach links, mal nach rechts, mal nach unten, vielleicht sogar bis zwischen die Beine, mit der Vorstellung, dass der Schwan im Fluss nach Futter taucht. Dabei genießen Sie die Dehnung und Beweglichkeit Ihrer Wirbelsäule, ohne sich dabei allzu sehr anzustrengen.

b) Nun richten Sie sich wieder auf. Tönen Sie im Sitzen den Vokal „ü“, indem Sie sich innerlich auf Ihre Wirbelsäule konzentrieren. Halten Sie das Ü auf einer Tonhöhe und spüren Sie, wie es einen ganz bestimmten Bereich Ihrer Wirbelsäule in Vibration versetzt. Wenn Sie es nicht spüren, so gibt es die wunderbar wirksame Methode des „So tun als ob“, in der Sie sich vorstellen, der Ton würde in einer bestimmten Stelle der Wirbelsäule vibrieren. Verändern Sie nun die Tonhöhe und finden Sie heraus, wo der Ton abhängig von der Tonhöhe diesmal vibriert. Dabei spielen Sie auch mit der Formung des Ü und experimentieren dabei mit der Spannung im Mundraum.

c) Lassen Sie das Ü nun in der Wirbelsäule auf- und absteigen, indem Sie es in unterschiedlichen Tonhöhen intonieren. Dabei gleitet der Ton die Wirbelsäule hinauf und hinab. Lassen Sie die Töne ineinander über fließen.

d) Im Stehen:
Verlagern Sie nun Ihr Gewicht nach vorne auf die Beine und setzen Sie die Übung im Stehen fort, so dass Ihre Wirbelsäule sich in ihrer Schlangenkraft entfalten kann. Wie die Schlange von der Flöte des Schlangenbeschwörers in Marrakesch lassen Sie sich zu einem Tanz inspirieren, der von dem tönenden Ü in Ihrer Wirbelsäule angeführt wird. Dort, wo Sie die Vibrationen des Vokals spüren, lassen Sie sich zu freien Bewegungen inspirieren, in die Sie nun auch die Arme mit einbeziehen.

e) Ausgehend vom Vokal Ü erweitert sich das Tönen nun hin zu anderen Vokalen: „ü – e – ü“ oder „ü – i – ü“ oder „ü – ö – ü“ usw. und regt Sie zu weiteren freien tanzenden Bewegungen an, in die Sie alle Körperteile mit einbeziehen. Dabei bleibt die Wirbelsäule jedoch weiterhin im Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit.

f) Abschließend setzen Sie sich in Stille und innerer flexibler Aufrichtung hin, als hätten Sie eine sanfte und doch würdevolle Krone auf dem Kopf. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen und spüren Sie nach. Was ist jetzt anders als zu Beginn der Übung? Was spüren Sie? Was fühlen Sie? Wie hat sich Ihre Stimmung, Ihr Gestimmtsein verändert? Wie Ihr Körperempfinden? Welche Bilder tauchen vielleicht auf? Dies Nachspüren ist der wunderbare Moment der „Ernte“, in dem Sie staunend und neugierig Veränderungen wahrnehmen, ohne sie jedoch zu bewerten. Sollte sich in diesem Moment vielleicht ein zensierender, meckernder Teil in Ihnen bemerkbar machen, so bitten Sie ihn, beiseite zu treten und genießen Sie weiterhin jede noch so kleine, wohltuende Veränderung wie ein kostbares Kleinod.

Variante mit Partner:
Sollten Sie diese Übung gemeinsam mit einem/r Partner/Partnerin oder in einer Gruppe machen, so lässt sie sich im Anschluss von e) auch sehr gut stehend im Rückenkontakt durchführen: Anfangs tönend die Vibrationen des Ü in der Berührung spürend, nach und nach sich in die gemeinsame Bewegung erweiternd.
In der körperorientierten Musikpsychotherapie bezeichnen wir die Wirbelsäule als tönendes Organ der Würde. Ich wünsche Ihnen, dass Sie aus dieser Übung Inspiration für Ihren Alltag in Aufrichtigkeit, Flexibilität und Klarheit mitnehmen. Denn: „Menschen mit Rückgrat zeigen auch in den Kurven des Lebens ihre Geradlinigkeit.“ Ernst Ferstl (*1955)

Anmerkungen /Literaturtipps:
Diese Übungssequenz ist u. a. inspiriert von einer meiner ganz frühen Lehrerinnen, der Atemtherapeutin Ilse Middendorf. Mehr dazu finden Sie in: Middendorf, Ilse (2017): Der erfahrbare Atem. Eine Atemlehre. (Mit 2 CDs). Junfermann Verlag: Paderborn 2001.
Rittner, Sabine (2017): Die Bedeutung des Körpers in der Musikpsychotherapie. In: Musik und Gesundsein 31/2017. Reichert: Wiesbaden.
Rittner, Sabine (2008): Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie/in der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau, Themenheft „Die Stimme im therapeutischen Dialog“, Bd. 29, 3/2008. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, S. 201–220.

