Editorial

Das Tablet zieht ins Altersheim

Erinnern wir uns, besonders ich mich: Gegenüber dem Einzug erster elektronischer Musikinstrumente in die Therapie Ende der 70er Jahre waren wir, war nicht nur ich, skeptisch, sondern dagegen. Mit wenigen Ausnahmen:
Wie in der Heilpädagogik, in der z. B. ein Hans Henning Haacke seine Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen an die frühen Keyboards heranführte, durch die sie Musik als Verstehens- und kreatives Gestaltungsmittel entdeckten. Überrascht, dass sie mit dem Input eines Ein- oder Zwei-Finger-Spiels ein orchestrales Output erlebten. Die mögliche Steigerung der Ich-Stärke, Wiederentdeckung von Urheberschaft und Selbstwirksamkeit waren die therapeutischen Richtungsziele.
Oder wie in der Jugendpsychia­trie, in der MusiktherapeutInnen auch zwischen Skepsis und Begeisterung schwankend Keyboards und elektronische Drumsets besorgten und sie dann einbezogen.
Es gab auf dem Musiktherapie-Lesemarkt gleich mehrere öffentliche Warnungen vor der Welt der künstlichen Schwingungen im Musikerleben in der Therapie statt der natürlichen Ausschwingvorgänge. Auch von mir.
Diese Warnung und meine Skepsis setzten sich fort mit der Digitalisierung, deren unbegrenzte Möglichkeiten eher Patienten schuf als ihnen half.
Heute bin ich dank „Markus“ nicht „bekehrt“ (ich präferiere nach wie vor natürliche Ausschwingvorgänge), aber überzeugt von der Möglichkeit, Menschen durch digitale Musikinstrumente und Musikgestaltung am Computer eine Sinngebung ihres Lebens zu ermöglichen, die ohne den Einzug digitaler Instrumente in therapeutischen Begleitungen sehr viel mühsamer wäre.
Die Arbeit der Therapeutin Kerstin Krekeler mit Markus, einem schwerstmehrfachbehinderten jungen Mann, lernen wir im Schwerpunktthema mehr kennen: Mit seinen Augenbewegungen steuert er auf dem Touchscreen eines speziellen Tablets seine Mitgestaltung in musikalischer Improvisation und erlebt dadurch überraschende, gelingende Affektabstimmung und interaktive Momente.

Im Kreis von therapeutischen Begleitungen meist aus dem Bereich Altenheim/Geriatrie am Ravensburger Institut für Soziale Berufe lernte ich, wie selbstverständlich demnächst der Einzug des Tablets in das Altenheim wird, nicht als konsumtreibender Isolationsverstärker, sondern ebenfalls als interaktives Spielmittel. Und Interaktion ist die Voraussetzung für jede Kommunikation und deren Erhaltung, Förderung, Erweiterung dort, wo eigentlich Rückgang, Reduzierung, Bescheidung erwartet würde.
Der Schwerpunktbeitrag von Eva Merckling-Mihok führt ein in die „Love Bytes“, Computermusik in der Musiktherapie, und ihre Kopplung mit Instrumenten natürlicher Ausschwingung, wie wir sie sonst kennen.
Einen dritten Beitrag steuere ich als Vorabdruck aus einem Buch bei – quasi als Zeichen meiner positiven Überraschtheit gemischt mit Reue, dass ich solange „dagegen“ war.

Alle weiteren Beiträge warten auf Sie in den vertrauten Rubriken der ständigen Mitarbeiter der MuG, mit immer neuen AutorInnen und Perspektiven: Im Klinikspaziergang führt uns Michael Metzger in das kbo-Heckscher-Klinikum München. Christine Kukula zeigt uns in der Praxisvorstellung ihre Praxis für heilkundliche Psychotherapie/Musiktherapie in Saarbrücken und Alexandra Takats beschreibt ein innovatives 3D-Audioprojekt in einer NeuroReha – nahe dem Schwerpunktthema, das sich neuen Medien widmet.
Rahel Jansen stellt in der Rubrik Ausbildung das Institut für Musik, Imagination und Therapie (IMIT) vor und Viggo Krüger gibt uns einen Einblick in die Musiktherapie in Norwegen.
In seiner Stammkolumne Capriccio cerebrale geht es Thomas Stegemann diesmal um den wie immer weit gespannten Bogen zwischen Mozarts Geistesblitzen über Brain-Computer-Interfaces zum Encephalophone – und in meiner Kolumne um das Thema Lachen bzw. um die Frage: „Lachen wir in der Wissenschaft von der Musiktherapie zu wenig?“
Der Gratulation an unseren Mitherausgeber Hans Ulrich Schmidt zum 60. Geburtstag durch Tonius Timmermann schließt sich die MuG nicht nur einfach an, sondern freut sich mit über das hoch gelungene geburtstagsanlässliche Symposion.
Lucia Kessler-Kakoulidis stellt in ihrer Rezension das lange vergriffene und nun neu aufgelegte Standardwerk zur Musiktherapie bei Kindern mit Autismus von Karin Schumacher vor.
Die MuG will als Mitteilungsorgan des Verbandes Singende Krankenhäuser e. V. diese inzwischen internationale Community fleißig bei der Verbreitung unterstützen (s. Berichte, Eindrücke, Planungen ab S. 35).
Wie immer wird der gute Schluss gemacht mit:
Fach- und andere Leute regt Sabine Rittner wie immer zum Mitmachen an, diesmal von der „Wirbelsäule als tönendem Organ der Würde“ ausgehend.
Und für sich und die eigene Praxis sind die Handlungsmodelle „Fühl’ mal“ von Constanze Rüdenauer Speck.

Hans-Helmut Decker-Voigt