Schwerpunktthema I

Neue Medien – neue Chance Mit virtuellen Instrumenten in die Welt der Musik

Von Kerstin Krekeler

In meiner langjährigen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit komplexen Behinderungen hat sich immer wieder gezeigt, dass Musik nahezu jeden ansprechen, berühren, Reaktionen hervorrufen und Aktivität provozieren kann. Aus diesem Grund ist Musik ein fester Bestandteil meines Unterrichts an einem SBBZ für körperliche und motorische Entwicklung in Baden-Württemberg.
Wir hören Musik.
Wir machen Musik.
Wir erleben Musik.
Musik begleitet uns durch den Alltag und unterstützt im Unterricht. Die Lieblingsbeschäftigung in der Pause ist Musikhören. Singen und frei improvisiertes Instrumentenspiel sind sehr beliebte Tätigkeiten, und das nicht nur im Musikunterricht. So helfen Rhythmusübungen beim Sprechen- und Lesen, sowie beim Zählen und Rechnen. Zur Strukturierung des Tages gehören feste Lieder und Klänge.
Das Instrumentenspiel kann bei meinen Schülerinnen und Schülern, die alle eine körperliche und eine geistige Beeinträchtigung aufweisen, ekstatische Freude, aber auch absolute Frustration auslösen. Letzteres ist schlicht und einfach darin begründet, dass man zum Spielen der meisten Instrumente bewegliche Hände, eine gute Koordinationsfähigkeit und einen relativ großen Bewegungsspielraum benötigt, um ihnen Töne zu entlocken. Diese Voraussetzungen fehlen bei unseren Kindern und Jugendlichen zum größten Teil.
Trotzdem ist die Motivation, Musik zu machen, bei allen sehr groß. In der Regel ist dieses gut mit körpereigenen Instrumenten, einfachen Rhythmusinstrumenten wie Rasseln, Glöckchen und Trommeln und bedingt auch mit Orffinstrumenten möglich, was bei den jüngeren Kindern gut ankommt. Schwieriger ist es bei den Älteren. Sie hören im Radio Popmusik oder entwickeln Vorlieben für Instrumentengruppen wie Streicher oder Flöten. Einer meiner Schüler liebt zum Beispiel Saxophone und hört diese aus den unterschiedlichsten Musikarten heraus. Von seinen körperlichen Voraussetzungen her wird er jedoch nie in der Lage sein, einen Ton auf einem Saxophon zu spielen.
Nicht selten wird Menschen mit komplexen Behinderungen auch heute noch die Fähigkeit, musizieren zu können, abgesprochen. Ihre Versuche zu singen, körpereigene Instrumente zu spielen, aber auch Töne mit Gegenständen herzustellen, werden oft übersehen oder sogar als „lästig“ oder „nervend“ unterbunden. Ihr Instrumentenspiel wird als „Spielerei“ abgewertet. Ich kenne mehrere Schülerinnen und Schüler, die nach konventionellen Maßstäben nicht in der Lage sind, Klavier zu spielen. Haben sie aber die Möglichkeit, die Tasten zu erreichen, produzieren sie eine wunderschöne Musik, die zwar immer anders ist, den Zuhörer jedoch stark berühren kann, wenn er sich darauf einlässt.
Neue digitale Medien können Menschen, die in ihrem Leben durch eine schwere Behinderung beeinträchtigt sind, helfen, an der Welt des Musizierens teilzuhaben. Die einfache Bedienung von Tablet-Computern und die Entwicklung von Hilfsmitteln für Menschen mit Behinderungen, die sich nicht nur auf die Erfüllung essentieller Bedürfnisse richtet, sondern auch Freizeit, Kreativität und Selbstverwirklichung berücksichtigt, macht dieses möglich.
Ich möchte zunächst einen jungen Mann vorstellen, der sehr lange in meiner Klasse war. Ich nenne ihn Mark, er ist inzwischen 22 Jahre alt. Er sitzt im Rollstuhl und kann seine Hände nur sehr eingeschränkt benutzen. Es fällt ihm schwer, seine Sitzposition zu halten, er ist durch seine starke Spastik immer verkrampft und unwillkürlichen Bewegungen ausgesetzt. Zielgerichtetes Handeln fällt ihm schwer, was ihn oft frustriert. Er ist in allen Bereichen des Lebens vollständig auf Hilfe angewiesen.
Mark ist im Rahmen seiner Möglichkeiten aktiv, lebensfroh und liebt die Gemeinschaft. Er kann sich durch einige wenige Laute und seine Mimik ausdrücken, die aber nur die Menschen verstehen, die ihn gut kennen. Oft gerät er mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten an Grenzen, da sein Mitteilungsbedürfnis diese bei weitem übersteigt.
Mark ist sehr gut in das Dorfleben seiner Heimatgemeinde eingebunden. Sein Vater spielt in der Musikkapelle und er besucht oft Feste. Besonders mag er die regionsspezifische Volksmusik. Hört er Musik, singt er mit, was für einen Außenstehenden aber kaum erkennbar ist und gegebenenfalls sogar als störend abgetan wird.
Er liebt es, selbst Musik zu produzieren und würde gerne auf allen In­strumenten spielen. Doch die Rasseln und Schellen fallen ihm aus der Hand, die Trommel trifft er nicht, die Gitarre ist zu groß … Am Keyboard gelingt es ihm am ehesten, Töne zu erzeugen. Dabei singt er laut mit.
Ein absolutes Highlight war es für Mark, im Rahmen einer Unterrichtsreihe zum Thema Orchester das „Orchester“ seiner Mitschüler zu dirigieren. Damals wurden zwei Gebärden ausgemacht, die er ausführen und mit denen er die Lautstärke seines Orchesters aktiv steuern konnte. Diese Stunden hatten nachhaltige Wirkungen. Mark war den ganzen Tag gelöster und deutlich entspannter und vor allem – stolz.
Mark besitzt einen Computer, den er mit den Augen bedienen kann und der angeschafft wurde, um seine Kommunikations- und Aktionsmöglichkeiten zu erweitern. Die Bedienung stellt für ihn eine große Herausforderung dar und ist sehr anstrengend. Die erhofften Erfolge stellten sich nicht in dem Maße ein, wie es Marks Umfeld erhofft hatte. Er selbst resignierte.
Dann entdeckte und kaufte seine Mutter die Software „Beamz“ für Marks Computer. In der Schule unternahmen wir gemeinsam die ersten Schritte.
Beamz ist ein Programm, das einer Laserharfe nachempfunden ist. Diese erscheint auf dem Bildschirm. Der Benutzer kann einen Grundbeat aus vielen verschiedenen Genres, von Rock über Pop, Klassik, Volksmusik bis Jazz auswählen. Die einzelnen Laserstrahlen sind passende Instrumente, die sich harmonisch in den Beat einfügen. Das können zum Beispiel Streicher oder Flöten bei klassischen Stücken oder Gitarre, Bass und Drum in der Rockmusik sein. Ausgelöst werden sie entweder durch Berührung (Touchscreen) oder per Augensteuerung (www.tobiidynavoxx/beamz/).
Mit diesem Programm war Marks Interesse an seinem Computer neu geweckt. Es hat sich für ihn eine neue Welt aufgetan. Er macht jetzt Musik. Musik, die toll klingt. Er sucht die Musik aus, nach der ihm gerade ist. Mal ein ruhiges klassisches Stück, dann einen fetzigen Technobeat und das nächste Mal seine geliebte Volksmusik.
Als Mark seine Musik seinen Mitschülern vorführte, sprang der Funke über. Die ersten trommelten direkt auf dem Tisch mit. Schnell kam die Idee auf, eine Band zu gründen. Mark wurde zum Bandleader, und die anderen begleiteten ihn mit Instrumenten, die ihnen gefielen. Das Spiel in der Gruppe bekam eine Eigendynamik. Und Mark war glücklich. Er lachte, war aufgeregt und wiederholte immer wieder eines seiner wenigen Worte. „Papa“. Auf die Nachfrage, ob er sich jetzt wie sein Papa fühle, antwortete er ganz klar und direkt „Ja“.
Was kann es jetzt für Mark bedeuten, mithilfe seines Computers und der Software „Beamz“ Musik zu machen?
Musik schafft Ausdrucksmöglichkeiten (Ich).
Mark erlebt sich. Er macht Musik. Er erlebt verschiedenste Arten von Musik und kann die Musik erzeugen, die er gerade braucht, die er gerade fühlt. Er handelt selbstbestimmter.
Musik verbindet Menschen – Menschen, die Musik erzeugen mit Menschen, die Musik hören (Ich und Du).
Mark hört Musik und weiß, dass die Anderen Musik erzeugen können. Mark erzeugt Musik und wird gehört. Er erhält ein Feedback.
Musik verbindet Menschen, die gemeinsam musizieren (Wir).
Mark erlebt Gemeinschaft. Er teilt seine Gefühle und erlebt die der Anderen durch das gemeinsame Musizieren (vgl. Decker-Voigt 2008, 199ff.).

Unabhängig von Hilfsmitteln aus dem Bereich der Rehabilitation entwickelt sich die Software für Tablet-Computer und Smartphones gerade rasant. Schaut man in den verschiedenen AppStores nach, findet man zahlreiche Apps, die scheinbar jedermann das Musizieren ermöglichen. Diese reichen von einfachen Musikspielen für Kinder über die Simulation einzelner Instrumente bis zu umfangreichen Apps, mit denen Musik produziert werden kann.
Eine dieser Apps ist „GarageBand“ von der Firma Apple. Mit diesem Programm ist fast jeder in der Lage, komplette Musikstücke zu arrangieren, zu spielen und aufzunehmen, ohne dass ein reales Instrument gespielt werden muss. In diese Komplexität muss man sich ordentlich einarbeiten, was aber durch die gute Übersichtlichkeit auch Laien nach einiger Zeit gelingt. Schaltet man die App ein, erscheint eine Übersicht der Instrumente, die nach Berührung auf dem Bildschirm originalgetreu erscheinen. Mit nur einem Click kann man zwischen Soloinstrument und dem Begleitmodus wählen. Im letzteren ist es möglich, Tonarten einzustellen, so dass auf den Saiten oder Tasten direkt die richtigen Akkorde liegen, welche wiederum mit nur wenigen „Wischbewegungen“ angepasst werden können. Am oberen Bildschirmrand befinden sich immer die Tools zum aufnehmen und bearbeiten.
Bei meiner Arbeit in der Schule ist es zunächst einmal nebensächlich, dass man mit dem Programm komplette Songs aufnehmen könnte. Das Spannende daran ist, dass sich den jungen Menschen ganz neue Möglichkeiten Musik zu machen erschließen. Es gibt Gitarren, Drums, Klaviere und Keyboards und Streichinstrumente. Die Keyboardtasten lassen sich so einstellen, dass sie nahezu jedes Instrument imitieren. All diese Instrumente, deren Klang wirklich gut ist, lassen sich auf dem Touchscreen ohne Kraftaufwand spielen.
Im nächsten Beispiel möchte ich den Einsatz dieser App auf einem Tablet im Rahmen einer Einzelsituation zeigen.
Cem (Name geändert) ist ein türkischer 20-jähriger Mann. Durch seine körperlichen Beeinträchtigungen ist er kaum in der Lage, gezielte Bewegungen auszuführen. Er kann Gegenstände greifen, ist aber sehr empfindlich an der Handinnenseite, weshalb er die Hand meistens zur Faust schließt und zum Handgelenk hin einrollt. Er benötigt einen Rollstuhl und ist in allen Bereichen des Lebens auf Assistenz angewiesen. Cem scheint seiner Umwelt nur selten zugewandt zu sein, und er kommuniziert über kaum wahrnehmbare Ja- und Nein-Zeichen. Seinen Unmut bringt er durch lautes Schreien zum Ausdruck, wobei er oft ein stark selbstverletzendes Verhalten zeigt.
Cem liebt Musik. Besonders rockige Rhythmen haben es ihm angetan. Dann lacht er und bewegt sich im Rhythmus der Musik. Aber auch ruhige Musik mag er gerne. Wichtig für Cem ist allerdings, dass Musik harmonisch ist. So mag er es zum Beispiel nicht, wenn auf dem Keyboard oder der Zauberharfe wild herumgeklimpert wird, wohl aber, wenn auf diesen „richtig“ gespielt wird. Auf arrhythmische Musik oder Jazz reagiert er durch Schreien. Er selbst lässt sich auf Angebote wie Keyboard, Zauberharfe oder Chimes (aufgehängte Klangstäbe, die durch leichte Berührung Töne erzeugen) zu spielen nicht ein und möchte auch keine Rhythmusinstrumente in die Hand nehmen. Besonders gut gefällt es ihm, wenn meine Kollegin Gitarre spielt.
In einer Einzelsituation zeige ich Cem unser neues Tablet. Er hat bisher noch nicht damit gearbeitet. Ich zeige ihm die App Garage Band und spiele für ihn verschiedene Instrumente an. Cem ist mit seiner Aufmerksamkeit ganz bei mir. Als ich bei den Gitarren ankomme, wird er ganz ruhig. Ich halte ihm das Tablet so, dass er es mit der Hand berühren kann, die zur Faust geballt ist. Die Gitarre ist als Soloin­strument eingestellt. Cem berührt zum ersten Mal die Saiten auf dem Touchscreen und hält dann inne. Ich spiele für ihn die Saiten an. Er zieht die Hand weg und hört zu. Schlage ich einzelne Saiten an, entspannt er sich, bei mehreren gleichzeitig wird er unruhig. Da ich nur eine Hand frei habe und deshalb keine Akkorde spielen kann, stelle ich auf den Begleitmodus um. Cem schaut interessiert zu. Ich stelle die C-Dur-Akkorde ein und spiele sie hintereinander. Da bewegt sich auf einmal Cems Hand in Richtung des Tablets. Er berührt den Touchscreen vorsichtig, dann nochmals gezielter. Er lacht und macht weiter. Jetzt kommt die Kollegin mit der Gitarre dazu. Sie improvisiert zu Cems Spiel. Er hält inne, schaut sie direkt an und macht mit einem hochkonzentrierten Gesichtsausdruck weiter. So jammen die beiden gemeinsam eine Weile, wobei Cem immer wieder den Blickkontakt zur Gitarrenspielerin sucht. Dabei öffnet sich Cems Hand und er spielt die Tablet-Gitarre nicht mehr mit den Fingerknöcheln, sondern mit den Fingerspitzen. Nach der kleinen Session ist Cem sehr entspannt. Auf seinem Gesicht liegt ein zufriedenes Lächeln.
Mark und Cem sind zwei sehr gegensätzliche Charaktere. Während Mark extrovertiert und aktiv ist und für ihn das Musizieren an sich wichtig ist, ist Cem introvertiert und passiv. Er scheint sehr genaue Vorstellungen davon zu haben, wie etwas klingen muss. Er interessiert sich dafür, was ich mit dem Tablet mache, aber erst als es für seine Ohren, seine Klangvorstellung richtig erscheint, wird er aktiv. Diese Stunde hat uns, die wir mit Cem den Schulalltag erleben, aufmerksamer gemacht. Verweigert er sich etwas oder jemandem, schauen wir jetzt sehr genau hin, um erkennen zu können, was seiner Vorstellungswelt nicht entsprechen könnte? Immer öfter finden wir das aktuelle Problem und ermöglichen es Cem dadurch, aktiver am Leben teilzuhaben, da er sich nicht mehr auf „Disharmonien“ konzentrieren muss.
Die digitale Welt ermöglicht es immer mehr Menschen, an der Welt der aktiven Musik teilzuhaben, Musik zu produzieren und sich dadurch selbst zu verwirklichen. Man kann jetzt diskutieren, ob Musik aus dem Computer noch echte Musik ist und ob da nicht die Qualität „guter Musik“ darunter leidet. Ich möchte behaupten, dass das nicht der Fall ist. Es wird immer die talentierten Musiker geben, die unser Leben bereichern und verschönern, indem sie mit ihrer Stimme und ihren Instrumenten Magie auslösen. Gleichzeitig wird es immer die Menschen geben, die von dieser Magie berührt werden. Aus dieser Berührung entsteht dann der Wunsch, ebenfalls ein Teil dieser wunderbaren Welt zu werden, dazuzugehören. Diesen Wunsch und die Freude darüber, plötzlich zu den „Musizierenden“ dazuzugehören, drückte ein Schüler aus, der zufällig zu einer Musikstunde mit Cem dazukam. Auch Daniel kann seine Hände kaum benutzen.

Daniel: „Was macht ihr da?“
Ich: „Wir machen Musik“
Daniel: „Ach so! Das kann ich ja eh nicht!“
Ich: „Ich glaube doch. Komm her, versuch es mal!“
Er kommt zögernd näher. Schaut sich das Tablet eine Weile an. Probiert es aus und bricht im selben Moment in einen ohrenbetäubenden Jubel aus.
Daniel: „Meine Hände können Musik machen! Das ist so ein schöner Tag!“

Der Eintritt in die musizierende Welt ist einem großen Teil der Menschen aus den verschiedensten Gründen bisher oft verschlossen geblieben, nicht nur z. B. wegen körperlicher Beeinträchtigungen, sondern auch anderen Gründen wie Geldproblemen, Zeitaufwand, Sozialisation, erlebter Frustrationen beim Erlernen von Instrumenten, aber auch fehlenden Fertigkeiten. Der Wunsch, dazuzugehören, ist aber bei vielen Menschen da. Die Sätze „Ach, hätte ich doch ein Instrument gelernt“, „Ich würde ja gerne, aber ich bin total unmusikalisch“ oder „Ich würde ja gerne Klavierspielen, aber mir fehlt die Zeit dazu“ hört man nicht selten. Ich habe das Tablet mit der Band App mehreren Kollegen und Freunden in die Hand gegeben, von denen ich genau diese Sätze gehört habe. Ausnahmslos alle von ihnen haben sich innerhalb weniger Minuten in das Musizieren verloren. Sie probierten (sich) aus, ihr Gesichtsausdruck wurde entspannter, einige lächelten selig, andere fingen an zu rocken. Eines war jedoch bei allen gleich: Ich hatte stets Mühe, mein Tablet wiederzubekommen.

Die Autorin:

Kerstin Krekeler
Kerstin Krekeler ist Sonderschullehrerin in der Geschwister-Scholl-Schule in Weingarten. In ihrer Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit komplexen Behinderungen ist Musik ein tragender Bestandteil. Im Jahre 2017 absolvierte sie die Weiterbildung zur Fachkraft für Musiktherapie am Instiut für Soziale Berufe in Ravensburg.

Literatur (Auszug):
Decker-Voigt, Hans-Helmut: Mit Musik ins Leben. München 2008.
Decker-Voigt, Hans-Helmut: „…das berührt mich tief“ – Musiktherapie und Basale Stimulation/Basale Bildung. Wiesbaden 2016.
Wieczorek, Marion: Mit jedem Schritt wächst meine Welt – Bildung und schwere Behinderung. Düsseldorf 2018.
Apple Distribution International: GarageBand für iOS, aktualisiert 2018
Beamz Interactive Inc. www.tobiidynavoxx/beamz/

Glossar
SBBZ mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (KMENT):
Seit 2015 entwickeln sich die baden-württembergischen Sonderschulen zu Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren. Mit dem Ziel Teilhabe durch schulische Bildung werden Kinder und Jugendliche mit körperlichen Einschränkungen am SBBZ KMENT unterrichtet oder durch die Einrichtung an allgemeinen Schulen betreut.
Komplexe Behinderung:
Von Komplexer Behinderung wird gesprochen, wenn neben einer körperlichen oder geistigen Behinderung weitere intensive Beeinträchtigungen vorliegen (vgl. Fornefeld 2008).

Praxisvorstellung

StimmeKlangMusik – Praxis für heilkundliche Psychotherapie/Musiktherapie, Saarbrücken

Von Christine Kukula

Mein Weg zur Musiktherapie
Mein Name ist Christine Kukula. In Baden-Württemberg geboren, lebe ich seit vielen Jahren im Saarland. Hier habe ich eine kirchenmusikalische Ausbildung (C-Prüfung) absolviert und Sozialarbeit studiert. An jeder sozialpädagogischen Arbeitsstelle floss Musik in die Arbeit ein. Als Kirchenmusikerin war mir wichtig, mit Musik die Gemeinschaft und die Freude am Singen ohne Bewertungen zu fördern.
Musik ist bis heute meine ständige Begleiterin in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Diese persönliche Erfahrung und der Wunsch, Musik im therapeutischen Sinne fundiert in meine Arbeit einfließen zu lassen, ließen mich im Alter von 40 Jahren Musiktherapie an der Fachhochschule Frankfurt studieren. Selbsterfahrung, kontemplative Zeiten, Fortbildungen im therapeutischen wie im kreativen Bereich ergänzten die im Studium erworbenen Kenntnisse und schufen so eine weitere Grundlage für die Arbeit in meiner Praxis für heilkundliche Psychotherapie und Musiktherapie in Alt-Saarbrücken.

„Soll’s das gewesen sein?“ – was vor der Eröffnung der ambulanten Praxis lag
Im Rahmen meines Musiktherapiestudiums führte ich Musiktherapie auf der Palliativstation des Krankenhauses, in dem ich als Sozialarbeiterin arbeitete, ein. Nach Beendigung des Studiums konnte ich die musiktherapeutische Arbeit auf der Palliativstation nebenberuflich gegen Honorar fortführen. Musiktherapie wurde so zum zweiten beruflichen Standbein. In meiner späteren Tätigkeit im ambulanten Hospizdienst gewann ich den Förderverein für die Finanzierung von Musiktherapie. Seitdem begleite ich regelmäßig HospizpatientInnen zu Hause. Verschiedene weitere Honorarstellen kamen hinzu. Es war im Nachklang eines Gesprächs mit einem Palliativpatienten, der über sein ungelebtes Leben sprach, das letztendlich den Impuls gab, die Anstellung als Sozialpädagogin aufzugeben und mich hauptberuflich als selbstständige Musiktherapeutin niederzulassen.

„StimmeKlangMusik“ – Rahmen und Konzeption
Die schon vorhandenen musiktherapeutischen Tätigkeiten bildeten zusammen mit dem Zuschuss für ExistenzgründerInnen eine Ausgangsbasis für die Arbeit als selbstständige Musiktherapeutin. Dazu kam das Angebot, im neu gegründeten palliativen Konsiliardienst an der Universitätsklinik Homburg als Honorarkraft mitzuarbeiten. Da ich jedoch nicht nur außer Haus tätig sein wollte, suchte ich einen Praxisraum, der sowohl für Einzel- wie auch für Gruppenarbeit geeignet war. Es sollte möglichst ein freistehender, gut erreichbarer und barrierefreier Raum sein. Ich hatte Glück und fand in Alt-Saarbrücken ein Gebäude, das diese Kriterien erfüllte.
Stimme – Klang – Musiktherapie, das waren und sind die drei Pfeiler, auf die sich meine Arbeit stützt: Die Stimme als das Instrument, das uns am nächsten ist, über das sich Stimmung ausdrückt und das Körper und Seele in sich vereint. Klang als Medium, das schon seit Urzeiten in der Menschheitsgeschichte zielgerichtet eingesetzt wird, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Musiktherapie als ganzheitliche Therapie, die über das Medium Musik den Menschen auf allen Ebenen anspricht. Meine Praxis steht für erwachsene PatientInnen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen sowie für Menschen mit Behinderungen offen. Aber auch Menschen, die sich Klarheit verschaffen möchten über ihren persönlichen oder beruflichen Weg, finden hier einen geschützten Raum. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch über gesunde Anteile verfügt und die Lösung seiner Probleme in sich trägt. In Krisenzeiten scheint die Lösung verschüttet. In Zeiten schwerer Erkrankung werden die gesunden Anteile nicht mehr wahrgenommen. Ich sehe meine Aufgabe darin, beim Entdecken der Lösung behilflich zu sein. Das Bewusstwerden der eigenen Ressourcen, Chancen und Möglichkeiten sind wichtige Bausteine auf diesem Weg. Im Rahmen der Musiktherapie gesunde Anteile bewusstwerden zu lassen und zu fördern, ist ein weiteres wichtiges Anliegen in meinem Arbeitsverständnis. Von daher bilden Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheitsförderung sowie Erwachsenenbildung, Fortbildung v. a. im Bereich Demenz, Palliativarbeit und an Schulen für Gesundheitsberufe eine bunte Palette.

Die Praxis
Licht, Helligkeit und Ruhe sollten die Praxis prägen. Die Wände sind bewusst weiß gehalten. Leere Flächen geben den KlientInnen die Möglichkeit, ohne Ablenkung durch zu viele äußere Reize eigene innere Bilder zu entwickeln. Die Instrumente stehen offen im Raum und sind oft ein erster Blickfang. Farbe kommt durch rote Stühle und bunte Sitzkissen in den Raum. Es gibt eine Sitzecke für Eingangsgespräche und die musikimaginative Arbeit. Musikalische Interventionen finden im anderen Teil des Praxisraums statt.

Was die Menschen in die Praxis führt
Über die Jahre hinweg ist der Schwerpunkt meiner Arbeit im onkologischen, palliativ-hospizlichen Bereich geblieben. Onkologische PatientInnen kommen zur Einzeltherapie in meine Praxis. In Zusammenarbeit mit der Saarländischen Krebsgesellschaft biete ich eine psychoonkologische Musik-therapiegruppe an. Inhalte der psychoonkologischen Einzel- wie auch der Gruppenarbeit sind der Umgang mit der Erkrankung, das Erkennen von alten, blockierenden Mustern, die Bewusstwerdung vorhandener Ressourcen, Versöhnung bzw. Neudefinition bei körperlicher Versehrtheit, das Erproben und Erweitern von Handlungsspielräumen und damit verbunden die Stärkung des Selbstvertrauens. PalliativpatientInnen begleite ich im Rahmen von Hausbesuchen. Auch hier geht es um die Stärkung von Ressourcen und Förderung der Lebensqualität. Daneben kommen Menschen mit Depression, psychosomatischen Beschwerden, Anpassungsstörungen, traumatischen Belastungsstörungen oder Trauer zur psychotherapeutischen Behandlung in meine Praxis. Zunehmend finden sich Menschen ein, die den Zusammenhang zwischen Stimme und Psyche erkennen, die Zugang zu ihrer Stimme finden und da­ran arbeiten möchten. Gelegenheit zum Singen in der Gemeinschaft finden Interessierte im Rahmen des „Heilsamen Singens“, einer offenen Singgruppe, sowie bei „Stimmlust – Chor für Frauen, die schon immer in einer Gemeinschaft singen wollten und sich nun trauen“. Die Themen Entspannung und Körperwahrnehmung sind ebenso Anliegen, mit denen sich Menschen an mich wenden. Hierzu biete ich Klangbehandlungen mit Klangschalen oder im Klangstuhl an.
 

„… dieses gemeinsame Erleben, das ist schon etwas ganz Kostbares …“ –
Was in der Therapie hilft
Ich verstehe meine Arbeit als Beziehungsarbeit. Es ist die Begegnung zwischen Menschen, im Rahmen einer offenen Beziehung, in der sich Selbsterkenntnis und Veränderung entwickeln können. Mir ist es wichtig, dem Gegenüber unvoreingenommen und wertschätzend zu begegnen. Die Arbeit mit Menschen in der letzten Lebensphase lehrt mich immer wieder, dass die Kategorien „gesund“ und „krank“ nicht ausschlaggebend sind. Entscheidend scheint letztendlich, ob wir mit uns und dem Leben in Einklang sind, ob wir uns selbst erkennen und in der Welt verwirklichen können. Mein methodischer Ansatz ist tiefenpsychologisch orientiert. Ressourcenorientierung, Elemente aus der Gestalttherapie, der Traumatherapie und dem systemischen Arbeiten kommen hinzu. Immer wieder melden KlientInnen und PatientInnen zurück, wie vielfältig sie Musiktherapie erleben. In der Gruppentherapie sind es u. a. die Aspekte des gemeinsamen Erlebens und des Experimentierens im geschützten Rahmen, die nachhaltig wirken. Ein Patient erinnert sich: „… wir hatten ja innerhalb der Gruppe ganz unterschiedliche Themen. Und es ist phänomenal, dass wir diese über die Musik ausgedrückt haben… Das hätten wir vielleicht sprachlich nicht so hingekriegt.“ Eine Patientin äußert im Abschlussgespräch: „Wir haben so vielseitige Sachen gemacht: Improvisation oder auch Musik­reisen, wo man sich in seiner Fantasie irgendwohin bewegt. Es war überhaupt gar kein Problem, da mitzumachen. Vor allem aber, weil man wusste: Keiner hat Erfahrung, keiner ist da irgendwie besser oder schlechter. Wir sind irgendwie alle gleich, in einem geschützten Rahmen…“ Auf die Frage, ob es und was Überwindung gekostet habe, schildert ein weiteres Gruppenmitglied: „Ich hab mir auch mal das Cello geschnappt, in der Annahme: ach, das sieht so leicht aus. Da hab ich mit dem Bogen drauf gespielt. Das war ’ne große Überwindung. Was zu produzieren, was in meinen Ohren nicht schön oder auch in anderen Ohren vielleicht nicht schön ist. Einfach auf einer Saite rumzustreichen, zu denken: oje, oje, wie hört sich das an, und trotzdem mich damit zu beschäftigen und am Schluss mich richtig zu versöhnen mit dem Instrument. Es war richtig schön, auch mal was zu tun, was man nicht vorahnen kann oder wo man nicht direkt perfekt sein muss… “
Musik ist für mich ein wunderbares Hilfsmittel, ähnlich einer Co-Therapeutin, die Impulse gibt, die hilft, zu halten und aufzufangen. Dies zeigt sich nicht nur in der aktiven Improvisation, sondern auch immer wieder auf beeindruckende Weise im Rahmen der musikimaginativen Arbeit von Guided Imagery and Music.

Musik, die erklingt
Die Musik ist so unterschiedlich, wie die Menschen, die sie spielen und hören. Im palliativen und hospizlichen Setting überwiegen zur Entspannung führende Klänge von Oceandrum, Klangschale, Sansula. Aber es kommen auch percussive Instrumente zum Einsatz und dementsprechend aktive und lebendige Klänge und Rhythmen. So drückte eine Patientin einmal ihre Trauer und Enttäuschung über das Fortschreiten der Erkrankung in einem 40-minütigen Spiel auf der Rahmentrommel mit anfangs kräftigen, schnell pulsierenden Schlägen aus, die sich am Ende in einem fade out verloren. Ein anderes Mal dichtete und sang sie zu ihrem Spiel auf dem Xylophon im Dreivierteltakt: „Die Sonne scheint, es geht mir gut. Wir machen Musik, das macht mir Mut“. Menschen am Ende ihres Lebens schauen oft zurück und ziehen Bilanz. Hier unterstütze ich mit Liedern – häufig vom Akkordeon begleitet – und Musikstücken vom Tonträger, die im Leben der Patientin eine Rolle spielten, wie z. B. die Musik, bei der sich ein Paar gefunden hat oder Musik, mit der Lebensfreude und schöne Erinnerungen verknüpft werden. Die Bandbreite reicht vom alten Volkslied oder Schlager über Rock, Pop und synthetischer Musik bis zu klassischer Musik. In der musiktherapeutischen Selbsterfahrungsgruppe klingt die Musik von chaotisch bis klar strukturiert, laut und leise, bruchstückhaft, schräg, harmonisch, je nach Zusammensetzung der Gruppe und Stimmung der Gruppenmitglieder.

„Ich bin nicht musikalisch…“ – Typisches aus dem Berufsalltag
Das Angebot der Musiktherapie ist nicht selbsterklärend. Viele Menschen haben von Musiktherapie noch nichts gehört. Vor allem in der klinischen Arbeit mit PalliativpatientInnen besteht immer wieder Erklärungsbedarf. Denn hier ist es die Therapeutin, die auf PatientInnen zugeht, im Gegensatz zum klassischen psychotherapeutischen Setting, in dem PatientInnen von sich aus die Therapie aufsuchen. Häufig begegnet mir im Erstkontakt die Aussage: „Ich bin nicht musikalisch. Ich kann kein Instrument spielen.“ Ich versuche dann zunächst, eine Beziehung bzw. Vertrauen aufzubauen. Ist „das Eis“ erst einmal gebrochen, lassen sich die PatientInnen in der Regel auf Musiktherapie ein und stellen fest, dass sie davon profitieren.
Es gibt viele berührende Momente in meiner Arbeit. Im Hospiz z. B., wenn Angehörige mit einem Hospizgast gemeinsam musizieren und es dabei lustig und freudvoll zugeht – wenn also eine Situation entsteht, die niemand an diesem Ort erwartet hätte. Oder wenn im gemeinsamen Spiel von Musiktherapeutin und Angehörigen für die Patientin eine Nähe entsteht, die in den oft durch Unsicherheit und Trauer geprägten Gesprächen nicht zustande kommt. Aber auch in der Einzel- oder Gruppentherapie in der Praxis, wenn spürbar wird, dass etwas Festgefahrenes sich löst und Bewegung wieder möglich wird.

Was ich mir für die Musiktherapie wünsche
Im Laufe meiner selbstständigen Tätigkeit konnte ich meine musiktherapeutische Identität festigen. Ein gutes Netzwerk ist entstanden, die Praxis mit ihren Möglichkeiten ist mittlerweile bekannt. Die bunte Palette an Betätigungsfeldern bereichert mein berufliches Leben. Musiktherapie in der psychoonkologischen Arbeit im Rahmen einer Beratungsstelle zu verankern, ist dabei ein neues Projekt.
Für die Musiktherapie wünsche ich mir, dass sie in unserem Gesundheitssystem als wirkungsvolle Behandlungsform anerkannt und finanziert wird.

Die Autorin

Christine Kukula
Musiktherapeutin DMtG, seit 2011 in eigener Praxis tätig, Diplom Sozialpädagogin, Heilpraktikerin auf dem Gebiet der Psychotherapie, Therapeutin für Guided Imagery and Music, Psychoonkologin DKG, Entspannungstrainerin, Mitglied im Bundesarbeitskreis Musiktherapie in der Onkologie/Hämatologie, Palliative Care und Hospizarbeit.

StimmeKlangMusik – Praxis für heilkundliche Psychotherapie/Musiktherapie
Hohenzollernstr. 84a
66117 Saarbrücken
0681 5848561
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www.stimme-klang-musik.de

Glossar
Palliativer Konsiliardienst:
Ein Team bestehend aus PalliativmedizinerInnen, Palliative-Care-Fachkrankenschwestern und -pflegern, einer Psychoonkologin und Vertreterinnen supportiver Therapien (musik-, kunst-, tiergestützte Therapie), das von allen Kliniken des Universitätsklinikums angefordert werden kann, um PalliativpatientInnen zu beraten und zu begleiten.
Guided Imagery and Music:
Eine Form der Psychotherapie bzw. Musiktherapie, die klassische Musik gezielt einsetzt, um psychische Blockaden zu lösen sowie die seelische und persönliche Entwicklung zu fördern.